Wie Sklaverei nachwirkt
250 Jahre war Dänemark Kolonialmacht in der Karibik, betrieb Zuckerrohrplantagen, ließ Sklaven schuften - bis zum Verbot 1848 und verkaufte die Inseln 1917 an die USA. Heute leben auf den U.S. Virgin Islands etwa 100.000 Menschen - ohne eigene Produktion, abhängig von Importen und Touristen, als "moderne Kolonie".
Es ist früher Vormittag in Frederiksted. Die Hafenstadt mit etwa 1000 Einwohnern liegt am westlichen Ende der karibischen Insel St. Croix. Sie ist die größte der U.S. Virgin Islands (Amerikanische Jungferninseln).
Am Ufer stehen rechts historische Bauten in rosa, hellblau und grünen Pastelltönen mit schattigen Kolonnaden, links zeigt sich das karibische Meer. Am Ende eines 500 Meter langen Landungsstegs ankert ein Kreuzfahrtschiff.
In Frederiksted öffnen die mobilen Verkaufsstände für die Kreuzfahrtstouristen, aber die Souvenirs locken nur wenige Gäste an.
Etwas abseits an einer blutrot getünchten Mauer bietet der Kunsthandwerker Junie seine Produkte an: große, polierte Muscheln, rosarot und weiß. Auch hier ist nicht viel los, Junie lässt sich gerne auf ein Gespräch ein und klagt über die Lebenssituation auf den U.S. Virgin Islands.
"Nahrungsmittel teuer, Benzin teuer, Mieten teuer, alles teuer. Es ist traurig. Viele Leute gehen in die Staaten. Eine meiner Töchter lebt in Boston, sie macht meine Webseite, aber sie kommt nicht mehr zurück. Warum auch? Die gehen aufs College, machen ihren Master und wenn sie zurück wollen, um der Gemeinschaft etwas zurückzugeben, gibt es keine Jobs. Wer hier bleibt, landet im Supermarkt als Verkäufer, Warenstapler, Einpacker und so weiter."
Die Höhe des Mindestlohns kennt der Selbständige nicht, aber sein Kumpel Dean meint: acht Dollar. Der wichtigste Wirtschaftsfaktor auf der Insel St. Croix sei der Massentourismus, aber das große Geschäft gebe es auf der Nachbarinsel – wegen des großen Naturhafens.
Einst kamen Sklavenschiffe, heute Kreuzfahrtschiffe
Auf St. Thomas kamen früher die versklavten Menschen aus Afrika an, außerdem war der Hafen Umschlagplatz für Zucker und Rum. Heute ist er Anlegepunkt für Kreuzfahrtschiffe, die kräftige Gebühren zahlen. Drei bis vier liegen dort oft am Kai, die größten fassen bis zu 6500 Passagiere.
Die Touristen bummeln dann durch die Hafenkneipen, kaufen ein in den steuerfreien Schmuck- und Schnapsläden und genießen vor allem die karibische Natur: Tauchen und Schnorcheln, Wasserski und Segeltouren.
Anders sieht es auf der Insel St. Croix aus: Hier in Frederiksted sollen auch Geschichts-Interessierte auf ihre Kosten kommen. Mit "Heritage Tourism" wollen die Macher auf das Überleben in der Sklaverei und den historischen Widerstand gegen das Kolonialsystem aufmerksam machen.
250 Jahre lang waren die U.S. Virgin Islands eine dänische Zuckerrohrkolonie. Bis Dänemark die drei Inseln 1917 an die USA verkaufte – für 25 Millionen US-Dollar.
Sklaven-Aufstand der "Crucians"
Der Ton einer heimischen Muschel ertönt. Er bedeutet Freiheit und gilt als Symbol für das Jahr 1848, als 8000 versklavte Untertanen der dänischen Kolonie das Fort Frederik umzingelt hatten und drohten, die ganze Stadt anzuzünden, sollten sie nicht die Freiheit erhalten. Sie wurden frei, ihre ökonomische Lage blieb jedoch prekär, trotzdem basiert auf dieser Geschichte noch heute die kollektive Identität der "Crucians", wie sich die Bewohner der Insel St. Croix nennen.
Dänische Festung an der Küste als Museum
Direkt an der Küste steht noch heute – fast 170 Jahre später – die ehemalige Festung Fort Frederik. Zwei oder drei Dänen sind da – heute nicht als Kolonialherren, sondern als Touristen. An der Front des zweistöckigen Hauptgebäudes ist das barock-verschnörkelte Monogramm des dänischen Königs Frederik V. zu sehen, darunter die Zahl 1760 - das Entstehungsjahr.
In den Räumen stehen einige Kolonialmöbel und antike Lampen. In Mauerverließen sind Ketten und nicht einmal mannshohe Strafzellen zu sehen. Auf dem gepflasterten Hof zielen schwarze Kanonen auf den karibischen Horizont und Schautafeln erklären das System der Sklaverei.
Das Leben eines versklavten Zuckerrohrarbeiters bedeutete harte, endlose Arbeit ohne Lohn, körperliche und sexuelle Ausbeutung jeder Art, drakonische Strafen und eine Lebenserwartung von 25 Jahren. Wiedergutmachung von Dänemark ist bis heute eine politische Forderung.
Senator T. A. Nelson will offizielle Entschuldigung
"Der dänische Ministerpräsident hat in seiner Neujahrsansprache einige Dinge über unsere dunkle Vergangenheit angedeutet. Ich glaube, wenn es eine Versöhnung geben soll, wenn es echte Reue gibt, dann ist eine Entschuldigung angemessen."
