Dael Orlandersmith gastiert mit „Until the Flood“ am 6., 7. und 8. April 2022 beim F.I.N.D-Festival für Internationale Dramatik der Berliner Schaubühne.
Rassismus-Theaterstück "Until the Flood"
Dael Orlandersmith spielt acht Figuren bei der Solo Performance "Until the Flood". Die Berliner Schaubühne zeigt das Stück in der Regie von Neel Keller im Rahmen des Festivals F.I.N.D.. © Joey Moro
Die Sünden der Väter und Mütter
06:01 Minuten
Dael Orlandersmith hat mit "Until the Flood" eines der Stücke der Stunde geschrieben. In der Solo-Performance setzt sie sich mit der Tötung eines schwarzen Jugendlichen in Ferguson auseinander – und mit Rassismus und toxischer Männlichkeit.
So lebhaft wie die 63-jährige Stückeschreiberin und Schauspielerin ist auch der Ort, den sie für ein Treffen ausgewählt hat: ein boomendes Künstlercafé im Herzen von Soho, das ihr zum zweiten Wohnzimmer geworden ist. Dael Orlandersmith, eine raumgreifende Erscheinung in wallendem Gewand mit langen Dreadlocks, grüßt herzlich in die Runde und wird begrüßt.
Seit ihr Dokudrama „Under the Flood“ 2016 am St. Louis Repertory Theatre aufgeführt wurde, ist die schwarze Amerikanerin damit in den ganzen Vereinigten Staaten und international auf Tour – und in ihrer Heimatstadt noch bekannter geworden, als sie ohnehin schon war.
Acht Figuren für eine gespaltene Community
Nun bringt sie ihre multiperspektivische Version der tödlichen Schüsse eines weißen Polizisten auf den schwarzen Teenager Michael Brown in Ferguson, Missouri, nach Berlin. Es geht um die Ereignisse selbst und um die Nachwirkungen der tödlichen Schüsse auf Brown, die zum Erstarken der "Black Lives Matter"-Bewegung beitrugen. Orlandersmith spielt acht Rollen in der Inszenierung, die Anfang April beim Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) an der Berliner Schaubühne gastiert.
„Die Entstehung des Stücks hatte ursprünglich nichts mit der "Black Lives Matter"-Bewegung zu tun. Ich wurde beauftragt, mit einem Theaterstück wenigstens so etwas wie eine Aussprache in der aufgebrachten Community in Gang zu setzen", erklärt Orlandersmith. "Oft ist von 'Mord' durch die Polizei die Rede, ich spreche aber lieber von ‚Todesschüssen‘, weil die genauen Umstände ungeklärt sind. Ferguson ist eine der segregiertesten Städte Amerikas. Es gab dort keine schwarzen Cops. Wie also können wir Theater zur Aussprache darüber nutzen, was race für die dort lebenden Individuen bedeutet?“
Aus Interviews mit Zeugen und Verwandten von Michael Brown im Anschluss an die tagelangen gewaltsamen Proteste 2014 hat Dael Orlandersmith acht Figuren geschaffen. Sie stehen stellvertretend für die Sorgen und Nöte der tief gespaltenen Community. Darunter sind ein pensionierter Polizist, eine Lehrerin, ein wohlhabender Elektriker und eine Predigerin.
Das Publikum soll eigene Schlüsse ziehen
Dael Orlandersmith gibt Schwarzen, Weißen, Jungen, Alten, Männern und Frauen in dem 80-minütigen, raschen Rollenwechsel gleichberechtigt eine Stimme – ohne so zu tun, als wäre sie deren authentische Verkörperung auf der Bühne.
„Vor Ort habe ich versucht, mich einzufühlen: Wie haben die tödlichen Schüsse ihr tägliches Leben verändert? Es geht mir um ihre Schicksale", erklärt die Autorin ihren Ansatz: "Ich sehe mich nicht als Fürsprecherin für andere, ich will einfach nur menschliche Grenzen ausloten und aufzeigen." Allerdings spreche sie gezielt zum Publikum: "Und das trifft dann seine eigenen Schlüsse aus dem Gesagten.“
Interpretationsoffenheit zeichnen alle Dokudramen der wortstarken Autorin mit Wurzeln im Nuyorican Poets Café aus. Sie wurde mit dem Obie-Award ausgezeichnet und war für den Pulitzer-Preis nominiert.
Zwei verunglückte Kindheiten treffen aufeinander
In „Until the Flood“ untersucht sie nicht nur die zutiefst rassistisch geprägte Verfasstheit der Vorstadtgesellschaft, sondern auch die Rolle, die eine aus verunglückter Kindheit resultierende „toxische Männlichkeit“ sowohl bei dem schwarzen Opfer Michael Brown als auch bei dem zwölffachen Todesschützen Darren Wilson spielte.
„Ihre familiären Hintergründe sind ähnlich: Sie sind beide im Mai geboren, im Sternzeichen Stier. 1986 der eine, 1996 der andere", hebt sie die Parallelen hervor: "Ihre ausgeprägt maskuline Erscheinung verbindet sie ebenso wie die Tatsache, dass sie von Müttern im Teenager-Alter in Verhältnisse generationsübergreifenden Missbrauchs hineingeboren wurden."
„Ihre familiären Hintergründe sind ähnlich: Sie sind beide im Mai geboren, im Sternzeichen Stier. 1986 der eine, 1996 der andere", hebt sie die Parallelen hervor: "Ihre ausgeprägt maskuline Erscheinung verbindet sie ebenso wie die Tatsache, dass sie von Müttern im Teenager-Alter in Verhältnisse generationsübergreifenden Missbrauchs hineingeboren wurden."
Beide hätten sich davon so weit wie möglich entfernen wollen: "Der eine als Cop, der andere als angehender Student. Da sind also zwei zutiefst verletzte Seelen in einer rassistisch aufgeladenen Situation aufeinandergetroffen, in der weder weiße und erst nicht schwarze Männer je über ihre Gefühle sprechen konnten.“
Von großer poetischer Kraft
Dael Orlandersmiths in Deutschland noch zu entdeckenden, von großer poetischer Kraft getriebenen, dramatischen Arbeiten wurzeln häufig in der Kindheit, dem, was sie „die Sünden der Väter und Mütter“ nennt.
Selbst in schwierigen Verhältnissen in East Harlem aufgewachsen und früh in die vibrierende Kunstszene im East Village aufgebrochen, schreibt sie bekennend furchtlos gegen stereotype Vereinfachungen und ideologische Verengungen an.
Sie möchte in keine Schublade gesteckt werden – und sie sieht sich nicht als politische Propagandistin, auch nicht für die "Black Lives Matter"-Bewegung, die nach den Todesschüssen auf Michael Brown Fahrt aufnahm.
Selbst immer wieder mit Diskriminierung konfrontiert, sympathisiert sie mit der Bewegung. Aber, gibt Dael Orlandersmith nach einem anregenden Gespräch noch mit, ihr sei wichtig, mit dem besonderen poetischen Grenzgang ihrer Dokudramen zum Nachdenken anzuregen.
Wie sie soll sich auch das Publikum selbst ein Bild machen, statt vorgefertigte Positionen einzunehmen.