"Da muss man Sitzfleisch mitbringen"

Kirsten Brodde im Gespräch mit Dieter Kassel |
Kalt, nass und unangenehm: Wer demonstrieren geht, braucht Mut uns muss seine Ängste überwinden, sagt die Politaktivistin Kirsten Brodde. Sie ist Autorin des Buchs "Protest! Wie ich die Welt verändern und dabei auch noch Spaß kann".
Dieter Kassel: Zehntausende Menschen, 50.000, vielleicht noch mehr, werden am Wochenende in Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen wieder gegen die Transporte von Atommüll in das Zwischenlager Gorleben protestieren. Da werden mit Sicherheit einige dabei sein, die das schon seit Jahrzehnten tun, alte Hasen, aber es werden auch viele dabei sein, für die ist das etwas völlig Neues, wirklich auf die Straße zu gehen, ein Transparent hochzuhalten und vielleicht noch viel mehr zu machen, um zu zeigen, dass sie für, oder in dem Fall eher gegen etwas sind. Das ist nicht ganz so einfach, wie auch die Menschen in Stuttgart, die Menschen, die dort gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 protestieren, gemerkt haben. Das hat zur Folge, dass einem natürlich inzwischen, wenn man das denn möchte, auch geholfen wird.

Wenn man so weit ist, dass man so eine Schulung mitmacht, dann hat man sich eigentlich schon ziemlich fest entschlossen und ein ziemlich konkretes Bild im Kopf, was man machen will, aber das hat vielleicht auch noch nicht jeder, der sich jetzt überlegt, zum Beispiel ab morgen in Gorleben gegen die Atommülltransporte in das Zwischenlager zu protestieren.

Viele, ich habe es schon gesagt, werden dabei sein, die große Erfahrungen haben, aber viele haben keine, und haben sich trotzdem entschlossen, jetzt endlich mal zu zeigen, welche Meinung sie haben. Wie man protestieren kann, welche Formen es gibt des Widerstandes gegen Dinge, mit denen man nicht einverstanden ist, das kann man unter anderem nachlesen in dem Buch "Protest!: Wie ich die Welt verändern und dabei auch noch Spaß kann". Dieses Buch geschrieben hat Kirsten Brodde, selbst Journalistin, Aktivistin seit langer Zeit, hat unter anderem zehn Jahre lang für Greenpeace gearbeitet, lebt in Hamburg, und ist jetzt da für uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Frau Brodde!

Kirsten Brodde: Guten Morgen!

Kassel: Können Sie sich noch an Ihre allererste Demo erinnern?

Brodde: Ja, auf jeden Fall, und ich weiß genau, dass ich Mut dafür brauchte, weil ich wusste: Jetzt muss ich physische Präsenz zeigen, ich muss möglicherweise Diskussionen aushalten können und Paroli bieten. Und ich wusste: Dabei riskiert man was, und ich fand es eine gute Idee, sich darauf vorzubereiten.

Kassel: Wie haben Sie sich denn darauf vorbereitet damals?

Brodde: Ich glaube, wir haben vorher sozusagen einfach mal im Rollenspiel geübt sozusagen, was sagt man eigentlich, wie fühlt man sich, und haben das trainiert. Und das halte ich prinzipiell einfach für eine gute Idee, weil nicht nur, dass man gar körperlich vor Ort ist, man hat ja vor allen Dingen mental einiges auszuhalten. Und ich denke, es ist ganz gut, man macht es einfach wie bei vielen anderen Dingen auch und übt sich damit im Rollenspiel, probiert mal, ob man erklären kann, warum man dort eigentlich steht, und das bitte in überschaubarer Zeit und nicht drei Stunden dafür brauchen, weil dann sind alle schon wieder weg, die man möglicherweise für sein Anliegen interessieren möchte.

Kassel: Haben Sie denn darüber nachgedacht – Sie haben ja gerade selber gesagt, man braucht Mut, ich darf das vielleicht auch mal anders formulieren, man muss auch eine gewisse Angst überwinden, bevor man das das erste Mal macht –, haben Sie damals auch darüber nachgedacht, ob Ihr Anliegen das wirklich wert ist, so viel Angst zu überwinden?

Brodde: Ja, auf jeden Fall, natürlich sollte man darüber nachdenken. Also man kann jetzt nicht davon ausgehen, ob nun in Stuttgart oder auch im Wendland, dass sowas jetzt aus dem Nichts kommt, dass die Leute einfach entscheiden, jetzt kette ich mich mal an. Eine Revolution oder auch solche Aktionen, die kommen nicht aus dem Nichts, dafür muss eine Stimmung sein, und da müssen die Leute sich sehr genau überlegt haben, warum es ihnen jetzt wichtig ist, hier solche Formen der Solidarität mit anderen auszuprobieren. Und da muss man sich sehr genau überlegen: Was ist eigentlich das Thema, für das man brennt?

Kassel: Ist denn eigentlich Demo gleich Demo? Nehmen wir die beiden großen, aktuellen Beispiele, die Proteste gegen die Verlegung des Stuttgarter Bahnhofs unter die Erde, und die Proteste gegen die Atommülltransporte ins Zwischenlager Gorleben. Ist das im Prinzip, von der Protestform her, wirklich das Gleiche?

