"Crossroads" von Jonathan Franzen

Wenn Moral auf Menschen trifft

05:54 Minuten
Der US-Autor Jonathan Franzen schaut aus einem Fenster und schiebt dabei eine Gardine beiseite. Er trägt eine Brille.
Reise in die 70er-Jahre: "Crossroads" von Jonathan Franzen erscheint gleichzeitig im englischen Original und in vielen Übersetzungen, darunter auch auf Deutsch. © picture alliance / dpa / KEYSTONE / Ennio Leanza
Von Tobias Wenzel |
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Über Familien schreibt Jonathan Franzen gern, etwa in dem Roman "Die Korrekturen", der dem US-Autor zum Durchbruch verhalf. Nun erscheint "Crossroads", der erste Teil einer Generationensaga.
Autor Jonathan Franzen ist für das Interview aus einem Studio im kalifornischen Santa Cruz zugeschaltet. Lachend sagt er über sein jüngeres Selbst: "Ich war ein peinlicher junger Mensch." Franzen erinnert sich daran, wie er Anfang der 1970er-Jahre als Nerd zur Jugendgruppe einer christlichen Gemeinde im Mittleren Westen der USA dazustieß – nicht zuletzt, um in die Nähe hübscher Mädchen zu gelangen. "Ich bin umarmt worden und ich habe andere umarmt in dieser Jugendgruppe", erzählt Franzen.
"Crossroads" heißt in Franzens gleichnamigem neuen Roman eine Jugendgruppe. Der Roman erzählt die Geschichte einer Pastorenfamilie in einem fiktiven Vorort von Chicago Anfang der 70er-Jahre. Russ Hildebrandt, Pastor einer liberalen protestantischen Gemeinde, hat keinen Draht mehr zu den Jugendlichen und leidet darunter, dass der Leiter von "Crossroads", der statt Bibelkreis eine Art Gruppentherapie veranstaltet, wie ein Magnet neue Mitglieder anzieht.

Freundlich mit den eigenen Figuren

Russ Hildebrandt gerät in eine Midlife-Crisis. Der verheiratete Pastor verliebt sich in ein zehn Jahre jüngeres Gemeindemitglied. Er leiht der Frau Blues-Platten aus, damit sie, die rassistische Vorurteile hat, sich der schwarzen Musik und Kultur und natürlich auch dem weißen Russ selbst annähert. Franzen erzählt das tragikomisch, allerdings ohne über seine Figuren zu urteilen.
"Es ist wohl mein erster Roman", so Franzen, "in dem ich der Versuchung widerstanden habe, mich über meine Romanfiguren lustig zu machen. Dieses Buch ist behutsamer als alle meine anderen Romane."
Ein Roman, in dem der Autor freundlich zu seinen Figuren ist, ein Buch über eine Pastorenfamilie, deren Mitglieder gute Menschen sein möchten und die andere und sich selbst korrigieren, wenn sie etwas nicht politisch Korrektes sagen. Solch ein Roman ist zum Scheitern verurteilt und todlangweilig, vermutet man. Und dann erwischt man sich dabei, wie man die mehr als 800 Seiten verschlingt und fasziniert ist von Franzens Erzählkunst, so konventionell realistisch sie auch sein mag – und berührt von dieser Geschichte.

Moralisch mehrdeutig

In "Crossroads" wimmelt es nur so von moralischen Fragen, mit denen die Hildebrandts sich konfrontiert sehen. Ist es legitim, wenn der hochbegabte Zehntklässler Perry Drogen verkauft, um von dem Geld seinem kleinen Bruder das perfekte Weihnachtsgeschenk zu kaufen?
Ist es verwerflich, wenn Clem sein mittelmäßig laufendes Philosophiestudium abbricht, um sich stark zu fühlen, indem er sich während des Vietnamkriegs zum Militärdienst meldet, obwohl er damit seine pazifistische Familie vor den Kopf stößt?
Und ist Pastor Russ Hildebrandt noch ein guter Mensch, wenn er Ehebruch begehen will und damit nicht nur seine ohnehin schon traumatisierte Frau verletzt, sondern auch noch gegen Gottes Gebote handelt?
Der Autor findet: "Als Romanautor ist es nicht wirklich meine Aufgabe, das zu entscheiden. Moralische Mehrdeutigkeit ist eine der Säulen der Literatur. Ich habe noch mal 'Die Brüder Karamasow' gelesen. Es gibt die Vorstellung, Aljoscha sei der leuchtend Gute von den drei Brüdern. Aber wenn man noch mal genau nachliest, fällt einem auf: Er ist auch nur ein Mensch. Das ist die Art von Literatur, die ich gern lese und die ich selbst schreiben möchte: über komplexe Menschen, die sich in einem System der Moral grundsätzlich nicht eindeutig verorten lassen."

Der Autor als "Gott im Kleinen"

Russ Hildebrandt ist eben nicht nur der tollpatschige Ehebrecher, sondern auch ein engagierter Mensch: Er kämpft für die Gleichberechtigung von Afroamerikanern und fühlt sich dem indigenen Volksstamm der Navajos verbunden.
Franzen, der, wie er einmal schrieb, als Kind "der soziale Tod" war, ist als Autor ein Meister darin, die Beziehungen zwischen seinen Romanfiguren genauestens und äußerst unterhaltsam zu beschreiben. In der Jugendgruppe "Crossroads" des Romans wird die Theorie formuliert, Gott könne man nicht etwa in der Liturgie begegnen, sondern in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die man pflege.
"Eine starke Idee", urteilt der Autor. "Die habe ich den Erfahrungen entnommen, die ich in meiner eigenen christlichen Jugendgruppe gemacht hatte. Ohne Beziehungen gäbe es keinen Roman. Und – das sollte ich jetzt lieber nicht sagen, weil es größenwahnsinnig klingt – in gewisser Hinsicht bin ich im Kleinen in der Position Gottes, indem ich eine Welt erschaffe und sie mit Figuren bevölkere. Wie Gott in der Wirklichkeit habe auch ich versucht, mich selbst unsichtbar zu machen und die Welt nur noch darzustellen, wie sie ist, und nicht mehr als Autor da zu sein und im Weg zu stehen."
Und dann verschwindet Jonathan Franzen kurz auch während unseres Gesprächs: Die Leitung bricht zusammen. Aber im Studio in Kalifornien wird weiter aufgenommen, was der Autor zum Tontechniker sagt: "Im schlimmsten Fall stelle ich mir vor, welche Fragen er mir noch gestellt hätte – und dann gebe ich die Antworten. Und Sie nehmen sie auf."

Lesungen:
Jonathan Franzen stellt seinen neuen Roman virtuell vor und wird dazu aus Kalifornien zugeschaltet:
am 16. Oktober um 19.30 Uhr im Literaturhaus Hamburg oder per Streamingticket
am 25. Oktober um 19 Uhr in der Volksbühne am Rudolfplatz in Köln
am 31. Oktober um 17 Uhr im Deutschen Theater in Göttingen

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