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Die Hölle von Delhi
22:47 Minuten
Mehr als 400.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus an einem Tag - das ist die aktuelle Lage in Indien. Das Gesundheitssystem kollabiert: Es fehlt an Sauerstoff, Medikamenten und Impfstoff. Die höchsten Ansteckungsquoten im Land gibt es in Delhi.
Es ist eine Szene, die surreal wirkt. Ein Priester im weißen Schutzanzug steht auf einem Friedhof, hinter ihm eine mannsgroße Jesusfigur mit ausgestreckten Armen, vor ihm ein brauner Holzsarg.
Eine Beerdigung unter Corona-Bedingungen
Es ist die Beerdigung von Daisy Dass, die am 1. Mai gestorben ist – an Corona. Nur ihre 11-jährige Adoptivtochter ist da und eine Handvoll ihrer Lieben. Ihr Cousin Anthony, Mitarbeiter des ARD-Studios in Neu-Delhi, kann nur am Bildschirm mitverfolgen, wie Daisy zu Grabe getragen wird.
Die 51-Jährige gehörte zur katholischen Minderheit in Indien, deshalb wird sie nicht eingeäschert, wie die Hindus, sondern beerdigt – auf einem katholischen Friedhof der indischen Hauptstadt. Eine Beerdigung unter Corona-Bedingungen, deshalb sieht Anthony sie nur als Live-Video auf Youtube. Drei Männer singen, während noch hastig die Nägel in den Sarg geschlagen werden.
"Für mich ist das ein ganz schlechtes Gefühl. Ich konnte da nicht hin. Ich konnte sie nicht ein letztes Mal anschauen. Auch meine Familie konnte nicht kommen."
Weit über 3000 Corona-Tote am Tag
Eine kurze Zeremonie, denn die nächsten warteten schon.
"Fünf weitere Menschen sollten beerdigt werden. Deshalb mussten sie sich sehr beeilen. Ein schnelles Gebet. Der Pastor kam und hat sich sehr beeilt. Und dann wurde sie schnell beerdigt."
So ist es dieser Tage in Delhi – und in zahllosen anderen Städten in Indien. Weit über 3000 Corona-Tote jeden Tag, so die offizielle Statistik. Wo Menschen ihre letzte Ruhe finden, da herrscht, ja, Hochbetrieb.
Die meisten Toten werden nicht bestattet wie Daisy, sondern nach hinduistischem Ritus eingeäschert. Wie hier am Dayanand Muktidham Krematorium. Jede Feuerstelle brennt, manche wurden gerade erst angezündet, andere brennen schon seit Stunden vor sich hin.
Über 40 Grad im Schatten
Die Hitze ist höllisch, Mitte vergangener Woche, an einem Tag, an dem es ohnehin schon 41 Grad im Schatten hat. Es muss alles schnell gehen, in der Zufahrt stehen Krankenwagen, die warten. Darin liegen in Tücher eingewickelte Leichen. Vor den Feuern stehen Angehörige, sie weinen.
RamKaran Mishra ist hinduistischer Priester im Ghazipur-Krematorium. Er führt die letzten Riten aus, mit denen man Verstorbene im Hinduismus verabschiedet. Seine Arbeit habe sich verzehnfacht, sagt er im Interview mit der britischen Tageszeitung "The Guardian".
"Die Leute sind verärgert, wenn sie das hier sehen. Alleine heute habe ich 70, 80 Leichen verbrannt. Bis heute Abend sollen es 150 sein. Wenn Leichen übrigbleiben, müssen sie wieder abgeholt werden. Die Leute vom Krankenhaus schicken sie am Morgen und wir können das hier gar nicht mehr in Ordnung halten. Es geht schon seit zehn Tagen so. Wir sind ständig wach."
"Verbrennt die hier. Wo seid ihr? Jetzt kommen die vorne. Bruder!"
Massenabfertigung für Delhis Corona-Tote
Es ist kaum Zeit für das Ritual. Es ist eine Massenabfertigung, hier an der Endstation von Delhis Corona-Toten.
"Ich habe für 900 Tote die letzten Riten ausgeübt. Kommt hier rüber! Der Körper wird auf Holzstämme gelegt für die letzten Riten. Am nächsten Tag wird die Asche eingesammelt. Dann wird die Asche am Ganges ausgeschüttet."
Angehörige vor den Krankenhäusern in Neu-Delhi sind verzweifelt: es gibt keine Betten mehr, sie wissen nicht, wo und wie sie Hilfe für ihre Lieben finden können. Drinnen teilen sich Patienten schon ein Bett, einige liegen sogar draußen im Hof auf Pritschen. Wenn sie Glück haben, erhalten sie Sauerstoff. Denn der ist weiterhin Mangelware an vielen Orten im Land.