Brodde: Na, erst mal finde ich einen ganz interessanten Zusammenhang: Beides ist lokaler Protest. Das sind eigentlich Leute, die ja gegen etwas vor ihrer Haustür erst mal protestieren. Die Wendländer wollen kein Endlager in ihrem Garten. Die Stuttgarter haben eine andere Vorstellung von ihrer Stadt, und das entzündet sich an diesem Bahnhof. Beides sind Bürger, die sich eigentlich direkt vor ihrer Haustür für etwas einsetzen, und da fängt es ja auch oft bei vielen an. Die kümmern sich erst mal um das, was ihnen naheliegt, die sind in der Region verwurzelt und die finden, sie haben ein Recht, jetzt auch mitzubestimmen, wie in diesem Fall ihre Stadt, beispielsweise in Stuttgart aussehen soll. Und dafür hege ich großen Respekt.

Kassel: Aber ist der Protest denn wirklich so lokal? Ich meine, in Gorleben … Sie zum Beispiel reisen ja aus Hamburg an, okay, nicht weit weg, aber es ist auch nicht der gleiche Landkreis, und ich habe zum Beispiel gestern eine ZDF-Reportage gesehen, in der ging es um einen Stuttgarter, der unter anderem … der ist schon auch gegen die Nutzung von Kernkraft, aber der fährt unter anderem deshalb das erste Mal in seinem Leben nach Gorleben morgen oder ist vielleicht jetzt schon unterwegs, weil er in Stuttgart, bei den Protesten gegen Stuttgart 21, Demonstranten aus Niedersachsen kennengelernt hat.

Brodde: Das ist auch wahr. Natürlich bilden sich solche Knoten von Aktivisten. Man lernt sich kennen, man hat sich natürlich auch … die Stuttgarter haben sich jetzt vielleicht, die hier ganz frisch im Geschäft sind, die haben sich ein bisschen warmgelaufen und wollen sozusagen jetzt noch mal was anderes ausprobieren. Das ist in der Tat so. Man muss dazufügen, dass das Wendland und der Protest gegen Atomkraft eine ganz, ganz lange Geschichte hat in Deutschland.

Das gehört zum Kern der Identität vieler Aktivisten, auch zu meiner Identität, muss ich sagen. Und natürlich haben Sie recht, das ist für mich ein unendlich großes Thema im Moment: Wie erzeugen wir Energie in diesem Land angesichts von Klimawandel und anderen Bedrohungen? Und für mich ist die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken ein Thema, wo ich das Gefühl habe sozusagen: Politik hat gegen die Mehrheiten im Volk entschieden. Und das ist was, wo ich denke: Da lohnt es sich dann auch, den Weg von Hamburg ins Wendland anzutreten.

Kassel: Nun ist das, was Sie beschrieben haben, vielleicht auch über die Kernkraft hinaus, eine gewisse Entfremdung, die es gibt zwischen Politik – egal ob nun kommunal, auf Landesebene oder sogar auf Bundesebene –, ja ein Grund für viele Menschen, die es bisher nicht getan haben, doch mal zu protestieren. Wie sinnvoll sind denn da Schulungen? Wir haben jetzt diese ganz praktische Schulung aus Stuttgart gerade in einem kleinen Ausschnitt gehört, es gibt in Verden an der Aller die sogenannte Bewegungsakademie, wo man auch mit ein bisschen mehr theoretischem Unterbau lernen kann, wie man protestiert. Ist es wirklich so: Braucht man eine Schulung, um richtig zu protestieren?

Brodde: Na, ich denke schon, dass es sinnvoll ist sozusagen bei allem, was man tut, erst mal ein gewisses Maß an Erfahrung und Expertise mitzubringen, und das gilt, ehrlich gesagt, auch für Protest. Ich erwarte das übrigens auch von den Polizisten, dass sie vorher eine Schulung hatten, und ich erwarte von unseren Politikern, dass sie sozusagen Erfahrung und Expertise haben, und das erwarte ich auch von Aktivsten. Und umgekehrt: Für jemanden, der vielleicht das erste Mal auf der Straße steht, muss man sich vorstellen, dass es sicher inspirierend und hilfreich ist, jemand mit Erfahrung an seiner Seite zu haben, jemand, der einem was erklärt, und ich denke, das führt auch dazu, dass die Leute dann besonnener sind. Und gerade im Wendland geht es uns allen darum, dass dieser Protest gewaltfrei bleibt.

Kassel: Nun muss man sich auch darauf einstellen, dass so ein Protest, gerade im Wendland, wo man möglicherweise stunden- und tagelang an einem bestimmten Ort verharren muss, dass das alles auch ein bisschen unangenehmer ist, als man sich das gerade beim ersten Mal vielleicht vorher am Küchentisch ausgemalt hat.

