Sofiane Ben Haj oder das Gefühl von Verrat
Vor fünf Jahren floh der tunesische Diktator Ben Ali im Zuge des "Arabischen Frühlings" außer Landes. Der Internetrevolutionär Sofiane Ben Haj sorgte mit Blogs und Bildern für eine Verbreitung der Ereignisse in aller Welt. Heute ist er verbittert.
An einem grauen Herbsttag Ende 2008 sitzt Sofiane Ben Haj im Hörsaal der Universität von Brüssel. Der Sohn eines tunesischen Vaters und einer belgischen Mutter ist seit dem Abitur in Belgien, studiert Politikwissenschaften, will später im Marketing arbeiten. Nebenbei interessiert sich der 25-Jährige immer mehr für die Nachrichten aus Tunesien, liest die ersten regierungskritischen Blogs tunesischer Cyber-Pioniere. Dann trifft Soufiane Bel Haj eine Entscheidung, die sein Leben verändern wird – und das Leben vieler Menschen in seiner Heimat Tunesien: Er legt sich ein Facebook-Konto zu.
"Es gab diesen einen Moment, in dem mir klar wurde: Warum nicht mit gutem Beispiel vorangehen? Ich habe mir meinen Alias-Namen zugelegt, Hamadi Kaloutcha. Das hat die Behörden verwirrt, ich wollte ja nicht auffliegen. Und dann habe ich angefangen, online mit jungen Leuten zu diskutieren – darüber, ob so etwas wie Demokratie in Tunesien möglich ist."
Sofiane Ben Haj hat einen belgischen und einen tunesischen Pass. In Brüssel bekommt er im Netz mit, was die tunesischen Staatsmedien seinen Landsleuten auf der anderen Seite des Mittelmeers verschweigen: wie Präsident Ben Ali und sein Clan das Land plündern, wie das Regime den Polizeistaat immer weiter ausbaut, die Demonstranten in den Phosphatminen von Gafsa niederknüppelt, Kritiker foltert und verschwinden lässt. Der Student begreift, dass es da draußen im Netz Gleichgesinnte gibt. Fortan nennt er sich "Cyber-Dissident".
"Wir haben die tunesischen Netz-Behörden in einen Krieg verwickelt, einen Nervenkrieg. Ich habe alle möglichen Seiten kopiert und dann veröffentlicht, die ich lesen konnte, die aber in Tunesien zensiert waren. Das hat sie wahnsinnig gemacht. Ich habe später aus dem Innenministerium gehört, dass da wohl ganze Trupps von IT-Ingenieuren damit beschäftigt waren, mir quasi hinterherzuwischen und meine Kommentare zu löschen. Ich muss sagen, das hat mich schon sehr gefreut. Damals hätte ich nie gedacht, dass es mal soweit kommen würde!"
Aber er merkt schnell, wie er mit seinen regimekritischen Kommentaren die Vereinzelung überwinden kann: Niemand ist mehr allein. Hunderte, Tausende teilen seine Meinung, seine Ablehnung des Systems. Der Einzelne, sagt Sofiane, kann plötzlich Teil der Mehrheit sein. Der Schwache wird plötzlich stark. Inzwischen ist Sofiane Ben Haj nach Tunesien zurückgekehrt, will näher bei seinem kranken Vater sein. Als "Hamadi Kaloutcha" kämpft er weiter im Netz.
Dass Ben Ali während seines Präsidentschaftswahlkampfes 2009 Facebook zensieren lässt, bringt die Cyber-Dissidenten nicht aus der Ruhe. Findige Hacker wissen, wie sie um die Blockaden herumkommen. Ihr größter Feind wird die Zensurmaschine, bald nur noch "amar404" genannt.
Wikileaks auf Französisch und Arabisch übersetzt
"So richtig gekippt ist das Regime mit Wikileaks. Ich habe die Informationen auf Französisch und Arabisch übersetzt und auf meiner Facebook-Seite veröffentlicht. In einer einzigen Nacht wurde sie 17.000 Mal angeklickt."
Am 30. November 2010 posted er bei Facebook:
"1055 Wikileaks-Dokumente! Die da draußen wissen: Ben Ali ist alt und krank, die Trabelsi-Familie lebt in Saus und Braus. Die legen sogar das Privatvermögen des Clans offen: Mehrere Milliarden Dollar! Yachten, unzählige Immobilien, Luxusautos, Firmennetzwerke, und so weiter! Leute, worauf wartet die Opposition? Vernetzt Euch!"