"Wie stehe ich vor Gott da, wenn meine Patienten sterben", sagt ein Klinikleiter aus Neu-Delhi verzweifelt im indischen Fernsehen. "Ich selber kann doch keinen Sauerstoff herstellen. Die Leute leiden, wir brauchen Sauerstoff. Wir brauchen Hilfe!"
Es fehlt an Sauerstoff
Vor den Kliniken in der Hauptstadt spielen sich traurige Szenen ab. Menschen stehen vor dem verschlossenen Tor eines Stadions, das eigentlich gerade in eine Corona-Station umfunktioniert wurde. Aber Dr. Ravikat Singh muss die Menschen abweisen.
"Ich kann niemanden aufnehmen. Gestern sind zwei Leute hier drinnen gestorben. Verstehen Sie? Auch im Taxi und im Krankenwagen vor unserer Klinik. Gehen Sie schnell. Ich will nicht, dass das auch ihren Angehörigen passiert. Wenn ich genügend Sauerstoff hätte, würde ich Sie aufnehmen, aber das habe ich nicht."
Viele seiner Betten stehen leer, aber es fehlt ihm einfach an Behandlungsmöglichkeiten. In anderen Krankenhäusern in der Hauptstadt gibt es aber tatsächlich keine Betten mehr, oder das Personal fällt aus, weil es selbst mit Corona infiziert ist. Das Hohe Gericht in Neu-Delhi spricht von einem "Infektions-Tsunami". Viele Inderinnen und Inder fühlen sich dem völlig hilflos ausgesetzt.
"Versagen der Justiz, der Behörden und der Nation"
"Es ist ein komplettes Versagen der Justiz, der Behörden und der Nation!", sagt Simran Kaur. Sie hat gerade ihren Vater verloren, der an den Folgen von Corona gestorben ist. Sie kann ihre Tränen nicht zurückhalten.
"Alles war zu spät. Die Untersuchungsergebnisse, die Medikamente und am Ende noch die Sauerstoffflasche. Nichts kam zu rechten Zeit."
In den letzten Wochen haben sich in Indien Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert, die Zahlen sind exponentiell nach oben geschnellt. Dabei hatten so viele Inderinnen und Inder gehofft und geglaubt, Corona gehöre der Vergangenheit an. Auch die indische Regierung: Im Dezember hatte sie verkündet, sie habe die Pandemie eingedämmt.
Pandemie vorbei, Hochzeiten und Feste erlaubt
Tatsächlich haben sich im Winter, laut offiziellen Zahlen, kaum mehr als 10.000 Menschen am Tag angesteckt. Also wurde fast alles wieder geöffnet im Land: Kinos und Märkte, Malls und Fitnesscenter. Hochzeiten wurden wieder erlaubt. Und die Politiker ließen zahlreiche Massenveranstaltungen zu. Darunter vor allem Wahlkampf-Rallies, in fünf Bundesstaaten in Indien fanden Wahlen statt.
Mitte April in Westbengalen: Die Menschen stehen so dicht auf der Straße, dass sie von rechts nach links wiegen, ohne dass auch nur eine Person hinfallen könnte. Sie bejubeln Politiker der Regierungspartei, die auf einem doppelstöckigen LKW langsam durch die Menge fahren.
Ganz vorne auf der Empore steht der indische Innenminister, mit breitem Grinsen auf dem Gesicht. Das sieht man ziemlich gut auf den Fernsehbildern, er trägt, genau wie seine Parteimitglieder um ihn herum, keine Maske.
Das sogenannte "Social Distancing" einzuhalten, das ist an vielen Orten in Indien ohnehin ein Problem. In den riesigen Städten leben gerade die armen Menschen dicht an dicht, teilen sich zu hunderten ein öffentliches Klo, weil zu Hause kein Platz dafür ist. Noch enger aber geht es dann auch auf religiösen Festen zu. Im April fand eines der wichtigsten Feste für Hindus in Indien statt, die Kumbh Mela.
Millionen Menschen pilgerten dorthin. Und an einem sehr heiligen Tag, waren rund 3,5 Millionen Menschen am Ufer des Ganges, um dort ein Bad zu nehmen.
"Es ist Pflicht, hier eine Maske zu tragen", sagt Polizeichef Gunjyal. "Aber wir können die Leute hier kaum bändigen. Es sind so viele, wir können hier keine Strafen kassieren. Wenn wir das versuchen und auch, die Leute auseinander zu halten, könnte es zu einer Massenpanik kommen. Das müssen wir vermeiden."
