Ein Klassiker, der aus dem Rahmen fällt
In der Inszenierung von Leander Haußmann gerät Edmond de Rostands "Cyrano de Bergerac" zum echten Glücksfall. Das liegt auch daran, dass er sich für die Premiere am Hamburger Thalia-Theater die Unterstützung von Choreographie-Legende Klaus Figge und von Übersetzer Frank Günther geholt hat.
An Hamburgs Thalia Theater lässt Leander Haußmann Edmond de Rostands "Cyrano de Bergerac" den Degen und die poetische Feder blank ziehen. Und kaum sonst taucht ja das Theater derart tief ins vorvorvorgestern ein wie gerade mit diesem klassischen Stoff, den Edmond de Rostand 1897 für die Theaterbühne formte: als ziemlich zerrissenes Wesen. Einer körperlichen Besonderheit wegen nämlich (die Nase ist übermäßig groß) bleibt sein Werben um die schöne Cousine Roxane unerhört; die aber ihrerseits einen jüngeren, viel schöneren und exzeptionell dümmeren Mann erhören will.
Dieser Christian hat zwar den schönen Körper, kann dafür aber weder gut reden noch gar gut schreiben. So leiht der Titelheld diesem perfekten Körper den einen eigenen perfekten Geist – und weil das natürlich praktisch sehr komisch ist, muss es tragisch enden. Denn die Wahrheit, unabweisbar spätestens im Tode, macht alle zu Betrügern und Betrogenen zugleich.
Aus dem Rahmen fällt der Klassiker aber vor allem durch ein Requisit, das in längst vergangenen Zeiten als Requisit zwingend zum Theater und auf die Bühne gehörte: Cyrano prügelt sich gern mit dem Degen. Und er siegt immer, auch allein gegen alle … und im Grunde steht er auch geistig genau so in der Welt: unvereinbar mit niemandem und nichts, frei.
Extrem elegant übersetzt
Noch immer gibt es ein paar wenige Theatermenschen, die Gefechte auf der Bühne choreographieren können - Klaus Figge ist die Legende in diesem Metier, 75 wird er im Mai. Seit 1971 unterrichtet der gebürtige Essener an der Folkwangschule seiner Heimatstadt Bühnenkampf – und wer ihn zur Seite hat, kann sich auch "Cyrano de Bergerac" nähern. Leander Haußmann hat in Hamburg dieses Glück gehabt und auch deshalb gelingt, mit Meister Figge, der tiefstmögliche Sprung hinein in die Vergangenheit.
Noch ein Glücksfall ist am Hamburger Thalia Theater zu bestaunen: die Übersetzung von Frank Günther. Sie verpasst Rostands Versen immens viel Zeitgenossenschaft, und auch die strenge Versform handhabt der Übersetzer derart elegant, dass jeder tatsächlich extrem genau gesetzte Vers-Reim wie zufällig zu stehen kommt im gesprochenen Text. Haußmann nun dreht die Schraube noch ein bisschen weiter – in den Wort-Gefechten, die Finten, Hieb und Stich mit den Degen gegenüber stehen, lässt er die Kämpfer gern mal ein wenig aus der Rolle fallen und über das eigene Tun, den eigenen Zustand räsonnieren.
Ein sehr überzeugender Abend
Gleich zu Beginn spiegelt die Bühne von Theresia Anna Ficus per Video den realen Thalia-Zuschauerraum; später, in Rostands schöner Parodie auf die Balkonszene von "Romeo und Julia", wird die real beschworene Geliebte zugleich auf Balkon-Brüstungen oberhalb der Bühne projiziert. Im übrigen ist ein großer kahler Lebensbaum das zentrale Requisit; in dessen Zweige hinein steigt Cyrano im Tode, als alle Finten geschlagen, alle Lügen aufgeflogen sind. Und die Geliebte, die nun weiß, wer sie so schön bedichtet und belogen hat, steigt ihm nach.
Jens Harzer, einer der zentralen Protagonisten am Thalia Theater, bewältigt die Gebirge von Text in diesem Stück immer wie unter Überdruck – weil er nicht sprachlos sein will und darf, setzt er auf Atemlosigkeit. Was durchaus auch anstrengend ist; für ihn und für uns: Harzer zwingt diesen Cyrano unter das Mantra ständiger Überforderung.
Und wie von sehr weit her und aus unsagbar weit entfernten Zeiten führt uns das Theater mit ihm und dem energischen Ensemble an diesem sehr überzeugenden Abend beharrlich an die Quellen zurück – wie große Kinder, die noch einmal alte Träume träumen dürfen. Wo sonst ist das möglich?