"Der Film verändert die Leute"
In Frankreich wurde "Tomorrow" mit dem César als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet und zum Publikumsliebling. Eine Million Zuschauer haben ihn dort bereits gesehen. Nun läuft der Film auch bei uns an: Wir haben mit Regisseur Cyril Dion gesprochen.
Susanne Burg: In Frankreich wurde "Tomorrow" mit dem Filmpreis César als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet und zum Publikumsliebling: eine Million Zuschauer haben ihn dort bereits gesehen. Nun läuft "Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen" auch bei uns an. Ein Dokumentarfilm, der sich mit nichts Geringerem als dem Untergang der Welt beschäftigt, der ökologischen Katastrophe durch die Folgen des Klimawandels, der Globalisierung und Überbevölkerung. Anders als andere Filme sucht er aber nach Lösungen. Die Schauspielerin Mélanie Laurent und der französische Aktivist Cyril Dion haben sich auf den Weg gemacht und weltweit Projekt und Initiativen besucht, die alternative ökologische und wirtschaftliche Ideen verfolgen.
Mein Vollbild-Kollege Patrick Wellinski hat Cyril Dion getroffen und ihn zunächst danach gefragt, ob es einen Ausgangspunkt gab, ein Erlebnis, das ihn dazu gebracht hat, diesen Film zu machen.
"Ich muss jetzt diesen Film machen"
Cyril Dion: Na ja, das klingt jetzt nicht sehr originell, aber ich wollte diesen Film zunächst machen, weil ich einige Jahre vorher eine NGO gegründet und festgestellt hatte, dass es nicht ausreicht, den Leuten "nur" all die Katastrophen zu zeigen, wenn man will, dass sie sich bewegen und etwas verändern. Das war eine Art Ausgangspunkt. Dann hatte ich 2012 einen Burnout. Damals las ich einen Artikel über das mögliche Kollabieren der Welt in den nächsten Jahrzehnten. Der Text bezog sich auf eine Studie von 22 Wissenschaftlern.
Sie malten aus, dass wir einen Punkt erreichen, an dem alle unsere Probleme, wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, Abholzung etc. zusammen treffen. Und wenn wir in den nächsten 20 Jahren nichts unternehmen, könnte ein Teil der Menschheit zum Ende dieses Jahrhunderts verschwunden sein. Mein persönlicher Zusammenbruch traf also auf den möglichen Zusammenbruch der Gesellschaft, und das war der Moment, an dem ich dachte: "Ich muss jetzt diesen Film machen."
Patrick Wellinski: Sie besuchen unterschiedliche Orte und Menschen, die schon einmal den Ernstfall erproben mussten, die die Folgen von Überbevölkerung und Globalisierung erlebt haben, also sie sind zum Beispiel in Detroit, der ehemaligen Automobilstadt, jetzt in der Krise, wo zum Beispiel Urban Gardening Projekte blühen – ähnlich ist es auch in England – wie haben Sie aber diese Orte ausgesucht, von denen Sie dann wussten, die möchte ich besuchen?
Cyril Dion: Zehn Jahre lang habe ich in der NGO daran gearbeitet, Lösungen und Auswege zu suchen. Ich gründete ein Magazin zu diesen Themen - ich bin in Frankreich auch Verleger - und schrieb ein Buch. Schließlich wollte ich einzelne Fälle raussuchen, die erfolgreich genug waren, um auch Skeptiker zu überzeugen, und solche, die den Kapitalismus in Ordnung finden. Wir haben nach guten Protagonisten gesucht, nach Leuten, die motivieren, die lustig sind, irgendwie gut aussehen, und schließlich haben wir den Fokus auf Initiativen in der westlichen Welt gerichtet.
Immerhin hat die westliche Welt, besonders die USA, so lange Zeit die Geschichte verbreitet, dass unser System das beste ist, und alle so leben sollten. Viele Länder, viele Menschen wollen aber diesen unseren Lebensweg nicht mehr weitergehen. Es muss sich etwas ändern. Die Leute sollen den Film sehen und sagen "ok, diese Leute sehen aus wie ich, das könnte meine Stadt sein, ich könnte so leben wie sie". Wenn man zum Beispiel großartige Initiativen in Afrika oder China sieht, sagt man sich, oh, das ist großartig, aber naja, das ist Afrika, das könnte hier so nicht laufen.
Patrick Wellinski: Trotzdem sind Sie ja an diese Orte mit einer gewissen Erwartungshaltung gekommen. Wie hat sich denn diese Erwartungshaltung verändert, als Sie den Menschen begegnet sind, als Sie die Orte besucht haben?
