Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" und kürzlich ihr Essayband "Schluss mit dem Sex", beide im Klever Verlag.
Zum Wachstum verdammt
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Mehr als zwei Billionen Euro deutsche Staatsschulden meldete das Statistische Bundesamt, den höchsten jemals ermittelten Stand – auch eine Folge der Coronahilfen. Wäre es gar nicht anders gegangen? Andrea Roedig wagt ein Gedankenexperiment.
Zwei körperliche Reaktionen löst die Nachricht vom gigantischen Schuldenstand aus, ein mulmiges Drücken in der Magengegend, – ob das wohl gut geht? – und ein resigniertes Schulterzucken: Jetzt kommt es auf eine Null mehr oder weniger auch nicht an. Schon beim Gesellschaftsspiel "Monopoly" haben wir ja gelernt: Je mehr Geld im Umlauf ist, desto teurer werden zwar die Mieten auf den Spielstraßen, desto mehr Hotels kann aber auch jede Spielerin, wenn sie nur schnell genug ist, auf die eigenen Felder setzen, um die Einnahmen kräftig nach oben zu treiben.
Kein Lohn, keine Miete, keine Steuern
Als im Frühjahr der Lockdown zur Eindämmung der Coronapandemie weite Teile des gesellschaftlichen Lebens zum Stillstand brachte, wurde eine Frage seltsamerweise nie gestellt: Wenn die Menschen nicht mehr zirkulieren dürfen, warum lässt man das Geld weiterfließen, als sei es das Natürlichste von der Welt? Hätte man nicht gleichzeitig einen zeitlich begrenzten Lockdown des Zahlungsverkehrs beschließen können, um die finanziellen Folgen der Corona-Maßnahmen abzufedern?
"Unmöglich", werden Sie sagen. Aber es war ja plötzlich so vieles möglich, was vorher undenkbar schien, und stellen wir uns das einen Moment lang vor: die Börsen schließen, die Banken auch. Es gibt keinen Geldfluss mehr, sofern es nötig ist, arbeiten wir weiter und erhalten keinen Lohn. Im Gegenzug bezahlen wir aber auch nichts, weder Miete noch Lebensmittel noch fällige Steuern, noch die Gebühr fürs Netflix-Abonnement. Die Produktion von Waren und Dienstleistungen läuft gedrosselt weiter, Lebensmittel stehen als rationierte Warenpakete zur Verfügung, das nötige Import/Export-Geschäft wird als Tauschhandel geführt oder über einen Reservegeldfonds abgewickelt.
Ungleichheit entsteht durch Ungleichzeitigkeit. Der reale Lockdown im Frühjahr hat vieles stillgestellt, anderes durfte und musste weiterlaufen. Dumm für freie Künstler oder Gastronomiebetreiberinnen, weniger dumm für Immobilienbesitzer oder Start-ups in der Digitalbranche.
Faire Lastenverteilung durch Sozialismus auf Zeit
Ein Finanzlockdown hätte solche Ungleichheiten nicht beseitigt, aber abgemildert. Wenn keine Mieten zu zahlen sind, fallen keine Schulden an, wenn keine Löhne gezahlt werden, muss auch niemand entlassen werden. Ich stelle mir das vor wie eine Winterstarre bei Reptilien, ein Notaggregat, in dem alle gezwungen sind, einen Beitrag zu leisten und vom privaten Vorratsspeck zu zehren – Luft anhalten und durchtauchen.
Wäre in diesem Szenario eines coronabedingten Ausnahme-Sozialismus der wirtschaftliche Schaden nicht gerechter auf alle verteilt gewesen und in Summe glimpflicher ausgefallen? Es gibt Börsenschließungen, es gibt den verkaufsfreien Sonntag, es gibt Modelle einer geldlosen Wirtschaft. Warum wurden diese Mittel nicht in Erwägung gezogen?
Natürlich, keine Gesellschaft hält eine Winterstarre lange durch, zumal unter globalisierten Bedingungen. Und natürlich ist der Staat, auch wenn er uns das manchmal weismachen will, keine schwäbische Hausfrau. Schulden sind Wetten auf die Gewinne der Zukunft, und wenn nur das Wirtschaftswachstum stimmt, wird auch der Schuldenberg, so gigantisch er jetzt scheinen mag, gesamtgesellschaftlich später ein Klacks sein. Wenn es gelingt!
Ziehen wir die Notbremse
Denn das ist der Wechsel, den wir alle einzulösen haben: Jetzt sind wir – mehr denn je – zu einem wahnsinnigen Wachstum verdammt: Es muss boomen "nach Corona", sonst Gnade uns Gott. Die wahre Revolution des Menschengeschlechts, so hat Walter Benjamin einmal gegen Karl Marx eingewendet, bestünde darin, die Lokomotive des Fortschritts zu bremsen, nicht, sie weiter zu befeuern.
Im Moment sieht es eher so aus, als müssten wir noch auf lange Zeit im Maschinenraum die Kohlen ins Feuer schippen und weiter rasen, damit das böse Ende uns nicht von hinten einholt. Die Alternative wäre, radikal utopisch zu denken und auch das scheinbar Unmögliche zuzulassen, als Vorstellung, als Idee, als Wirklichkeit.