Brodde: Absolut. Also ich kann Ihnen sagen, ich war im Frühjahr jetzt in Hamburg bei der Menschenkette. Eine Menschenkette ist erst mal sicherlich eine ganz softe Form von Protest, das ist eher so ein Familienevent gewesen, da hatte man irgendwie bunte Formen, und ich muss auch sagen, ich habe bedenkenlos meine Kinder dort mit hingenommen. Selbst diese Menschenkette haben wir übrigens ein Wochenende vorher geübt im kleineren Stil, wir jetzt zum Beispiel auf Hamburgs Straßen.

Kassel: Aber entschuldigen Sie, wenn Sie unterbreche – ganz praktisch, das kann ich mir gerade nicht vorstellen: Wie übt man denn eine Menschenkette?

Brodde: Man fasst sich an.

Kassel: Schon klar, aber wie … das kann man natürlich machen, aber geht es dann ums Durchhaltevermögen oder was haben Sie genau geübt?

Brodde: Ja, da geht es einfach, genau, sozusagen darum, einmal zu testen sozusagen, okay, wie ist das eigentlich, wenn ich völlig fremde Menschen neben mir anfasse? Wie kriege ich das hin, eine richtige Reihe zu bilden und irgendwie die auch über eine lange Strecke durchzuhalten, ohne dass man sich loslässt? Ist man dann eigentlich stumm oder singt man was, Sprechchöre? Das sind alles Dinge, die man in dieser Situation dann miteinander überlegen kann und auch entscheiden. Und möglicherweise steht da auch jemand schon, steht schon die Polizei auf der Straße, und man muss das aushalten können, dass da jemand einem gegenübersteht. Das kann man alles üben, nur: Die Menschenkette – und Sie haben recht, kommen wir zurück ins Wendland – war eine ganz softe Form des Protestes.

Eine Sitzblockade – und Sie haben es in Ihrem Beitrag vorhin schon beschrieben – ist eine wesentlich härtere Form des Protestes. Da muss man Sitzfleisch mitbringen, da muss man ausharren können, es ist kalt und nass und unangenehm. Das ist schon eine härtere Form der Auseinandersetzung, und ich finde, jeder muss ganz genau entscheiden: Ist das der Ton, den ich anschlagen will, ist das die Form des Protests, die ich für mich wählen will? Und nicht jeder muss ja gleich an der Sitzblockade teilnehmen. Sie müssen nicht sofort an der Spitze einer Bewegung marschieren, Sie können auch mal anfangen, im ersten Glied zu einer Kundgebung zu fahren, und danach sich zu entscheiden: Ich koche jetzt lieber Suppe für alle.

Kassel: Muss man nicht auch eine andere Entscheidung treffen? Manch einer, der das jetzt beobachtet, was in Stuttgart los ist, was im Wendland mit ziemlicher Sicherheit ab morgen noch intensiver los sein wird als in den letzten Jahren, da fragt sich manch einer: Warum gehen die Leute auf die Straße, investieren was? Sie haben es ja gesagt: Es kann unangenehm sein, man muss mindestens seine Freizeit investieren, aber warum das, warum diese Art von Protest? Warum nicht einfach politisch aktiv werden im Sinne von Parteipolitik?

Brodde: Das ist auch was, was mich ja jahrelang bewegt hat als jemand, der nie in eine Partei eingetreten ist, sondern sozusagen immer zu dieser außerparlamentarischen Opposition gezählt hat. Für mich war immer gut zu beobachten – bei allem Respekt für Politik, und ich glaube, dass die repräsentative Parteiendemokratie wichtig ist und dass ich gut mit ihr lebe –, aber ich hatte immer das Gefühl, Politik ist ein System, was sich dazu neigt, sich irgendwann nur noch mit sich selber zu beschäftigen. Also Politiker gehen irgendwann dazu über, wahltaktische Spielereien zu machen und dann gehen irgendwann die Inhalte dabei baden.

Und ich hatte immer das Gefühl, dass es wichtig ist, eine starke Stimme von außen zu sein, um Politik letztendlich den richtigen Drall zu geben. Für mich war deswegen wichtig, auf der Straße zu stehen, als starke Stimme von außen, und ich glaube, genau das ist das Gefühl von vielen im Moment, Politik sozusagen nicht alleine machen zu lassen, und nicht das Gefühl zu haben, man hat alle vier Jahre sein Kreuzchen gemacht und damit ist das Mandat erschöpft, sondern auch in dieser anderen Zeit politisch zu agieren.

Kassel: Kirsten Brodde, Journalistin, Aktivistin und Autorin des Buches "Protest!: Wie ich die Welt verändern und dabei auch noch Spaß haben kann". Das Buch ist übrigens im Ludwig Buchverlag erschienen. Ich habe das einfach so unterstellt, Sie haben ja auch nicht widersprochen: Sie werden sich Richtung Wendland auf den Weg machen. Was sagt man da jetzt eigentlich zum Schluss? Viel Glück, viel Erfolg, viel Durchhaltevermögen?

Brodde: Also ich finde, Sie können wünschen, dass es nicht so viel regnet.

Kassel: Das tue ich gerne, nicht nur, aber auch im Sinne der Demonstranten. Frau Brodde, danke für das Gespräch!

Brodde: Alles klar. Tschüss!