Coronapandemie

Die Macht der Mutanten

08:20 Minuten
Illustration einer Weltkugel, die übersät ist mir Coronaviren und von einer Hand mit Spritze geimpft wird.
Der Pharmazeut Thorsten Lehr befürchtet, dass sich Mutanten entwickeln, die "sich aus dem Druck des Impfstoffes herauswinden". © IMAGO / fStop Images / Malte Müller
Thorsten Lehr im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
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Was wir gegen Corona tun, reiche eigentlich nicht, meint Thorsten Lehr. Der Pharmazeut hält einen Inzidenzwert von unter 20 für sinnvoll, warnt vor den Virus-Mutanten und sagt: Vielleicht werden wir Covid-19 nie wieder los.
Liane von Billerbeck: Erst war es einfach ein Virus, aber es hielt sich, wie das bei Viren eben so ist, nicht daran, so zu bleiben, wie es ist. Es veränderte sich, mutierte, es tauchte eine Variante aus Brasilien auf, eine aus Großbritannien, aus Südafrika. Die Mutanten bekamen Buchstaben, Zahlenkombinationen, die man sich kaum noch merken kann. Und nun hat man im Amazonas eine weitere Variante entdeckt – und die ist gefährlicher, als die meisten Menschen vermutlich ahnen.
Thorsten Lehr ist klinischer Pharmazeut an der Universität des Saarlandes. Erst war es immer die Inzidenzzahl von 50, an der sich alles entscheiden sollte, jetzt geht es um die 35. Und auch diese neue Inzidenzschallmauer wird uns nicht ausreichend schützen, sagen Virologen. Warum nicht?
Lehr: Zunächst muss man festhalten, dass die Inzidenz von 50 von der Politik festgelegt war. Die war relativ hoch in vielerlei Augen, auch aus meiner Sicht war sie zu hoch, weil sie höher war als der Wert, den wir während der ersten Welle erreicht haben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass bei einer Inzidenz von 50 immer noch sehr viele Infektionen stattfinden und die Kontrolle durch die Gesundheitsämter noch nicht gegeben ist. Von daher ist es auch meine Ansicht, dass wir die Inzidenz noch weiter senken müssen. 50 ist schon mal ein richtiger Schritt, aber eigentlich wäre eine niedrigere Inzidenz noch besser.
Billerbeck: Also noch weniger als 35?

Inzidenzwert von 10 bis 20 wäre sinnvoll

Lehr: Ja, unsere Berechnungen zeigen, dass wir eigentlich unter 20 kommen müssten, damit wir die Kontrolle wiederbekommen, andere Leute gehen auch von unter 10 aus. Ich denke, wir müssen uns auf jeden Fall damit abfinden, dass diese Werte möglicherweise noch nicht ausreichen, damit von den Gesundheitsämtern wirklich die Nachverfolgung wieder ausreichend stattfinden kann.
Billerbeck: Aber das heißt doch, man dürfte jetzt eigentlich nicht über Lockerungen sprechen, sondern müsste über Verschärfungen oder zumindest andere Beschränkungen reden, oder?
Lehr: Ja, richtig. Das ist ja auch, was einige andere Wissenschaftler und Politiker wie Herr Lauterbach wollen. Es ist aber politisch nicht mehr so einfach durchsetzbar, weil die Gesellschaft das nicht mehr toleriert. Das ist auch sehr verständlich, aber Sie haben ja schon angedeutet: Die Mutanten stehen vor der Tür, manche sind auch schon in Deutschland angekommen und verbreiten sich hier, sodass wir diese wahrscheinlich in ein paar Wochen dann auch zu spüren bekommen.
Billerbeck: Aber ist es dann zu vertreten, die Schulen und die Kitas wieder zu öffnen?

