Cristina Lafont: "Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung"
Aus dem Amerikanischen von Bettina Engels und Michael Adrian
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
448 Seiten, 34 Euro
Am besten ist, wenn alle mitmachen
06:41 Minuten
In der Politik müssen Entscheidungen getroffen werden, zugleich gilt aber das Ideal der Selbstherrschaft: Jeder muss mitmachen dürfen. Dieses Prinzip nennt die Philosophin Cristine Lafont "deliberative Bürgerbeteiligung" und hat dazu ein Buch vorgelegt.
Die Sache ist einerseits einfach und andererseits ziemlich kompliziert. Die Analyse klingt zunächst einfach und klar. In ihrem Einführungskapitel beschreibt Cristina Lafont eindrücklich und nachvollziehbar ein politisches Problem. Sie sieht die Demokratie in Gefahr. Nicht nur, weil weltweit Autokraten auf dem Vormarsch sind.
Auch etablierte demokratische Staaten stehen unter Druck: Der Europäischen Union wird vorgeworfen, in ihren Entscheidungsprozessen nicht demokratisch genug zu sein. Populistische Parteien sehen sich im Aufwind. Die Bürger fühlen sich vielfach im Stich gelassen und nicht mehr ausreichend repräsentiert. Diese wachsende Unzufriedenheit, argumentiert Lafont, weise darauf hin, dass es höchste Zeit sei, die demokratischen Kontrollmöglichkeiten der Bevölkerung zu stärken.
Stärken können man die Demokratie am besten, indem Bürgerinnen und Bürger mehr an der politischen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen. Das umzusetzen ist in großen und komplexen Gesellschaften schwierig. Umso wichtiger und dringender seien deshalb Institutionen, die einen Abgleich ermöglichten zwischen den Regelungen, denen die Bürger sich unterwerfen müssen, und dem Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung, an dem sie teilnehmen.
Jeden an allen politischen Prozessen beteiligen
Ein solches Demokratieverständnis bezeichnet Lafont als "deliberativ". Das Wort bedeutet "beratend". Ein Demokratiekonzept, das anstrebt, dass sich idealerweise Bürgerinnen und Bürger an politischen Prozessen aktiv und passiv beteiligen. Um dafür zu werben, hat Lafont dieses Buch vorgelegt. So weit, so einfach.
Nun wird es kompliziert: Denn ihr Plädoyer für eine "unverkürzte Demokratie" entwickelt die Autorin auf 400 Seiten nicht mehr in einem politischen Vokabular. Sie wechselt in die Fachsprache ihrer akademischen Disziplin als Philosophieprofessorin.
Die in Spanien geborene Lafont hat in Frankfurt am Main bei dem Philosophen Jürgen Habermas promoviert und knüpft ausdrücklich an dessen "Theorie des kommunikativen Handelns" an. Ihm ist ihr Buch auch gewidmet.
Anstatt konkret auszuführen, wie Institutionen und Bürger stärker in beratschlagenden Dialog treten könnten, arbeitet sich die Autorin an Fragen ab, die sich für Nichtfachleute gar nicht stellen. Zum Beispiel, warum "radikalpluralistische Demokratiekonzeptionen" für ein beratendes Demokratieverständnis nichts taugen. Eine fachinterne Kontroverse, die für Laien unverständlich bleibt.
Prinzip der Selbstherrschaft
Ebenso wendet sie sich gegen sogenannte lottokratische Institutionen, wie zum Beispiel Bürgerversammlungen und Bürgerforen. Zwar schafften solche "Mini-Öffentlichkeiten" Raum für eine niveauvolle Deliberation, bei der die Beteiligten mit ausgewogenen Informationen über wichtige politische Themen versorgt werden, um zu einem wohlüberlegten Urteil zu gelangen. Aber letztlich verzögerten sie einen gesamtgesellschaftlichen Klärungsprozess und eröffneten eine "Flanke" für politische Manipulation:
"Die Erwartung blinder Überantwortung, die der mikrodeliberativen Abkürzung zugrunde liegt, ist mit dem demokratischen Ideal der Selbstregierung gänzlich unvereinbar. Einige wenige mit Macht auszustatten ist eigentlich nie das geeignete Mittel, um viele zu ermächtigen."
Experten sind keine besseren Politiker
Deshalb wendet sich die Autorin auch gegen sogenannte epistemische Demokratiekonzepte, also die Herrschaft von Fachleuten und Experten. In der Coronakrise war zu beobachten, dass Virologen, Statistikerinnen und Epidemiefachleute plötzlich als Ratgeber der Politiker Entscheidungen erheblich beeinflussten. So sehr das in der akuten Gefahrensituation notwendig gewesen sein mag, wäre es jedoch gefährlich, Politik an Spezialisten zu delegieren.
"Da die Bevölkerung im erforderlichen politischen Sinne weder 'passiv' noch 'unwissend' ist, steht uns die abkürzende Option, die Bevölkerung einfach zu übergehen und alles politische Handeln an Eliten zu delegieren, in Wirklichkeit politisch gar nicht zur Verfügung. Noch anders und zugespitzt formuliert ist an ihrer 'Ignoranz' nichts politisch 'passiv'. Denn selbst wenn sie kein differenziertes politisches Wissen haben und nicht politisch engagiert sind, prägen ihre Interessen, Ansichten, Einstellungen und Wertorientierungen (…) ganz entscheidend die Mehrheitskultur ihrer politischen Gemeinschaft. (…) Intellektuell und emotional muss sich bei den Bürgern etwas verändern, damit sie ihren Teil zur Verwirklichung der gewünschten Ergebnisse beitragen können. Zu diesem Zweck aber müssen wir die Mechanismen, die Bürger unwissend halten, aktiv bekämpfen."
Ein schwer verständliches Buch
Bürgerinnen und Bürger sollten den Gesetzen und Regeln nicht blind gehorchen, sondern sie aus freien Stücken akzeptieren können. Nur der lange, umständliche deliberative Weg könne uns dorthin führen, meint Lafont. Ein Weg, der keine Abkürzungen zulässt.
Die Übersetzer Bettina Engels und Michael Adrian hatten sicher eine Herkulesaufgabe zu bewältigen, eine solch komplizierte Materie in ein halbwegs ansprechendes und verständliches Deutsch zu übertragen. Aber insgesamt löst das Buch nicht ein, was die Autorin eingangs verspricht. Es ist in Inhalt und Form, in Sprache und Stil eine akademische Fachpublikation, vielleicht auch eine akademische Streitschrift, und damit gerade nicht das, was es zu sein vorgibt: ein Demokratieplädoyer einer Bürgerin für ihre Mitbürger.