"Da sind viele deutsche Kultureinrichtungen noch ein wenig am Üben"

Klaus Siebenhaar im Gespräch mit Katrin Heise |
Klaus Siebenhaar vom "Zentrum für Audience Development" an der Freien Universität Berlin erforscht Möglichkeiten von Publikumsentwicklung – und erkennt einen Integrationsauftrag für öffentliche Kulturinstitutionen.
Katrin Heise: An der Freien Universität Berlin gibt es das Institut für Kultur- und Medienmanagement. Das wird geleitet von Professor Klaus Siebenhaar. Dort ist das Zentrum für Audience Development angesiedelt, also das Zentrum für Publikumsentwicklung, und da wurde jüngst eine Studie vorgelegt zum Thema Migranten als Publikum. Und deshalb freue ich mich, dass Sie da sind, ich begrüße Klaus Siebenhaar, schönen guten Tag!

Klaus Siebenhaar: Guten Tag!

Heise: Es ist schwer, Leute, die keinen normalen Umgang mit so einer Art von Kultur haben, dafür zu interessieren, das ist eine harte Arbeit, und das ist aber unser Job, sagte Intendant Lilienthal eben. Man kann ihn so verstehen, dass er das als einen Auftrag begreift, Migranten in sein Theater zu holen, sie teilhaben zu lassen. Würden Sie sagen, tatsächlich, öffentliche Kulturinstitutionen haben diesen Auftrag zur Integration?

Siebenhaar: Unbedingt. Das ist der gesellschaftliche Mehrwert, der praktisch ihre Subventionen – und die fließen ja in Deutschland immer noch sehr gut im Vergleich zum Rest der Welt … Das ist das, was man neudeutsch Public Value nennt, also die Grundlage ihres Auftrags, kulturelle Bildung. Und in einer sich so dynamisch verändernden Gesellschaft schließt das natürlich auch die Gruppen mit ein, die wir jetzt auch so schön korrekt mit Migrationshintergrund bezeichnen.
Heise: Sehen die Institutionen das auch so? Sie haben sie ja gefragt. Sehen sie diesen Auftrag?

Siebenhaar: Also, sie sind schon sensibilisiert, um mal etwas Optimistisches und etwas Positives zu sagen. Sie sind aber, frei nach Alexander Kluge, wie die Artisten in der Zirkuskuppel, ein wenig nämlich ratlos. Und es braucht schon eine Mentalität, eine Haltung wie die eines Matthias Lilienthal, der mir völlig aus dem Herzen spricht, um wirklich in Bewegung zu geraten.

Heise: Es gäbe ja eigentlich noch einen ganz anderen Grund, in Bewegung zu geraten, einen sehr schlichten Grund, nämlich das Publikum. Das Publikum wird durchaus knapp oder ist durchaus knapp, das heißt, man muss doch immer auf der Suche sein nach einem neuen Zielpublikum.

Siebenhaar: Das ist dem verwöhnten deutschen Kulturbetrieb relativ neu, dass man sich zum Besucher hin orientieren kann und muss. Audience Development meint ja mehr als kultur- oder theaterpädagogische Alibiveranstaltungen, sondern wirklich die konsequente Ausrichtung einer Institution, von oben nach unten, mit allem, was dazugehört, von Services, Programmangeboten bis hin zu einem originellen, cleveren, individualisierten Marketing. Das alles bedeutet Audience Development im angloamerikanischen Sinne. Und da sind viele deutsche Kultureinrichtungen noch ein wenig am Üben. Sie haben aber mittlerweile das Bewusstsein.

Heise: Was jetzt das Hebbel am Ufer in Berlin angeht, da haben wir ja gehört, die sind schon ziemlich weit. Vor allem, was ich sehr interessant fand, als Lilienthal sagte: In dem Moment, in dem er deutsch-türkische Künstler engagiert hat, sich den Themen geöffnet hat, da kam das Publikum – das heißt eigentlich, sich öffnen, inhaltlich öffnen?

Siebenhaar: Absolut, nicht mehr nur Angebotsorientierung, so nach der Vorstellung, ich weiß, was für alle gut ist, sondern in gewisser Weise Nachfrageorientierung. Das hört man nicht gern, aber Matthias Lilienthal hat von nichts anderem gesprochen, indem er sagte, so, wie wir das auch als praxisorientierte Wissenschaftler sehen: Du musst dein Umfeld erst mal kennenlernen, du musst es erkunden, und du musst wissen, was die wollen.

Also, so zu tun, als ob man für "Nathan, der Weise" oder "Die Dreigroschenoper" mal Zielgruppen mit Migrationshintergrund gewinnen will – das ist illusorisch, das ist vielleicht der dritte Schritt. Aber der erste Schritt ist, ein eigenes Angebot zu haben und nicht nur ein Angebot zu haben und dann zu denken, das finden alle gut und die kommen schon, sondern die damit verbundenen Marketingstrategien.

