Die Ausstellung "Critical Zones" im ZKM Karlsruhe läuft bis zum 28. Februar 2021.
Die Verletzlichkeit unseres Planeten
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Coronakrise und Klimakrise zeigen: Unser Lebenswelt ist angreifbar. In der Ausstellung "Critical Zones" im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe geben Künstler wissenschaftlichen Daten eine Ausdrucksform. Ambitioniert, aber nicht größenwahnsinnig.
Kann man Messergebnisse in einem Fluss in den Vogesen in Sound umsetzen? Die Künstlerin Sonia Levy hat es versucht. Das in der Ausstellung "Critical Zones" aufgebaute wissenschaftliche "Flusslabor" zeichnet an Bildschirmen die chemischen Substanzen und Veränderung auf, die im Flusswasser zu beobachten sind. Der Sound übersetzt diese Gemengelage in das Erlebnis eines fließenden Elements.
Die Kuratorin Bettina Korintenberg im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) erklärt: "Sensorium und Sensoren sind zwei Kernbegriffe der Ausstellung, es geht tatsächlich darum, neue Sensoren zu entwickeln. Und tatsächlich sind viele High-Tech-Geräte in diesen Critical-Zone-Observatories aber auch viel Bricolage, also an den Ort angepasste, selbst gebastelte Instrumente. Und es geht darum, unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erweitern und eine andere Art von Sensorik zu entwickeln und auch eine andere Art von Sensibilität."
Der Eingangsbereich der Ausstellung besteht aus weiteren Beobachtungsstationen. In ihnen werden Bodendichte, Niederschlagsmengen, Kreislaufsysteme der Natur untersucht. Getrennte Wissenschaften wie Biologie, Physik, Chemie kommen hier wieder zusammen, um die Komplexität terrestrischen Lebens zu erfassen.
Ein Natur-Rave ohne Menschen
"Die Kernthese", so Korintenberg, "ist eigentlich, dass wir uns nicht auf dem Globus befinden, sondern dass wir eingefaltet sind in die vielfältigen Prozesse der kritischen Zone. Unser Lebensraum ist nicht dieser astronomische Körper, in Distanz von uns. Sondern diese vielfältige, heterogene Zone, in der sich das ganze Leben abspielt, in der die ganzen Lebensformen zusammen kommen."
Und diese nur wenige Kilometer dünne Schicht der Erde ist sehr verletztlich, äußerst angreifbar. Das demonstriert diese überwältigende Ausstellung mit einer Fülle von Beispielen. Und die Künstler geben den Daten der Wissenschaftler eine Ausdrucksform, die öffentlichkeitswirksam ist. Der Schweizer Julian Charrière zum Beispiel führt uns in einem Film durch eine endlose Allee von Palmen. Schließlich neigt sich der Tag dem Ende zu, alles mündet in einen Rave ohne Menschen, nur die Mücken und die Blätter der Palmen tanzen im Licht.
Wir befinden uns in einer Palmölplantage in Indonesien, einer Ausbeutungsszenerie ohnegleichen. Auch die Salzsäuleninstallation des Schweizer Künstlers hat Mahnmalcharakter. Material aus einem bolivianischen Salzsee, der etwa ein Drittel der weltweiten Bestände an Lithium enthält, jenem hochbegehrten chemischen Element, ohne das Elektrofahrzeuge und digitale Geräte nicht funktionieren.
Menschen, Tiere und Pflanzen als ebenbürtige Akteure
"Er schaut mit dem Werk in die Zukunft", deutet Kuratorin Bettina Korintenberg "da diese Landschaft in Zukunft wahrscheinlich verschwinden wird. Es sind also die Fossilien, mit denen wir in der Zukunft konfrontiert sein werden."
Die Ausstellung "Critical Zones" fordert eine Auffassung von "Natur" und Wissenschaft, in der alles mit allem zusammenhängt, in der Menschen, Tiere, Pflanzen ebenbürtige Akteure sind. Auch die Selbstbeobachtung der Besucher und Besucherinnen ist gefordert: Was trage ich am Körper, wo kommt es her, welche Ressource wird damit angezapft?
Mit Malerei der Romantik, mit dem "Naturgemälde" von Alexander von Humboldt, wird eine Epoche zitiert, in der es ein ganzheitliches Weltbild gab. In der Kunst und Wissenschaft als Einheit gedacht wurden. Aber hier geht es nicht um eine neue Romantik, sondern um den Versuch, unsere Rolle in der "kritischen Zone" der Erde angemessen zu begreifen. In dieser Ausstellung wird vor Augen geführt, was die gegenwärtige Politik an Einsicht oft verweigert.
Wichtigste Ausstellung des Corona-Jahres 2020
Peter Weibel, Direktor des ZKM Karlsruhe, sieht die Schau als Korrektiv einer herrschenden Gedankenlosigkeit und Zukunftslethargie: "Diese Ausstellung ist einer der heroischen Versuche, diesen Zeitströmungen Widerstand zu leisten. Im Vertrauen auf die Zivilgesellschaft, im Vertrauen auf die Bürger und Bürgerinnen, dass die kommen und sagen: 'Wir sind dankbar, dass wir noch einmal einen anderen Blick auf die Welt bekommen.'"
Diese großartige, überwältigende, beunruhigende, aber auch nötige Selbstwahrnehmung stimulierende Schau darf schon jetzt als wichtigste Ausstellung des Coronajahres 2020 gelten. Sie ist ambitioniert, aber nicht größenwahnsinnig. Sie offenbart das notwendige intellektuelle Format, ohne das wir die menschliche Zukunft nicht bewältigen werden.