Jagoda Marinić studierte Germanistik, Politische Wissenschaft und Anglistik in Heidelberg und arbeitet heute als Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Kolumnistin Heidelberg. Ihre Kolumnen erscheinen in der Süddeutschen Zeitung, taz und in der Internationalen New York Times. Auf ihr preisgekröntes Debüt "Eigentlich ein Heiratsantrag" folgte 2005 der Erzählband "Russische Bücher", ausgezeichnet mit dem Grimmelshausen-Förderpreis. Es folgten u.a. "Restaurant Dalmatia" (HoCa), "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?" (HoCa) und zuletzt "Sheroes – neue Heldinnen braucht das Land" (S. Fischer)
Raus aus dem Panikmodus!
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Ständig die neuesten Infiziertenzahlen auf dem Smartphone checken. Keine Sondersendung zu Corona versäumen. So kommen wir nicht durch die Krise, sagt Jagoda Marinić. Wir sollten besser akzeptieren, dass die Katastrophe für eine Weile Normalität sein wird.
Das Schicksal der Anderen betrifft uns, nicht nur aus Empathie, sondern weil es uns auch treffen könnte. Wenn wir ehrlich sind, ist die fehlende Empathie für globale Ereignisse ein Grund dafür, wie sich dieses Virus ausbreiten konnte.
Obwohl wir zahlreiche Geschäftsbeziehungen zu China pflegen, geradezu abhängig sind, wie man derzeit an vielen Versorgungslücken sieht: Wir haben uns alle benommen, als ginge uns Wuhan und das Coronavirus nichts an. Als ginge uns die Quarantäne von 11 Millionen Menschen nichts an. Selbst Italien war uns nicht nah genug. Wenn wir eines aus dieser Krise lernen müssen: Wir sind nicht nur Individuen und Weltregionen im Dauerwettbewerb gegeneinander. Nein, die Menschheit gibt es noch - und sie ist durchaus noch dazu verdammt, gemeinsame existenzielle Erfahrungen zu machen. Die meisten dachten, das kommt erst mit der Klimakrise, doch es kam schon jetzt.
Ein Alarm jagt den nächsten
Nach der ersten Alarmwelle, die uns allen Quarantäne verordnete, rollt nun die nächste Alarmwelle an: Was machen wir mit den Kollateralschäden der Quarantäne? Im selben Panikmodus, wie wir in die Ausgangsbeschränkungen gerieten, sollen wir nun wieder aus der Quarantäne herausfinden, nach dem Motto: Wenn die Ausgangsperre bestehen bleibt, sterben Menschen an Depressionen, Gewalt oder ihre wirtschaftliche Existenz wird ruiniert.
Ich kann bei all diesem Alarm nicht aufhören, mir die Amygdala in unser aller Gehirnen vorzustellen. Die Amygdala ist ein mandelförmiger Bereich im menschlichen Gehirn, der Emotionen verarbeitet und speichert. Eine Art Schmerzgedächtnis, besonders wichtig auch bei Traumata. Im Moment muss in diesem Bereich die Hölle los sein. Individuell und kollektiv. Deshalb halten viele sich an der Sachlichkeit der Virologen so fest. Man sollte jedoch noch weitergehen.
Die Experten sprechen davon, dass die Pandemie nicht mehr einzudämmen sein wird. Die Menschheit wird diese Katastrophe durchlaufen müssen. Sie wird dem aktuellen Stand nach in mehreren Phasen kommen. Es ist nicht einfach, aber wir müssen die Katastrophenlage für eine Weile als Normalität ansehen. Auch um nicht wahnsinnig zu werden. Normalität heißt, dass wir raus müssen aus dem Dauerbrennpunkt. Man kann nicht jede Nachricht mit den vierzehn neuen Infektionen beginnen und weiter die Angst schüren, während andere Themen völlig aus dem Blick geraten.
Auch in der Coronakrise bleiben andere Themen wichtig
Wer es in Zeiten der Corona-Krise wagt, auf Rassismus hinzuweisen, hört schnell: Es gibt gerade Wichtigeres! Das Virus macht ohnehin keine Unterschiede. Doch die von Menschen definierten Systeme machen diese Unterschiede weiterhin. Feminismus? Was soll das, in diesen Zeiten auf solche Kleinigkeiten zu achten? In diesen Zeiten? Die wenigen Studien, die es zu Epidemien wie SARS, Ebola oder dem Zika Virus gibt, zeigen, dass Frauen die Leidtragenden solcher Epidemien sind. Die Care-Arbeit wird während der Krisenzeit, insbesondere jedoch danach, in weiten Teilen von Frauen geleistet. Es wäre wichtig, jetzt so früh wie möglich, die Effekte einer Pandemie zu erforschen, um die Nachteile für Frauen, Minderheiten und soziale Schwächere abzupuffern.
In den Hauptnachrichten dürften andere Themen und Meldungen nicht heruntergekürzt werden auf wenige Minuten, wenn es im Anschluss ohnehin Sondersendungen zur Pandemie gibt. Wir müssen die Debatten am Laufen halten, um gut zu überleben und nicht in Angstquarantäne zu enden. Es mag widersprüchlich klingen, so früh von einer Normalisierung des Extremzustands zu sprechen. Doch je schneller wir uns anpassen, desto mehr werden wir diese Zeit nicht nur im Schatten des Virus erleben. Es braucht, gerade auch in Krisenzeiten, kritischen Diskurs, konträre Positionen und demokratische Vitalität.