Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" im Klever-Verlag, kürzlich ihr Essayband "Schluss mit dem Sex".
Das Leben ist kein Zombie-Film
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Die Leipziger Buchmesse ist abgesagt, in Italien schließen die Schulen, das Händeschütteln ist in Verruf geraten. Das Coronavirus stellt die Welt auf den Kopf. Aber an welche archaischen Gefühle rührt die Angst vor der Ansteckung eigentlich?
"Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes", so beginnt Elias Canetti seinen Klassiker "Masse und Macht". Das Gruselige, und vielleicht auch unheimlich Faszinierende am Coronavirus ist seine Unsichtbarkeit, seine Geschwindigkeit und die Angst vor der Ansteckung, die von der Krankheit ausgeht. Diese Angst scheint archetypisch in uns verankert, und sie ist in etlichen Romanen, vor allem aber in den unzähligen Filmen des Vampir- und Zombie-Genres verarbeitet. Ein Biss, ein Kontakt mit der falschen Person, und es ist um dich geschehen.
Die archaische Berührungsangst ist nicht unbegründet, wir sind Stoffwechsel-Wesen, auf den Austausch angewiesen, und über die Kanäle des Lebens kann auch Todbringendes eindringen. Zudem teilt die Infektion die Gesellschaft in solche, die sie haben und solche die sie nicht haben, und die Angst vor der Ansteckung ist auch die Furcht, auf die andere, die verfemte Seite gestoßen und selbst ansteckend zu werden.
Virale Geschwindigkeit
Das Unheimliche an der Pandemie ist aber auch die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus verbreitet. Der Politologe und Kriegstheoretiker Herfried Münckler hat einmal die These vertreten, dass Geopolitik heute eher auf die "Kontrolle des Fließenden und Strömenden" ziele: "Die Beherrschung der Ströme von Menschen und Gütern, Kapital und Information ist um ein Vielfaches wichtiger geworden als die Besetzung geographisch umrissener Räume", schreibt er.
Tatsächlich erscheint die Coronapandemie als Spiegel unserer Zeit und ihrer Ängste: Es gibt sozusagen kein Festland mehr, alles verbreitet sich fließend und sehr schnell; Nachrichten und auch Videoclips gehen, wie man so schön sagt, "viral", das heißt, sie erlangen in sehr kurzer Zeit eine enorm hohe, globale Reichweite. Und interessanterweise gehört auch die zweite große Schlagzeile dieser Woche in dieses Angstmuster: Erdoğan öffnet die Grenzen für Flüchtlinge. Die Metaphern bleiben dieselben: Da bricht etwas aus und dringt ein; als seien Flüchtende Fremdkörper, vor denen man den Organismus EU schützen muss – und als hätte 2015 eine Epidemie stattgefunden.
Was lehrt uns das Coronavirus? Die Ängste vor Ansteckung sind real und sie sind gleichzeitig mythisch-archaisch. Wir werden aber die Grenzen nicht schließen können, in keiner Hinsicht. Das Zeitalter der Trutzburg ist nicht nur physisch vorbei, es muss auch im Denken geschmeidigeren, intelligenteren Konzepten weichen. Ströme lassen sich lenken, dämmen, teilen und entschleunigen. Je schneller das Virus ist, desto langsamer müssen wir uns bewegen. Und das geschieht gerade.
Gemeinsam überleben
Bislang ist Corona, was die Anzahl der Todesfälle und den Krankheitsverlauf betrifft, relativ gnädig. Vielleicht lernen wir auch daraus: Wir werden uns anstecken, aber das Leben ist – in den meisten Fällen – kein Horrorfilm, in dem zum Schluss nur einer übrig bleibt. Die Pandemie stellt die Welt auf den Kopf, und das Verheerendste an ihr ist, dass sie isoliert, dass die Hoffnung aufs Überleben uns vereinzelt. Aber auch hier liegt ein Denkfehler, denn es gilt meist nicht die harte Entgegensetzung entweder/oder, drinnen/draußen, krank/gesund. Wir müssen uns sogar – in Maßen – kontaminieren, um bestehen zu können. Es geht nicht darum, sich nicht anzustecken, sondern zu überleben. Es geht nicht darum, allein zu überleben, sondern gemeinsam. Die gefährlichsten und schnellsten Viren, das wissen wir, sind Misstrauen und Angst.