"Wir begriffen, dass die sogenannte Erste Welt genau so über den Ben Ali-Clan dachte, wie der kleine Tunesier auf der Straße! Dass diese Familie das Land plündert, dass sie in unfassbarem Reichtum lebt, in Schlössern, mit Tigern und allem möglichen Luxus. Sogar die USA wandten sich von Ben Ali ab – und dann stand das Regime sozusagen nackt da. Es brauchte nur noch einen Funken, um das Lügengebäude zum Einsturz zu bringen, der Boden war bereitet."
Wenige Tage später übergießt sich in der trostlosen Provinzstadt Sidi Bouzid der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin und zündet sich auf offener Straße an. Ein Akt der Verzweiflung eines 26-Jährigen, der die entwürdigende Armut, die Demütigungen der Behörden nicht mehr erträgt. Bouazizis Selbstverbrennung bringt die Massen schließlich auf die Straßen, Demonstranten liefern sich blutige Kämpfe mit den Sicherheitskräften, Ben Ali lässt sein Volk von Scharfschützen töten. Die Revolte erfasst vom Landesinneren aus die Hauptstadt Tunis.
"18.12.2010 Eintrag Kaloutcha. Die Stadt ist in Flammen. Überall Sandsäcke, Panzerfahrzeuge, Barrikaden. Schüsse, Tränengas. Schwarz gekleidete Massen in den Straßen, Frauen und Kinder. Panik bricht aus, genau um 20.03 Uhr. Jemand ruft: Bouazizi ist tot. Ein Abgrund hat sich geöffnet."
Vier Nächte in einem Grab
Unermüdlich postet er als Kaloutcha Handy-Videos der Demonstrationen, Fotos von Patronenhülsen und Tränengaskartuschen. Ironisch kommentiert er Ben Alis verzweifelte Fernsehansprachen, in denen der Diktator halbherzig Reformen verspricht. Dann wird seine Seite von Ben Alis Hackern angegriffen. In der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 2011 verstummt Kaloutcha. Sofiane Ben Haj wird von der Geheimpolizei abgeholt. Vier Nächte, erzählt er später, verbringt er in einem Grab.
"Es war ekelhaft. Diese Leute haben mich glauben lassen, dass sie gerade in meinem Haus meine Frau vergewaltigen. Sie haben mir meine Kleidung weggenommen und mir Angst gemacht, dass ich auch bald drankomme ... "
Wer ihn verraten hat, weiß er bis heute nicht – er vermutet aber, dass die Behörden ihm schon damals in Belgien auf der Spur waren. Mit Hilfe des französischen Geheimdienstes, der lange dem Ben-Ali-Regime zuarbeitet. Als Sofiane am 11. Januar wieder frei ist, nennt er auf seiner Facebook-Seite seinen Klarnamen. Er will sich nicht mehr verstecken.
Am 14. Januar 2011 flieht Ben Ali aus Tunesien. Einen Tag später schreibt Sofiane:
"Vergesst den Ruf 'Nieder mit der Diktatur'. Ab sofort heißt es 'Auf geht's zur Demokratie!'"
Fünf Jahre nach Beginn der Proteste wird das tunesische Dialogquartett mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Es hatte nach dem Volksaufstand den "nationalen Dialog" zwischen Islamisten und ihren Gegnern organisiert und "mit großer moralischer Autorität entscheidend zum Aufbau einer pluralistischen Demokratie" beigetragen, heißt es in der Begründung. Doch Sofiane Ben Haj ist verbittert – im Rückblick fühlt er sich selbst und die Revolution der Tunesier von Europa verraten. Seine Facebook-Seite betreibt er weiter unter dem Namen Kaloutcha, hat immer noch 5000 Facebook-Freunde, aber an den politischen Debatten nimmt er nicht mehr teil. Interviews gibt er kaum. Sorgen macht er sich im Stillen um die frustrierte, arbeitslose Jugend Tunesiens, um den schwachen Staat, der obendrein noch vom islamistischen Terror bedroht ist. "Demokratie kann man nicht essen", sagt Sofiane Ben Haj . "Aber wir haben es geschafft, einen mächtigen Fluss in die entgegengesetzte Richtung fließen zu lassen":
"Tunesien steckt in einem demokratischen Prozess. Klar, wir haben Wahlen und eine Regierung und so weiter, aber wir stehen noch ganz am Anfang von etwas Neuem. Wir haben uns zwei wichtige Dinge erkämpft: Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Diese beiden Waffen sind entscheidend für unseren Kampf. Von nun an ist es möglich, unseren Traum weiter zu träumen und weiterzugehen - in Richtung Demokratie."