Tödlicher Sonderweg für die Alten?
06:22 Minuten
Eigentlich wollte Schweden mit seinen Coronamaßnahmen vor allem die alten Menschen schützen. Doch in schwedischen Altersheimen grassiert der Erreger stärker als anderswo. Hätte ein Lockdown Menschenleben gerettet?
"Wir waren total unvorbereitet", sagt die Altenpflegerin Veronica Olmos Oscarsson heute. In der Rückschau musste sie erkennen, dass sie das Coronavirus überrascht hat. Früh traten die ersten Fälle in Gnösjö, einer kleinen Gemeinde im Landesinneren, auf. Die Bewohner hätten sehr unterschiedlich auf die Infektion reagiert: Manche hatten gar keine Symptome, andere leichten Husten. "Aber ein paar Betroffenen ging es schon nach kurzer Zeit sehr schlecht."
Die Infektion von Alten und Kranken zu verhindern, war auch in Schweden oberstes Ziel in der Coronapandemie. Doch während andere Staaten auf einen Lockdown setzten, galt im Land das Prinzip Eigenverantwortung. Kitas und Schulen blieben bis zur neunten Klasse geöffnet. Die Menschen sollten zu Hause bleiben, wenn sie sich krank fühlten.
Das galt besonders für ältere Menschen. Denn schon früh war klar, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 vor allem für sie gefährlich sein kann, sagt Marta Szebehely. Die emeritierte Professorin für Sozialarbeit forschte lange an der Universität Stockholm über die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege. "Wir konnten kaum alle Bewohner begleiten", sagt sie. "Wir müssen alle Menschen über 70 Jahren vor einer Ansteckung schützen", habe es zu Beginn der Pandemie geheißen.
Doch es gab keine besonderen Auflagen für die Heime und ihre Bewohner, nur die gängigen Verhaltensregeln: Soziale Kontakte sollten sie vermeiden, nicht einkaufen gehen. "Erst als die ersten Todesfälle auch in Altersheimen auftragen, wurde ein Besuchsverbot eingeführt", so Szebehely. Das war Ende März.
Doch zu diesem Zeitpunkt grassierte das Virus in mehreren stationären Einrichtungen – auch im Heim von Oscarsson. Innerhalb kurzer Zeit starben acht Bewohner an Covid-19. Etwas Ähnliches hat die Schwedin zuvor nicht erlebt. "Alles ging sehr schnell und wir haben es kaum geschafft, alle Bewohner zu begleiten", erinnert sie sich an diese schwierige Zeit. Viele der alten Menschen hätten schon lange in dem Heim gelebt, entsprechend eng war die Bindung zum Pflegepersonal. "Es war sehr traurig, sie zu verlieren."
Probleme in Altersheimen zu spät entdeckt
Womöglich hätten diese Todesfälle verhindert werden können, wenn Schweden besser auf die Pandemie vorbereitet gewesen wäre. Doch gerade zu Beginn der Krise fehlte es an vielem, vor allem an Coronatests. Sie gab es in den ersten Monaten nur für Menschen, die mit schweren Symptomen in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Die Behörden hätten in der Anfangszeit die Einrichtungen übersehen, in denen alte Menschen betreut werden, kritisiert die Sozialarbeitsforscherin Szebehely.
In den ersten Wochen habe das Land sich mit den Intensivstationen beschäftigt und dort die Zahl der Betten aufgestockt und versucht, in Kliniken eine Infektionswelle zu verhindern. "Als man dann die Probleme in den Altersheimen entdeckte, war es zu spät", sagt sie. Zu dem Zeitpunkt nämlich gab es bereits viele Infizierte in Heimen, vor allem in Stockholm.
In den ersten Wochen der Pandemie zeigten sich dabei viele Probleme, auf die Kritiker bereits lange vorher aufmerksam gemacht hatten. In Schweden sind viele Heime in den vergangenen Jahren privatisiert worden. Die Stammbelegschaft ist kleiner geworden, viele Mitarbeiterinnen arbeiten auf Stundenbasis in unterschiedlichen Abteilungen.
Szebehely sagt, dass jede vierte Pflegekraft in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis steht. Sie bekommen kein Geld, wenn sie nicht zur Arbeit kommen. Jetzt hätten viele Kommunen dieses Personal für zwei Monate fest angestellt. "Um nicht zu riskieren, dass sie auch mit milden Symptomen zur Arbeit gehen und dann andere anstecken", so die Wissenschaftlerin.
Regierungskommission soll Fehler aufarbeiten
Etwa die Hälfte der Menschen über 70 Jahren, die in Schweden an oder mit Covid-19 starben, war in einem Heim untergebracht. Auf dem Höhepunkt der Pandemie, Mitte April, starben mehr als 100 Menschen täglich. Inzwischen sind die Todeszahlen deutlich gesunken - seit Anfang Juli liegen sie fast immer bei weniger als zehn Menschen pro Tag. Hätte ein kompletter Lockdown womöglich Menschenleben retten können? Die schwedische Regierung hat dazu eine Coronakommission eingesetzt, die die Ursachen aufarbeiten soll.
Sozialarbeitsforscherin Szebehely ist gespannt auf die Ergebnisse, in einem aber ist sie skeptisch. Nämlich, dass "geschlossene Grenzen oder Schulen etwas geändert hätten". Sie glaubt viel mehr, dass die Ausbreitung an den Strukturen der Pflegeeinrichtungen liegt: zu wenig und zu unerfahrenes Personal etwa. "Und infizierte Mitarbeiter, die trotz Symptomen zur Arbeit gegangen sind." Ein Lockdown hätte keinen großen Unterschied gemacht.
Dennoch: Das Besuchsverbot in Alters- und Pflegeheimen gilt vorerst bis Mitte August. Kontakt zu ihren Angehörigen können die Bewohner derzeit nur per Videokonferenz oder Telefon halten.