Flaschenpost aus dem Jahr 2020
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Die Corona-Pandemie wird in die Geschichtsbücher eingehen. Damit künftige Historiker sich auch ein Bild von den Veränderungen im Alltag machen können, haben heutige Forscher das "coronarchiv" gegründet. Jeder kann dazu beitragen.
Fotos von leeren Klopapierregalen aus Hamburg. Der Zettel auf einer Parkbank in Jena mit dem Hinweis auf ein "Verweilverbot", der flugzeugfreie Himmel über dem Ruhrgebiet, aber auch die Zeilen einer Altenpflegerin über ihren Arbeitsalltag: All das hält das "coronarchiv" fest. Der Juniorprofessor für Geschichtsdidaktik in Bochum, Christian Bunnenberg, gehört zu den Initiatoren des Projekts:
"Ich habe vor drei, vier Wochen, Ende März, an einem Sonntag zuhause gesessen, in den sonnenbeschienenen Innenhof runtergeschaut und dann überlegt, wann diese offene Situation endet, und wie dann gleichzeitig die Offenheit dieser Situation so eingefangen werden kann, dass das auch in der Rückschau in irgendeiner Art und Weise in der Geschichtsschreibung deutlich wird."
Alltagserlebnisse als zukünftige Quellen
Per Twitter stellte Bunnenberg diese Frage auch im digitalen Raum und fand sofort Mitstreiter für das Projekt "coronarchiv", zum Beispiel Professor Thorsten Logge: Er forscht an der Uni Hamburg am Fachbereich Public History. Zusammen mit Kollegen aus Bochum und Gießen hat er das "coronarchiv" in Rekordzeit auf die Beine gestellt, ganz ohne Forschungsgelder. Über die Internetseite des Projekts können alle Interessierten ihre Zeugnisse der Krise in das neu geschaffene Archiv hochladen, sagt Logge:
"Die Idee, die wir haben, ist, dass auf diese Art die Menschen ihre eigenen, ganz individuellen Alltagserlebnisse in der Coronakrise dokumentieren können, damit in der Zukunft Historikerinnen und Historiker die Chance haben, darüber zu schreiben. Man könnte es eine Art Flaschenpost nennen: eine Flaschenpost im digitalen Raum, damit in der Zukunft Menschen darüber arbeiten und forschen können, was in dieser Zeit hier überall passiert ist."
Am Ende stelle sich Frage, wie Geschichte geschrieben wird. Auf welche Quellen können Historikerinnen und Historiker einmal zurückgreifen, um sich ein Bild von längst vergangenen Situationen zu machen?
"Wir haben eine relativ gute Überlieferung, was behördliches Handeln angeht", erklärt Thorsten Logge. "Das ist in einer Demokratie auch wichtig und richtig. Wir haben ein gutes Archivwesen. Was wir nicht so gut dokumentieren, ist in der Regel das Alltagserleben der Menschen. Da gibt es seit den 1980er-Jahren mit den Geschichtswerkstätten schon gute Ansätze. Aber es ist heute so, dass wir die Möglichkeit haben, durch die moderne Technik ganz, ganz viele Stimmen auch auf einer Ebene zu sammeln, die man bisher nur schwer dokumentiert bekommen hat."
Und gerade deshalb soll mit dem "coronarchiv" nun eine Quelle authentischer Alltagserlebnisse geschaffen werden, aus der die Geschichtswissenschaft der Zukunft ihre Erkenntnisse schöpfen kann.
Einkaufslisten als Zeitdokument
Wie schnell das "coronarchiv" wächst, hat die Forschenden überrascht. Knapp 900 Alltagszeugnisse aus der Krisenzeit wurden schon hochgeladen. Und all die Dinge und Dokumente, die auf den ersten Blick banal und belanglos erscheinen, tauchen zur Freude der Initiatoren nun im Archiv auf, sagt Logge:
"Denken sie an Einkaufslisten – die schmeißt man in der Regel weg. Tatsächlich sind die hochinteressant, wenn man 30, 40, 50 Jahre später zurückschaut, um etwas zu lernen über den Alltag: Was kaufen Menschen ein? Was brauchen Menschen bestimmter Sozialgruppen für ihren Alltag? Das sind so die Dinge, die wir total interessant finden.
