Dada in Japan

Schon zu Beginn der 20er Jahre gelangte der Dadaismus in die japanische Kulturszene, wo er auf fruchtbaren Boden fiel. In dem fernöstlichen Kaiserreich waren Militarismus, nationalistische Engstirnigkeit und Zensur ebenso verbreitet wie im Europa des 1. Weltkrieges. Künstler und Schriftsteller wie Tsuji Jun, Takahashi Shinkichi, Murayama Tomoyoshi und die MAVO-Gruppe nahmen Impulse aus Europa auf und bildeten eine kleine aber eigenständige Dadaszene.
Wie in Europa, so wurde der Dadaismus auch in Japan in den 60er Jahren wieder aufgegriffen und von einem weitläufigen Künstlerkreis weiterentwickelt: Während hierzulande die Fluxusbewegung Furore machte, stellte in Japan vor allem die GUTAI-Gruppe alles in Frage, was die Gesellschaft bis dato über Kunst und Leben zu wissen glaubte.

In jüngerer Zeit hat der Dadaismus nicht zuletzt unter Musikern der japanischen Noise-Szene Anklang gefunden. So sehr, dass einer ihrer prominentesten Vertreter sich sogar in seinem Künstlernamen auf Dada bezieht: "merzbow" wählte sein Pseudonym als Verneigung vor der Merzkunst Kurt Schwitters'.

Neben der gesellschaftlichen Situation gibt es wohl noch einen weiteren Grund für die begeisterte Aufnahme des Dadaismus in Japan: Das radikale Infragestellen aller Konventionen und Werte ist auch dem japanischen Zen-Buddhismus ein zentrales Anliegen. Viele literarische Produkte des Zen - etwa die Rätselfragen Koan oder die Haiku-Gedichte - zeigen frappierende Parallelen zur Dadapoesie. Nicht von ungefähr trat den Dichter Takahashi Shinkichi nach seiner aktiven Dada-Phase einem Zen-Orden bei:

"Dada sagt zu allem ja und nein, ohne Widerruf. 'Unendlichkeit' oder 'Nichts', so wie 'Zigarette', 'Unterrock' oder 'Wort', alles klingt gleich. Alles, was in der Phantasie entsteht, existiert. Die gesamte Vergangenheit ist in einer Zukunft aus Sojasirup enthalten. Ein dem Menschen unzugängliches Bild kann in einem Sardinenkopf auftauchen - das ist die Idee, die alle begreifen können, sogar eine Katze oder ein Schöpflöffel. Dada sieht in allem ein individuelles Ich. Im Flirren der Luft, im Abscheu vor der Mikrobe oder auch im Geruch des Ausdrucks 'individuelles Ich' erkennt er ein individuelles Ich. Alles ist ohnegleichen. Zieht man die Selbstverleugnung des Buddha in Betracht, kann man sagen, dass alles alles ist. Dada sieht das Ganze in allem. Ein unwiderrufliches Ja kommt allem gleich. […] Dada sagt zu allem nein." Takahashi, 1922

Japan im europäischen Dadaismus

Blickt man unter diesem Gesichtspunkt auf den europäischen Dadaismus zurück, so entdeckt man auch hier einen Aspekt, der für gewöhnlich kaum mit Dada assoziiert wird: tiefe Spiritualität.

Man denke nur an Johannes Baaders rituellen Kult der eigenen Person oder an Hugo Balls späte Wendung zum katholischen Mystizismus. Hinter der groben Generalnegation der Dadas steckte häufig die Suche nach einer neuen geistigen Verankerung. Selbst den Sprung nach Japan wurde schon von den europäischen Dadaisten vollzogen: In seinem Text "Enthüllungen" phantasiert Walter Mehring über eine "transasiatische Expedition DADA" aus dem Geist einer neuartigen Dadareligion.

"Dada lächelt zum Weltkrieg einzig im Besitz der Formel zur Nutzbarmachung angehäufter Geistigkeit. Die Menschen erfrieren mit unterbundener Nabelschnur ihrer gottgewollten Abhängigkeiten, die Christusse sterben zu Tausenden den Opfertod, aber der Platz am Kreuze bleibt unbesetzt. Denn einzig Dada erfand die Synthese des modernen Wesens: l'homme bruitiste sur la base simultane, den samsaro mit Handbetrieb, das aromantische Kataklisma von Asien in Amerika."

Von Weimar aus startet Mehring eine fiktive Dada-Expedition quer durch Asien bis nach Japan. Sie gipfelt in der Errichtung einer spirituellen Dada-Kolonie, dem "DADAyama":

" Osterbotschaft der großen Gründung
Hydraulisch in schattiger Lage. Verlangen Sie Prospekt Ozon
Bisher ist das zusammenleben der Menschen von vegetativer Zufälligkeit."

Der Großstadtsumpf, in dem heterogenste Elemente stagnieren. Man träumt vom süßen Mädel, das am anderen Ende wohnt, aber nebenan kotzt der dicke Reichspräsident sein Salvatorbräu aus. Man hat den erlösenden Menschheitsgedanken, aber die Schreibwarenlager feiern Sonntagsruhe und die Gläubigen schwofen am Spandauer Bock. Die schönen Seelen finden sich nicht, die eine oxydiert schon in N.O., die andere kegelt noch ahnungslos in W.W., aber nie Dada. Abhilfe ist möglich!