Cyril Dion: Die hat sich nicht sehr verändert. Wir sind nicht enttäuscht worden, von keinem der Orte, die wir besucht haben. Aber wir haben vorher auch viel recherchiert und Leute getroffen, die schon vor uns dort waren. An manchen Orten war ich selber schon auf der Suche nach Drehorten. Manchmal sind unsere Erwartungen sogar übertroffen worden. Besonders, was die Menschen betrifft. Überall erwarteten wir, auf spektakuläre Dinge zu stoßen, wie riesige Solar-Panele, Schafe auf dem Dach und so weiter, aber so war es nie. Wir mussten uns den Geist jeder Initiative vor Augen führen und eine Beziehung zu den Leuten aufbauen – das war der beste Teil der Arbeit.
Patrick Wellinski: Man hört schon raus, Sie sind sehr lösungsorientiert, würde man auf Deutsch sagen. Sie sind aber auch sehr optimistisch und ich finde, das zeigt sich auch in dem Film, aber warum sind Sie denn bei einer Ausgangslage, die ja sehr böse ist, denn es geht um das Ende der Welt oder einen gewissen Lebensstil, den wir alle zur Zeit führen – woher kommt denn dieser Optimismus?
"Wir müssen uns bewegen"
Cyril Dion: So optimistisch bin ich gar nicht. Aber wir müssen uns bewegen. Wir haben jahrelang viele Dokumentationen gesehen, die erklären, was alles schief läuft in der Welt. Doch das reicht nicht. Wir müssen nach vorne gehen. Und das heißt: Welche Schritte? Was können wir tun? Dieser Film sollte eine Art Antwort auf diese Fragen sein. Und wenn wir wirklich nur 20 Jahre haben, um zu reagieren, wie die Wissenschaftler sagen, werden wir viel Energie, viel Enthusiasmus und Kreativität brauchen. Wir wollten, dass die Leute das nach der Vorführung spüren. Wir wollten, dass sie rausgehen und denken: "Ich kann alles machen, ich will die Welt verändern." Und das passiert tatsächlich auch in Frankreich und in einigen anderen Ländern, in denen der Film gezeigt wird.
Patrick Wellinski: Ist das vielleicht auch ein Grund, warum Sie die Form des Films als Roadmovie angelegt haben? Ich glaub, dass engagiert die Leute viel mehr ...
Cyril Dion: Genau. Wir wollten viele Merkmale eines Spielfilms drin haben, nicht einfach nur einen Dokumentarfilm machen. Wir wollten, dass die Leute Spaß haben, wenn sie den Film sehen. Deshalb tauchen wir selber im Film auf, damit sich die Leute mit uns identifizieren können und auf diese Reise um die Welt mitkommen. Wir haben viel Musik verwendet, sie ist ein wichtiger Bestandteil, sie funktioniert wie ein Protagonist des Films. Wir wollten, dass die Musik all diese Leute und Orte zusammenbringt, und dass sie die Emotionen unterstützt.
Patrick Wellinski: Sie arbeiten in dem Film mit Melanie Laurent, der Schauspielerin, zusammen. Wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet, wie ist sie entstanden? Und was konnte sie in den Film einbringen?
Cyril Dion: Ich habe sie 2011 getroffen. Sie wollte sich an einer Kampagne beteiligen, die ich für meine NGO gestartet hatte. Wir wurden Freunde. Und sie wollte diese großartigen Initiativen sehen, die überall auf der Welt entstanden waren. Also nahm ich Melanie Laurent mit zu dieser Permakultur-Farm, die wir im Film zeigen, und ihr gefiel das sehr. Während der Fahrt haben wir festgestellt, dass wir die gleichen Bücher mögen, die gleiche Musik und die gleichen Filme. Ein paar Monate später hatte ich Schwierigkeiten, das Geld für den Film zusammenzubekommen. Ich rief sie an und fragte: "Warum machen wir das nicht zusammen?" Und sie hat sofort zugestimmt, weil sie selber so dringend etwas tun wollte, nicht nur ihren Namen geben, sondern auch das tun, was sie gut kann, also Filme machen.
Patrick Wellinski: Sie haben gerade die Finanzierung angesprochen – wie schwer war es denn "Tomorrow" zu finanzieren? Ich habe gelesen, Sie haben zum Teil auch auf Crowdfunding zurückgegriffen.
Cyril Dion: Tatsächlich wollte niemand den Film finanzieren – eine Dokumentation für's Kino ist immer so eine Sache: "ach, das ist schwierig, da kommt nicht viel Geld bei rein, warum machst Du das nicht für's Fernsehen" oder "ja, das ist eine gute Idee, aber ... ". Für uns war klar, den Film müssen wir einfach drehen! Wir standen in Kontakt mit dem französischen Umweltminister und er bat uns, den Film beim COP-21, dem Klima-Gipfel in Paris, zu zeigen. Das war 2014, wir hatten nicht viel Zeit und mussten im Sommer drehen, denn im Winter läßt sich zum Beispiel bei der Landwirtschaft nicht viel zeigen. Also baten wir die Leute, die den Film wollten, ihn auch zu finanzieren. Wir wollten in zwei Monaten auf 200.000 Euro kommen und haben diese Summe in nur drei Tagen zusammengekriegt.
