"Für uns ist die documenta ein Zeichen von Solidarität"
Für Griechenland sei die documenta ein wichtiges Ereignis, sagt die griechische Kulturministerin Lydia Koniórdou. Denn in Krisenzeiten helfe die Kunst dabei, Standpunkte zu finden, um den Problemen zu begegnen.
Britta Bürger: Welche Bedeutung, Lydia Koniórdou, hat die documenta für die Stadt Athen?
Lydia Koniórdou: Es ist ein wichtiges Ereignis, nicht nur für Athen, sondern für das ganze Land. In Griechenland passiert gerade etwas äußerst Interessantes, etwas äußerst Bedeutendes. Trotz der Krise und vielleicht auch aufgrund der Krise, gibt es viele kreative Gegenbewegungen, vielseitige künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten, die sich nicht nur bei den Kulturschaffenden selbst finden lassen, sondern auch bei den Betrachtern.
In diesen schwierigen Zeiten ist dies wie ein künstlerischer Widerstand. Für uns ist die documenta ein Zeichen von Solidarität und Anerkennung für unsere Anstrengungen, die Freiheit des Wortes, des Ausdrucks und des Geistes lebendig zu halten. Deshalb ist die Präsenz der documenta in Griechenland und auch die Bespielung der zahlreichen öffentlichen Orte der Stadt und natürlich des Nationalmuseums für Zeitgenössische Kunst von großer Bedeutung.
Schmerzhafte Diktaturerfahrung
Britta Bürger: Was kann Kunst in dieser krisengeschüttelten Zeit bewirken?
Lydia Koniórdou: In Krisenzeiten begreift jeder einzelne, dass er sich auf die Suche nach neuen Antworten machen muss. Oder er muss die Fragestellungen neu formulieren. Das alles hat mit Ideen, Gedanken, mit dem Geist zu tun. Die Kunst gibt diesen Gedanken und Überlegungen einen Rahmen. In Krisenzeiten können die Menschen durch die Kunst und die Kultur einen Standpunkt finden, um den Problemen, Krisen und Herausforderungen zu begegnen.
Britta Bürger: Demokratie und Diktatur - die documenta setzt sich mit diesen Begriffen auseinander. Was meinen Sie? Hat sich die griechische Gesellschaft Ihrer Ansicht nach ausreichend mit Ihrer jüngeren Zeitgeschichte auseinandergesetzt, der Nachkriegszeitgeschichte?
Lydia Koniórdou: Wir haben in Griechenland schmerzhaft erfahren, was Diktatur bedeutet. Aber der Kern einer Diktatur lässt sich auch dort finden, wo ihn niemand erwartet, an geheimen Stellen. Die Wachsamkeit der Bürger ist notwendig, um sich nicht durch Konformität, Bequemlichkeit und Aufschub einer Sache zu beugen. Den Bürgern müssen die Gefahren, denen die Demokratie ausgesetzt ist, bewusst sein.
Die Demokratie muss man sich immer wieder erkämpfen und neu entdecken. Denn sie stützt sich auf den Dialog. Der Dialog ist der Kern der Demokratie. Doch wie Heraklit schon im 6. Jahrhundert vor Christus gesagt hat, ist die Demokratie wandelbar. Der Demokratieprozess ist somit das einzig Wahre, und seinen Weg in der Geschichte findet man nur durch den Dialog. Die Bürger müssen also auch mit der eigenen Geschichte stets im Dialog sein, Kühnheit beweisen und sich alles vergegenwärtigen.
Für das "Wir" kämpfen
Britta Bürger: Was könnte die documenta von Athen lernen?
Lydia Koniórdou: Das, was das moderne Griechenland zeitlos in seinem Kern mit sich trägt. Griechenland ist ein Treffpunkt verschiedener Kulturen, verschiedener Ideen, ein Ort, an dem der Dialog immer eine besondere Intensität erfährt. Wir befinden uns in einem Land, in dem man sich vor dem Konflikt nicht fürchtet. Oft erfährt der Dialog in diesem Land eine besondere Intensität. In unserer Sprache, die eine Weiterentwicklung des Altgriechischen ist, und in Athen kann man die Zeitreise durch die Geschichte förmlich spüren. Und ich meine nicht nur die antiken Stätten, die ein sichtbares und greifbares Indiz der Geschichte sind, sondern auch durch die Mentalität und das Verhalten der Menschen.
Es gibt viele Dinge, die uns mit der jüngsten Vergangenheit und der Antike verbinden. Ich glaube, das ist ziemlich wichtig und man kann dadurch viel erfahren. Denn im 5. Jahrhundert vor Christus setzte eine Entwicklung ein, die das "Wir" auf das "Ich" reduziert. Heute aber leben wir in einer Zeit, wo wir - verstärkt durch die internationalen Netzwerke - versuchen, das "Ich" zum "Wir" zu erheben. Wir kämpfen für das "Wir", um es der Mehrheit zu geben und nicht den Wenigen.