Der Glaube an das reinigende Bad war größer als die Angst vor Corona.
Impftermin per App
"Thirty-six, thirty-seven, thirty eight."
Das Max-Hospital im Süden der indischen Hauptstadt, ein großes privates Krankenhaus. In einem Zelt vor dem Gebäude sitzen auf Stühlen etwa 30 oder 40 Männer und Frauen, viele kaum älter als 50, manche jünger.
Sie warten darauf, geimpft zu werden. Ein Wachmann ruft Wartenummern auf – erst auf Englisch, dann auf Hindi.
Es ist der 1. April, der Tag, an dem Indien seine Impfkampagne deutlich erweitert hat. Alle ab 45 können nun eine Impfung bekommen. 300 Millionen Menschen sind das in Indien.
Kampagne hat im Januar begonnen
Die Erzieherin Sumitra Mallick, 48, hat den Termin in der indischen Corona-App gebucht, alles sei ganz leicht gewesen.
"Es ist sehr wichtig, weil es nötig ist, die Infektionskette zu durchbrechen. Und wenn es hilft, dass wir uns impfen lassen, damit weniger Menschen infiziert werden – warum nicht."
Begonnen hatte Indiens Impfkampagne im Januar. Zunächst wurden medizinisches Personal, Polizisten und Feuerwehrleute geimpft. Dann die über 60-Jährigen. Für die Impfungen stehen derzeit zwei Impfstoffe zur Verfügung: die indische Eigenentwicklung Covaxin und der Astrazeneca-Impfstoff, der im Land unter dem Namen Covishield in Lizenz hergestellt wird.
Im April läuft die Kampagne noch gut, zwei bis drei Millionen Menschen am Tag werden indienweit geimpft. Am 1. Mai steht dann die nächste Öffnung dieser "größten Impfkampagne der Welt" an, wie sie Indien gerne bezeichnet. Nun haben alle über 18 Anspruch auf den Stich – 900 Millionen Menschen.
Es fehlt an Impfstoff
Doch zumindest zu Beginn der neuen Phase ist das vielerorts nur ein theoretischer Anspruch. Es gebe nicht genug Impfstoff, klagen mehrere indische Bundesstaaten.
"Wir haben uns auf die Impfkampagne vorbereitet und auch Mega-Kampagnen gestartet. Wir haben Tausende unserer Mitarbeiter im Gesundheitswesen sowie Ärzte geschult, um diese Mega-Impfkampagne zu starten, aber es gibt keinen Impfstoff bei uns."
Tatsächlich gibt es wohl mehrere Gründe, warum Indiens Impfkampagne ins Stocken geraten ist. Vor allem dem größten Hersteller, dem Serum Institute of India, mangelt es an Rohmaterial. Die USA hatten einen Exportstopp verhängt, der erst in der letzten April-Woche aufgehoben wurde.
Indien war im Rahmen von Covax zu großzügig
Außerdem hat sich Indien womöglich lange Zeit zu großzügig gezeigt. Bis Ende März lieferte es große Mengen an Impfstoffen im Rahmen der UNO-Initiative Covax an ärmere Staaten – bis eben die Infektionszahlen im eigenen Land explodierten. Der frühere Spitzendiplomat Pavan Verman sieht das sehr kritisch.
"Ich glaube, dass man bei der Entscheidung zum Export von Millionen Impfstoffdosen nicht ausreichend vorweggenommen hat, welchen Bedarf es hier in Indien geben wird. Das hat zu der augenblicklichen Mangelsituation geführt."
40 Staaten wollen helfen
Indiens Außenminister Jaishankar sieht das anders.
"Es ist ja nicht so, dass wir unser Volk nicht vorziehen würden. Als sich die Lage hier verschlechterte, haben wir ehrlich mit der Welt gesprochen und gesagt: 'Schaut, wir haben uns wirklich bemüht, unsere vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, unsere Verpflichtungen für Covax. Aber jetzt haben wir eben diese sehr kritische Situation hier bei uns' - und ich glaube, die meisten verstehen das."
Eine sehr kritische Situation, die auch die internationale Gemeinschaft auf den Plan ruft. Explodierende Fallzahlen, überforderte Krankenhäuser, fehlende Intensivbetten – und vor allem der Mangel an medizinischem Sauerstoff, der sich in Bildern ausdrückt: Menschen, die ersticken – in Krankenhausambulanzen oder vor den Toren der Hospitäler, in Motorrikschas oder Autos. Diese Bilder haben eine große Hilfswelle ausgelöst. 40 Staaten schicken Material nach Indien, auch Deutschland.