Handbuch für amouröse Hochstapler
Walter Serners Handbuch "Letzte Lockerung" aus dem Jahr 1918 gilt als einer der wichtigsten Texte des Dadaismus. Der Möchtegern-Dandy findet darin – nicht ganz ernst gemeinte – Benimmregeln für den großen Auftritt bei gesellschaftlichen Anlässen. Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow hat es als Hörbuch eingesprochen.
Klopfende Rhythmen und zirpende Klänge - so hört er sich also an, der Soundtrack zur Selbstinszenierung. Und dazu noch ein Gesang, so tief wie das Dunkel der Nacht.
"Jetzt da ich im Evening-Dresse /
Nur noch allerlockerst sprühe /
Ist mir keine Miez zu kesse /
Keine Tour macht mir noch Mühe…"
Nur noch allerlockerst sprühe /
Ist mir keine Miez zu kesse /
Keine Tour macht mir noch Mühe…"
Klar, die Abendgarderobe muss akkurat sitzen, das stilvolle Kostüm des Dandys, dieses herausgeputzten Großstadthelden: mehr Schein als Sein. Musik ist hier nicht Soundtrack, sondern - ein ernstes Problem.
"Unternimm nichts, solange Musik zu hören ist. Ihre Wirkung ist schlecht. Nur bei Jazz wage dich vor, er lockert..."
1918 verfasst der in Böhmen geborene und vor den Kriegswirren in die Schweiz geflüchtete Schriftsteller Walter Serner ein dadaistisches Manifest: "Letzte Lockerung" ist eine handfeste Handlungsanweisung für den amourösen Hochstapler. Die Lockerung beginnt mit dem Essen. Getreu dem Motto: mit leerem Magen studiert es sich nicht gut und es verführt sich auch nicht gut.
"Zur Vorbereitung: Vor der Lektüre dieses Breviers bestelle man mit dem Auftrag, es nach zwei Stunden parat zu halten, folgendes Supé: Eier a là Florentine, Cherry, Crêpe a là Parisienne,..."
Walter Serner hat mit "Letzte Lockerung" eine Art Ratgeber geschrieben: mit Kapiteln zu Reisen und Hotels, Kleidung und Manieren, Männern und Frauen. Tips und Tricks für ein ausschweifendes Großstadtleben mit Schirm, Charme und Melone - zwischen dekadentem Lebensstil und nihilistischer Weltanschauung.
"Habe eine Geheimtasche. Lerne zu Hypnotisieren. Schließe manchmal plötzlich die Augen..."
"Träume wirken schwächend. Man kann sie verhindern, indem man mit leeren Magen zu Bett geht und 'Das Lockerlied' memoriert."
"Das Lockerlied" ist einer von vier Songs in dem einstündigen Hörstück - ein Abgesang auf das ausgemergelte Spießbürgertum nach Ende des Ersten Weltkrieg, die Hymne des Dada-Dandys im 20. Jahrhundert. Im Gegensatz dazu stehen anarchische und absurde Lebensweisheiten.
"Entweicht dir in Gesellschaft unter Knall ein Gas, so frage deinen Nachbar: wie bitte? Wenn du nicht vorziehen musst zu schweigen, gibt es kein besseres Mittel."
Das Hörbuch erinnert an eine mitternächtliche Cabaret-Veranstaltung
Als Hörstück hat "Letzte Lockerung" etwas von einer mitternächtlichen Cabaret-Veranstaltung. Man sieht die Selbstinszenierung richtiggehend vor seinem inneren Auge: der Dandy im schwarzen Frack, das verrauchte Etablissement, der mit Lack überzogene Spazierstock, der zum Text den Takt klopft.
Der Berliner Experimentalmusiker Zeitblom konstruiert für "Letzte Lockerung" eine düstere Kulisse aus elektronischen Klängen.
Die Hörfassung von Walter Serners "Letzte Lockerung" ist eine akustische Geisterbeschwörung - gesprochen von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow. Unter seiner rauchigen Stimme wird er hörbar, der Weltschmerz eines Lord Byron, die Selbstverliebtheit eines Oscar Wild, die Raffinesse eines Felix Krull.
"Die Welt will betrogen sein. Gewiss. Sie wird aber sogar ernstlich böse, wenn du es nicht tust."
In jedem Ton, in jeder Silbe schwingt es mit, das Carpe Diem und das Memento Mori, das euphorische Hochleben vor dem endgültigen Niedergang. Denn bei aller Liebe zum Leben: das Ende kommt auch für den Dandy mit dem letzten Wort, dem allerletzten Wort.
"Es kommt für jeden einmal das Basta / Drum achte drauf, dass man dich grüßt."
Walter Serner: Letzte Lockerung
Hörspielbarbeitung und Regie: Zeitblom, mit Dirk von Lowtzow
Intermedium Records, München 2014
1 CD, 56 Minuten, 15 Euro