Cynthia Fleury: "Die Klinik der Würde"

Jenseits der Empörung

Buchcover: Cynthia Fleury: Die Klinik der Würde (rote Schrift auf grünem Grund).
© Suhrkamp

Cynthia Fleury

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

Die Klinik der WürdeSuhrkamp, Berlin 2024

150 Seiten

24,00 Euro

Von Jens Balzer |
Nicht nur in Pflegeheimen gilt: Das Versprechen der "Würde" wird permanent enttäuscht – und füttert damit das Ressentiment, so die Philosophin Cynthia Fleury. Sie will die Entwürdigten aus ihrer Opferrolle befreien. Ob das reicht?
Dass alle Menschen die gleiche Würde besitzen, das ist ein Leitsatz der Aufklärungsphilosophie. Der politischen Moderne gilt es als Ideal, die Würde jedes einzelnen Menschen zu verteidigen. Und das deutsche Grundgesetz beginnt mit dem Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Das ist ein großes Versprechen. Leider ist es auch eines, das immer öfter enttäuscht wird. Das ist die Diagnose, die Cynthia Fleury in ihrem neuen Essay "Die Klinik der Würde" aufstellt. 
Im gesellschaftlichen Leben der Gegenwart werden die Wünsche nach einem würdevollen Dasein immer dringlicher und vielfältiger artikuliert, schreibt sie. Gruppen wie "Black Lives Matter" fordern die Würde ein, die ihren Angehörigen verweigert wird; wir reden über ein würdiges Altern, ein würdiges Sterben, wir wollen den Tieren ihre Würde zurückgeben und suchen nach einem würdevolleren Verhältnis zur Natur und zum Planeten. Diese Würde-Bekundungen sind das eine.
Auf der anderen Seite drängen unsere Gesellschaften immer Menschen an ihren Rändern in ein Dasein der Unwürde ab: etwa all die Geflüchteten, die in Lager eingepfercht und dort ihrer bürgerlichen und Menschenrechte beraubt werden. Unwürdig ist auch das Dasein vieler Pflegebedürftiger, die in schlecht ausgestatteten Institutionen von unterbezahlten Care-Arbeiterinnen eher verwahrt als versorgt werden. Den Patienten wird die Würde hier ebenso genommen wie ihren Pflegerinnen und Pflegern. In der "Dirty-Care"-Arbeit, zu der diese verdammt sind, zeigt sich das Würde-Defizit unserer Zeit wie unter einem Brennglas.

Befreiung aus der Opferrolle

Cynthia Fleury ist Philosophin und praktizierende Psychoanalytikerin an einem Krankenhaus in Paris. Deswegen liegt ihr nicht nur das Schicksal pflegebedürftiger Menschen und ihrer Pfleger nah. Sie betrachtet ganz allgemein philosophische Fragen aus einer therapeutischen Perspektive, das macht ihre Essays so interessant.
"Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung" hieß ihr voriges Buch, mit dem sie 2023 auch in Deutschland bekannt wurde. Darin analysierte sie das Ressentiment als Gefühl, das Menschen, die sich zu wenig geschätzt fühlen, dazu bringt, sich autoritären Politikformen zuzuwenden. Diese Menschen könnten sich nicht aus ihrer Bitterkeit befreien, schrieb sie damals. Um sie davon zu heilen, müsse man sie aus ihrer Opferrolle, aus ihrer Verhaftung in der Vergangenheit lösen; man müsse ihnen zeigen, was ihre Möglichkeiten sind, dann könne es ihnen gelingen, sich in die Zukunft zu entwerfen.

Die eigene Würde und die Würde der Anderen

In ähnlicher Weise umkreist Fleury in ihrem neuen Buch nun den Begriff der Würde. Dass das Versprechen der modernen Gesellschaft auf ein würdiges Leben so oft enttäuscht wird, das führe zur Ausbreitung der Angst vor dem Abgleiten in Unwürde; diese Angst artikuliere sich vor allem in Gestalt der Empörung. Was einerseits nützlich sein könne, weil kollektive Empörung den Menschen dabei helfe, sich im Unmut gegen falsche Verhältnisse zu versammeln – siehe wiederum: Black Lives Matter. Doch führe Empörung allzu oft auch bloß zur Entstehung eines – da haben wir es wieder – generellen Ressentiments, einer Feindseligkeit gegen die Verhältnisse, in der die Menschen sich lediglich einrichten – ohne, dass daraus eine Idee erwächst, wie man diese Verhältnisse ändern kann.
Was tun? Fleury möchte den Menschen zu Bewusstsein bringen, dass ihre eigene Würde immer auch mit der Würde der anderen verbunden ist; sie möchte all den Entwürdigten ins Bewusstsein rufen, dass sie ein gemeinsames Schicksal teilen; dass sie sich also nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen; und dass sie all jenen, die für die unwürdigen Verhältnisse verantwortlich sind, demonstrieren müssen, dass sie selber dadurch ihre Würde verlieren.

Kampf um Deutungshoheit

Man liest Fleurys Reflexionen über die Würde – wie schon ihr Buch über das Ressentiment – mit großem Interesse, weil sie es versteht, weite geistes- und gesellschaftsgeschichtliche Bögen zu schlagen hin zu einer Analyse der Gegenwart; und weil sie den Blick auf das Individuelle stets mit jenem auf die Gesellschaft verbindet. Für sie ist die Therapie des entwürdigten Individuums dann erfolgreich, wenn es begreift, dass es sich nicht in seiner Opferrolle einrichten darf, sondern dass es in Aktion treten muss gegen die Autoritäten, die es in unwürdige Verhältnisse zwingen.
Hier freilich hat ihr Essay eine Leerstelle: Was ist denn – fragt man sich – mit jenen autoritären Kräften, die die Anrufung der Würde gerade zur Festigung ihrer Herrschaft zu benutzen versuchen? Also jenen, die die Würde der Nation, der ethnischen Homogenität, die Würde der Religion und also dogmatischer Denksysteme beschwören, um damit – eben – ein Ressentiment zu schüren, gegen all jene, die sich diesen Dogmen und Autoritäten widersetzen? Fleury übersieht, dass eine Philosophie der Würde nicht allein auf die Therapie der Individuen zielen kann – sondern dass es gerade heute ihre Aufgabe ist, in den Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheit zu treten. Und die Frage zu stellen, was ein richtiges und was ein falsches Verständnis von Würde ist.
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