Öffnung der Schulen mit viel Bedacht

Lehr: Da gibt es zwei verschiedene Aspekte. Das eine ist, was infektiologisch am sinnvollsten wäre. Da wäre natürlich eine weitere Verschärfung auf jeden Fall gut und richtig. Das andere ist, was bildungspolitisch und gesellschaftlich momentan auch wichtig ist: Das ist natürlich die Bildung und dass in den Schulen wieder Normalität einkehrt.
Wir müssen aber schauen, dass wir die Wiedereröffnung mit sehr viel Bedacht machen und uns wirklich an die Leitlinien halten, die kürzlich erschienen sind, um dort das Infektionsrisiko so niedrig wie möglich zu halten. Es sind Szenarien, die ich auch nicht unbedingt begrüße, aber wir müssen einfach schauen, dass wir damit leben und uns jetzt auch weiterbewegen.
Billerbeck: Wir werden also auf absehbare Zeit nicht mehr den Normalzustand wie vor Corona erreichen. Worauf müssen wir uns denn Ihrer Ansicht nach einstellen?
Lehr: Zumindest was die Mutanten angeht, ist sicherlich zu erwarten, dass die Maßnahmen, wie wir sie jetzt ergreifen, irgendwann nicht mehr wirken werden. Das heißt, wenn wir so weiter machen würden wie jetzt mit den gleichen Maßnahmen, würden wir nach unserer Berechnung ab Mitte, Ende März wieder ein Stagnieren des Abfallens der Zahlen sehen und teilweise auch wieder ein Ansteigen.
Wir wissen bei den Mutanten teilweise noch gar nicht so genau, was sich hundertprozentig dahinter verbirgt. Wir wissen, sie haben eine höhere Infektiosität, das heißt, sie können mehr Leute anstecken. Und da geht die Wissenschaft momentan von einem Wert zwischen 30 und 70 Prozent erhöhter Infektiosität aus. Aber selbst in dem Szenario mit 30 Prozent ist das Bild, was sich dann abzeichnet, nicht sehr positiv.
Billerbeck: Man hat den Eindruck, dass die Konzepte, die den Bürgerinnen momentan vermittelt werden, nur bis zum Ende des aktuellen Lockdowns gedacht sind. Was kommt danach?

Langfristige Konzepte sind schwierig

Lehr: Im Moment wird immer auf Sicht gefahren, wie es so schön heißt. Da wird die Bevölkerung auch in meinen Augen ein bisschen hingehalten. Langfristige Konzepte sind natürlich schwierig. Die Impfung ist ein langfristiges Konzept, aber auch hier sehen wir bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit, dass, wenn es so weitergeht, wir vor dem Sommer keinen Einfluss auf das Infektionsgeschehen sehen.
Dafür ist die Impfgeschwindigkeit viel zu langsam, die wir gerade in Deutschland erleben. Aber es fehlt eben auch wirklich an Wiedereröffnungskonzepten. Es gibt jetzt verschiedene Pläne, die sich mit Ampeln und mit Inzidenzgrenzen beschäftigen, es gibt auch eine Initiative, die nennt sich "No Covid", wo es darum geht, dass man versucht, alle Fälle nachzuverfolgen und keine nicht nachverfolgbaren Fälle mehr zu haben. Das ist eigentlich ein interessantes Konzept, das halte ich für einen guten Ansatz, weil Sie dann nämlich einen ungeregelten Ausbruch besser verhindern können.
Billerbeck: Kriegen wir Corona überhaupt wieder aus der Welt? Gibt es dafür eine Chance angesichts der weltweiten Verbreitung?
Lehr: Das ist sicherlich eine Frage, die wir noch nicht beantworten können. Die Mutationen, die sich jetzt ergeben haben, sind welche, die eine erhöhte Infektiosität haben. Es könnte auch welche geben mit geringerer Infektiosität. Ich persönlich glaube, dass wir noch sehr lange mit dem Coronavirus auskommen müssen.
Ich glaube auch, dass wir noch andere Mutanten erleben werden, die möglicherweise noch andere Eigenschaften haben. Es gibt Diskussionen darüber, ob der AstraZeneca-Impfstoff auch gegen die südafrikanische Variante wirklich wirkt. Das wissen wir noch nicht genau, aber es könnten neue Mutanten entstehen, die dann auch Escape-Mechanismen finden, das heißt, dass sie sich aus diesem Druck des Impfstoffes herauswinden. Da könnte uns das eine oder andere noch blühen.
Billerbeck: Lange damit leben – was heißt das? Monate, Jahre, Jahrzehnte?

Es kann sein, dass sich Corona etabliert

Lehr: Mit der Influenza leben wir jetzt auch schon eine ganze Zeit, auch mit Masern. Es kann sein, dass sich das letztendlich etabliert. Es gibt auch Berechnungen, die sagen, dass es von dieser pandemischen Form wieder in eine endemische Form, also in eine regional leichter begrenzende Form, übergeht – ähnlich wie die Influenza oder auch der Schnupfen. Das müssen wir letztendlich sehen, was die Zeit uns bringt.
Das Gute ist auf jeden Fall: Wir haben Impfstoffe und wir haben auch Impfstoffe, die wir relativ schnell modifizieren und auf den Markt bringen können. Auch wenn jeder jetzt schimpft über die Impfstoffbeschaffung, muss man doch festhalten, dass es wirklich ein Meilenstein ist, wie schnell diese Impfstoffe gefertigt wurden, wie gut sie funktionieren – und auch wie schnell sie modifiziert werden können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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