Nach zwei Monaten hatten wir ungefähr 450.000 Euro – das ist der Crowdfunding-Weltrekord für einen Dokumentarfilm! Und plötzlich sind alle potentiellen Partner und Fernsehsender, die den Film zuerst nicht unterstützen wollten, zurückgekommen und sagten "also, das ist doch ein tolles Projekt, vielleicht sollten wir auch mitmachen, was meinen Sie?" – und so haben wir den Rest zusammenbekommen.
Patrick Wellinski: Jetzt ist der Erfolg ja da. Allein in Frankreich mittlerweile glaube ich über eine Million Zuschauer, Sie haben den César als bester Dokumentarfilmer gewonnen. Dass Sie der Erfolg freut, ist klar, aber sind Sie denn erstaunt über diesen Erfolg?
"Ich bin begeistert von der Reaktion der Leute"
Cyril Dion: Nein. Wir hatten ja gehofft, ein großes Publikum zu erreichen, weil wir einen Mainstream-Film machen wollten und keinen Film für Aktivisten. Andererseits doch, denn eine Million Zuschauer bei einem Dokumentarfilm in Frankreich sind in der Tat sehr viele. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber in Frankreich ist das ein Riesenerfolg. Dass es so gut laufen würde, hätten wir nicht gedacht – der Film ist jetzt in 30 Länder verkauft worden und auch das ist eine große Überraschung. Manche Leute in Frankreich haben uns gefragt, "warum fahrt Ihr in zehn verschiedene Länder und sucht keine französischen Beispiele raus?". Wir haben geantwortet, dass wir auch wollten, dass Leute außerhalb Frankreichs den Film sehen und ein Film mit ausschließlich französischen Beispielen zieht Leute aus Finnland oder den USA vielleicht nicht so sehr an. Und es funktioniert tatsächlich. Ich bin begeistert von der Reaktion der Leute, zum Beispiel in Algerien, oder in Spanien, in den USA, in Schweden, es ist überall sehr ähnlich, die Leute kommen mit einem Lachen und mit Enthusiasmus aus dem Kino. Sie sind wirklich dankbar dafür, dass wir ihnen in dieser deprimierenden Welt Hoffnung gegeben haben.
Patrick Wellinski: Jetzt stellt sich natürlich abschließend die Frage – kein Film wird die Welt verändern, nur die Menschen, die ihn sehen, werden sie verändern können – was erwarten Sie denn vom Publikum? Haben Sie überhaupt Erwartungen? Wie sollen sie reagieren, wenn sie aus dem Film rausgehen?
Cyril Dion: Es passiert tatsächlich in Frankreich, Belgien und der Schweiz, dass wir jeden Monat Hunderte von Briefen bekommen von Zuschauern, die uns erzählen, was sie nun tun, nachdem sie den Film gesehen haben. Einige haben zum Beispiel mit städtischen Gartenprojekten begonnen, andere richten ihre Jobs neu aus. Wir haben auch zwei Bücher gemacht, eins für Erwachsene und eins für Kinder. Die Leute versuchen herauszufinden, wie sie ihr Kaufverhalten ändern können, wie sie sich anders ernähren können, manche wechseln zu einem Öko-Stromanbieter. Letzten Monat habe ich eine Frau in Belgien getroffen, die mir erzählte "Wissen Sie, ich habe 25 Jahre lang intensive Viehzucht mit Milchkühen betrieben. Dann habe ich Ihren Film gesehen und gedacht, ich will das schon so lange so machen wie bei der Permakultur. Und jetzt habe ich alles verändert. Ich habe meine Farm verlassen, mich von meinem Mann getrennt und fange an Permakultur zu lernen – ich möchte alles verändern!" Das ist vielleicht ein bisschen schräg, aber eben auch unglaublich. Ich denke nicht, dass der Film die Leute grundsätzlich verändert, aber er hilft, Seiten von ihnen hervorzubringen, die sie ohnehin schon in sich haben.
Susanne Burg: Der französische Aktivist Cyril Dion im Gespräch mit Patrick Wellinski. Dions Film "Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen" läuft jetzt bei uns in den Kinos. Sein Künstlername klingt französisch, aber er kommt aus Gießen: "L'aupaire", bürgerlich: Robert Laupert.