Heise: Migranten als Publikum, das Thema ist in den Kulturinstitutionen angekommen. Was sie damit machen, darüber informiert uns Klaus Siebenhaar vom Zentrum für Publikumsentwicklung von der Freien Universität Berlin. Sie haben gerade die Nachfrageseite ja angesprochen. Das Wissen darüber, wie groß ist denn das eigentlich in den deutschen Kulturinstitutionen?

Siebenhaar: Das ist so gering, wie es allgemein gering ist. Das war unser Ansatz. Wir wollten es selbst nicht glauben: Es gibt eine einzige Studie, die diesen Namen verdient, also, die wirklich empirisch darüber gearbeitet ist – aus Dortmund, Nordrhein-Westfalen, wo man etwas weiter ist als in Berlin beispielsweise –, wo man mal die Nachfragesituation für den Kulturbereich mit versucht hat zu erforschen.

Heise: Also tatsächlich gefragt hat, was wollen die Menschen mit türkischen, kroatischen und arabischen Wurzeln eigentlich sehen?

Siebenhaar: Genau. Also, in der ganzen Diskussion um Integration, Partizipation dominiert Ideologie im Augenblick noch, das ist das erste Bedauerliche, und Mutmaßung.

Heise: Was empfehlen Sie?

Siebenhaar: Saubere Studien in Verbindung mit so einer Strategie, wie sie Matthias Lilienthal im Hau fährt, also nicht nur Studien, sondern auch erproben, machen, das in Verbindung ist eigentlich das einzige Rezept, was man anbieten kann.

Heise: Jetzt habe ich in Ihrer Studie gelesen, dass viele Häuser argumentieren: Es gibt ja eigentlich gar nicht die Migranten in unserem Umfeld. Was sagen Sie denen denn?
Siebenhaar: Sie sollen wirklich mal ins Feld gehen. Von Kulturschaffenden heute erwarte ich auch die Haltung von Ethnologen.

Heise: Vielleicht kommt man bei solchem genauen Hingucken, wer da eigentlich sich im Umfeld des Theaters bewegt, auf sehr kulturferne und auch bildungsferne Schichten. Die an Kultur heranzubringen, das ist ja bei Migranten schwer, das ist bei Deutschen ganz genauso schwer. Das heißt, es sind ganz andere Themen, die dann plötzlich eine Rolle spielen?

Siebenhaar: Es sind andere Themen, die eine Rolle spielen, und strategisch muss man mit denen beginnen, die am nächsten zur Kultur sind. Also, es wäre illusorisch, … großes Thema: Non-Visitors. Und wenn man mal schaut, wie viel Prozent in Deutschland Kultur nicht nutzen oder schauen Sie nach Frankreich, wo man dramatische Zahlen hat, die darauf hinweisen, dass immer weniger die Kultur nutzen, dann muss man eben mit denen beginnen, die schon eine gewisse Nähe haben – auch mit einem Scout-System, also wie es die Dänen zum Beispiel machen, in Kopenhagen, ein ausgeklügeltes Scout-System.

Sie brauchen einfach Insider, die einfach drin sind, die die Akzeptanz haben, die die Kompetenz haben, die müssen Sie einbinden, und der zweite Schritt: Sie müssen mit kulturellen Initiativen … Zum Beispiel hier Ballhaus in der Naunynstraße, Frau Langhoff, Shermin Langhoff, eingeheiratet in eine große Theaterfamilie – ein idealer Fall.

Ich frage mich, warum das Deutsche Theater, das in der Tradition der Langhoffs steht, nicht mit ihr kooperiert, das heißt, Geld dort investiert in einen Bereich, der Kompetenz hat, der weiß, wo es langgeht, ich sage es mal so salopp, und die einfach diese Initiativen in die großen Häuser reinholt. Da kann man sich viel eigene Entwicklungsarbeit, auch teure Entwicklungsarbeit sparen.

Heise: Was erwarten Sie von der Politik denn? Da muss ja wahrscheinlich doch auch … Ich möchte jetzt nicht wieder nur auf die Politik weisen, sondern durchaus auch das bei den Kulturinstitutionen belassen, aber man kann sie ja nicht rauslassen.

Siebenhaar: Nein, man kann sie nicht rauslassen, und vielleicht sollte man mal einen gewissen Mut zum Unpopulären haben in der Politik. Dann kann man nach England schauen oder nach Großbritannien, wo ein Teil der Subventionen gebunden ist an sogenannte Audience-Development-Programme.

Also, wer Subventionen haben will, muss einen bestimmten Prozentsatz dieser Subventionen in solche Programme investieren und man muss nicht nur investieren, sondern auch das, was man tut, evaluieren – also, um ein schönes, abgegriffenes, anderes Wort zu benutzen: Nachhaltigkeit.

Heise: Und überhaupt mal nachweisen, wo es denn hingegangen ist.

Siebenhaar: Ja!

Heise: Migranten als Publikum war unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit Klaus Siebenhaar vom Zentrum für Audience Development, Publikumsentwicklung. Vielen Dank, Herr Siebenhaar, für das Gespräch!

Siebenhaar: Danke Ihnen!