Was ist Dadayama? - Gedicht von Walter Mehring.
Was ist Dadayama? - Gedicht von Walter Mehring.© Claassen-Verlag
DADAyama

" Dada war ein Spiel der Reichen vor 90 Jahren.
Oder war es eine ernsthafte Warnung?
Aber, war es ernsthaft? oder: War die Warnung erfolgreich vor 90 Jahren?
Und 90 Jahre später? Brauchen wir noch immer ernsthafte Warnungen?
Oder suchen wir noch immer ein Spiel für die Oberklasse? "
Tetsuo Furudate

Im Zeichen von Mehrings Dadayama haben Georg Klein und Tetsuo Furudate eine Raum- und Klangsituation geschaffen, die die Dadaismen in Deutschland und Japan aus heutiger Sicht reflektiert. Dabei geht es ihnen nicht um ein einheitliches Ineinanderfließen der Kulturkreise. Ganz im Sinne Dadas betonen sie vielmehr die Brüche und Widersprüche zweier Welten, deren Gegensätze bei allen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen unüberbrückbar bleiben. Furudate und Klein thematisieren so die vielleicht markanteste Gemeinsamkeit der Dadaismen in West und Ost: die Lust am Polarisieren.

Dieses Lust kommt schon in den Klangsprachen der beiden Künstler zum Tragen: Quer zum Klischee der japanischen Zurückhaltung erschüttert Furudate seine Zuhörer mit brachialen Geräuschorgien von extremer Lautstärke. Klein hingegen - ganz und gar unteutonisch - arbeitet meist mit feinen, unaufdringlichen Tönen, die sich organisch in die jeweilige Situation einpassen. Geprägt von gemeinsamen Ausgangsmaterialien, letztendlich aber unvereinbar, wechseln in Dadayama diese beiden Klangwelten einander mit harten Schnitten ab.

Auch die Raumsituation von Dadayama nimmt die dadaistische Polarisierungslust beim Wort. Und zwar buchstäblich: "Da - da" verstehen Klein und Furudate als die Gegenüberstellung zweier Orte - hier und dort. "Yama" bedeutet Berg im Japanischen, "Ma" heißt dazwischen. Die räumliche Umsetzung des Wortes Dadayama besteht für Klein und Furudate in einer flachen, hügelartigen Zuschauertribüne in der Mitte des Raumes. Sie fällt symmetrisch nach zwei Seiten ab und teilt so das Publikum in zwei Teile, die sich Rücken an Rücken gegenübersitzen.

An den Querseiten des Raumes befindet sich je ein Boxenpaar für die Klangzuspielungen der beiden Künstler. An den Längsseiten sind symmetrisch vier einzelne Lautsprecher platziert, die Georg Klein den vier Performern des maulwerker-Ensembles zugeordnet hat. Jeder der Vokalisten ist mit einem kleinen Sendermikrofon ausgerüstet, das über einen der Lautsprecher wiedergegeben wird. So entsteht eine akustische Spiegelsituation, in der die Performer mit ihren akustischen Feedbacks kommunizieren. Leise Mundgeräusche oder die schiere Berührung des Mikrofons mit der Haut werden zu überlebensgroßen musikalischen Ereignissen. Das Mikrofon dringt in die Sprachlaute. Rückkopplungen an Mund, Körper und Lautsprecher vermischen sich mit Worten dadaistischer Texte, insbesondere Selbstaussagen und Eigendefinitionen von Dadaisten. Live-Elektronik ergänzt das Geschehen.

Als Lautmaterial verwenden Klein und Furudate unter anderem Dadatexte von Takahashi Shinkichi, Walter Mehring, Murayama Tomoyoshi, Raoul Hausmann und Hagiwara Kyojiro.
Auf Einladung von radio TESLA tritt im letzten Teil der Veranstaltung der russische Lautpoet Valeri Scherstjanoi auf. "rrröstfrisch. Lautkonzert für Raoul Hausmann" nennt er seine Performance.

"Berlin in den 20ern: im Trotz der Nachkriegswirren wird die Stadt zur Arena der Avantgarde. Zitat aus der Nachbarschaft: 'bei stärksten Emotionen alle Worte in Scherben!' Hausmann kontert: 'du kannst keine Gedichte machen wie die Leute". Wozu Dada? Dada ist da und nicht da. Die L-a-u-t-p-o-e-s-i-e erfindet sich im Geiste des Dada und des russischen Futurismus.

Valeri Scherstjanoi marschiert durch das Dickicht der l-a-u-t-bildenden Kunst; mit Originalbeiträgen und Werkauszügen von Raoul Hausmann, Alexej Krutschonych, Carlfriedrich Claus und eigenen Lauttexten." (Andreas Hagelüken)
Planungsskizze zur Performance von "die maulwerker"
Planungsskizze zur Performance von "die maulwerker"© die maulwerker