Und jetzt ist der Moment, wo wir noch gar nicht wissen, wo es hinführt, was passiert. Jetzt sind wir gerade in so einer Lockerungsphase, aber es kann auch sein, dass es wieder einen Lockdown gibt. Wir wissen das alles nicht. Und die Leute dokumentieren ihren Alltag jetzt, ohne zu wissen, wie die ganze Corona-Geschichte ausgeht. Das ist sehr, sehr spannend für uns!"
Ganz ähnlich haben Forschende in den USA auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Ideen und Zeugnisse der Bürgerinnen und Bürger gesammelt.
Ein Freiwilligenteam prüft die Eingaben
Technisch umgesetzt wird das "coronarchiv" über eine frei verfügbare Software der George-Mason-University in Virginia. Eingegeben werden ein Titel, eine Beschreibung, Ort und Zeit des Dokuments und eine Mailadresse.
Ganz ohne Vorauswahl der hochgeladenen Dokumente kommt das Archiv aber nicht aus. Zusammen mit einem Team von neun Freiwilligen übernimmt der Gießener Kulturhistoriker Benjamin Roers die Prüfung der Eingaben:
"Es gibt Dinge, die wir nicht freischalten. Das sind eindeutige Rechtsverstöße. Oder wenn wir jetzt sehen, dass offensichtlich das Urheberrecht nicht bei der einreichenden Person liegt. Ansonsten laden wir Material nicht hoch, das keinen erkennbaren Coronabezug hat und offensichtliche Werbung, wo wir keine dokumentarische Intention erkennen können."
Zugänglich ist das "coronarchiv" für alle, und schon heute ist es möglich, die hochgeladenen Zeitzeugnisse online zu sichten. Zu sehen sind viele Fotos von leeren Spielplätzen, eine Klopapiertorte, Kinderzeichnungen an Litfasssäulen oder die Einträge an der so genannten "Wand der Einsamkeit". Die gibt es in der katholischen Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München, sie gibt einen Einblick in die anonymen Eindrücke der Menschen.
Der Blick auf die Krise verändert sich
Und schon heute, noch ohne eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Archivinhalte, wird deutlich, wie sich der Blick auf die Krise in den letzten Wochen verändert hat, sagt der Bochumer Historiker Christian Bunnenberg:
"Wir hatten zu Beginn vor allem Zeugnisse des Mangels, also das fast schon sprichwörtliche leere Toilettenpapier-Regal. Und was wir jetzt in den letzten Tagen beobachten, sind vor allem solche Dinge wie: Wie geht man auch mit Distanz um? Wenn dann Enkelkinder ihren Großeltern zum Geburtstag gratulieren, aber nur über den Gartenzaun und fünf Meter Vorgarten hinweg. Dass Kinder eben auch andere Spielmöglichkeiten suchen, dass die jetzt die Straßen und Gehsteige zurückerobern.
Was wir jetzt aber auch haben, sind erste Reflexionen über diese Zeit. Wo sich Menschen hinsetzen und kurze Texte verfassen und eben darüber nachdenken, was es für Veränderungen gegeben hat in dieser Zeit. Und das finde ich sehr interessant, dass wir eben diese unterschiedlichen Schwerpunkte dieser Sammlung auch jetzt schon, nach vier, fünf Wochen nachweisen können."
Auch Fakenews gelten als Zeitdokument
Nicht unumstritten sind die Fakenews, die im "coronarchiv" hinterlassen werden. Aber dafür, sagt Mit-Initiator Christian Bunnenberg, gebe es gute Gründe:
"Fakenews sind ja ein Phänomen unserer Zeit. Das ist ja seit drei, vier Jahren ein riesiges Thema, das durch die Medien geht und durch die Politik und die Bildung geht. Wie gehe ich mit Fakenews um, wie reagiere ich darauf? Und wenn man da jetzt einen blinden Fleck erzeugen würde, indem man sagt: 'Das alles wird nicht veröffentlicht!', dann würden wir auch für die Zukunft einen blinden Fleck erzeugen."
Allerdings gibt es unter den Falschmeldungen im "coronarchiv" auch entsprechende Hinweise auf die Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Uploads.
Im Herbst, so hoffen die Forscher, kann dann auf ganz analogen Workshops die wissenschaftliche Diskussion über das Archiv starten. Und auch noch in 30, 40 oder 50 Jahren können sich Forscherinnen und Forscher dann freuen über die Flaschenpost aus dem Jahr 2020.