Senator Positive T. A. Nelson - grau melierte Schläfen, randlose Brille, blauer Anzug – was hervorsticht sind die langen Dreadlocks. Vielleicht auch deshalb gehört er zu den bekanntesten Politikern auf der Inselgruppe.
Positive Nelson ist einer von 15 Senatoren der US Virgin Islands. Sie sitzen nicht im US-Kongress - sondern in einer eigenen Bürger-Vertretung für das Übersee-Territorium. Nelson gehört zur "Independent Citizens Movement" – kurz ICM, eine lokale Partei die in den 1960er Jahren entstand.
Er ist der erste Rastafarian, der je in das zweijährige Senatorenamt gewählt wurde. Soeben hat er seine siebte Amtszeit angetreten. Zu Besuch bei ihm war heute eine Delegation der dänischen Partei "Einheitsliste". Sie setzt sich in Dänemark für eine offizielle Entschuldigung durch das Parlament ein. Senator Nelson findet das gut:
"Ich möchte keine Entschuldigung, die sich anhört, als käme sie nur vom Ministerpräsidenten, die seine persönlichen Gefühle zum Ausdruck bringt. Ich möchte eine Entschuldigung vom ganzen Land, von seinen Gesetzgebern. Leider gibt es hier im Territorium viele Offizielle, die das anders sehen, deshalb gibt es in dieser Sache eine Spaltung."
Wie umgehen mit Ex-Kolonialmacht Dänemark?
Die rund 100.000 Bewohner der US Virgin Islands sind uneins im Umgang mit Dänemark und den USA. Positive Nelson spricht zunächst über eine konstruktive Zusammenarbeit: Dänemark könnte das Know-how über Windenergie weitergeben, das eigene Hochschulsystem unterstützen und historischen Artefakte aus der Kolonialzeit zurückgeben. Davon hätten schließlich auch dänische Touristen etwas, die neuerdings per Direktflug auf die Inseln kommen.
Ein großes Problem hat Senator Nelson aber mit dem politischen Status der U.S. Virgin Islands. Sie sind ein nicht-inkorporiertes Territorium der USA. Das bedeutet vor 100 Jahren – beim Verkauf von Dänemark an die USA – wurde nur der Besitztitel transferiert. Die Menschen sind noch immer Bürger zweiter Klasse.
Sie dürfen nicht einmal an der US-Präsidentenwahl teilnehmen. Die Inselgruppe sei deshalb noch immer nicht frei, sondern eine "moderne Kolonie", abhängig von Importen und ohne nennenswerte Produktion, so Positive Nelson:
"Es ist eine Kolonie, eine moderne Kolonie, so werden wir behandelt. Sie machen Gesetze und Verordnungen dort im Kongress in Washington, die uns zum Beispiel das Fischen in unseren eigenen Gewässern unmöglich machen. Sie nehmen wenig Rücksicht auf unsere Erwerbsmöglichkeiten."
Kaum eigene Produktion, hohe Arbeitslosigkeit
Das Hauptproblem des Senats der U.S. Virgin Islands sind die leeren Kassen und die fehlende wirtschaftliche Entwicklung. Der größte Arbeitgeber ist der Staat – in der Landwirtschaft ist kaum jemand tätig.
"Wundern Sie sich nicht, dass es in einem Land mit einer derartig reichen landwirtschaftlichen Vergangenheit keine Landwirtschaft mehr gibt? Das ist ein direktes Symptom der Sklaverei, wir betrachten Farmarbeit heutzutage als Sklavenarbeit, das würden die meisten zwar nicht zugeben, aber es ist so."
In den 1960er Jahren haben die letzten Zuckerrohrfarmen zugemacht. Deshalb muss die Melasse für den Rum aus Puerto Rico importiert werden. Auch Viehzucht und Obstanbau gibt es trotz des guten karibischen Klimas nur in kleinen Maßstäben. Und so sind die Bewohner von Importen abhängig.
In den Supermärkten auf der Inselgruppe findet sich alles, was die US-amerikanischen Erzeuger auf dem Festland produzieren, jedoch zu deutlich höheren Verkaufspreisen.
Und die können sich immer weniger Menschen leisten. 30 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Auch weil 2012 der damals größte Arbeitgeber HOVENSA dichtgemacht hat – eine Erdöl-Raffinerie, die weltweit zu den zehn größten gehörte.
HOVENSA brachte Arbeit und Umweltzerstörung
Auf einer Autofahrt mit der Künstlerin La Vaughn Belle sehen wir ein riesiges Werksgelände direkt am Meer, menschenleer, futuristisch und gespenstisch zugleich. Hinter einem hohen Gitterzaun mit Stacheldraht hunderte von Schornsteinen und Destillationstürmen, dazwischen ein Gewirr von Röhren und gewaltige Erdöltanks, das Ganze von einer rostigen Patina überzogen. Das ist die Schwerölraffinerie HOVENSA.
"Ich möchte mich nicht auf genaue Zahlen festlegen, aber angefangen hat es irgendwann in den 1970ern, vielleicht auch Ende der 1960er Jahre. Was ich genau weiß, das ist der Name des Standortes: Krause Lagoon. Das war eine riesige, ökologisch faszinierende Lagune. Da gab es Flamingos und Seekühe und eine unglaublich vielfältige Flora und Fauna, das wurde alles zerstört."
Ökologisch war es ein Desaster, das ist für La Vaughn keine Frage, aber ökonomisch habe HOVENSA die Insel jahrzehntelang stabilisiert. Die tägliche Produktionsmenge lag bis zu einer halben Million Barrel, bei Auslastung waren 2000 Arbeiter beschäftigt.
La Vaughn berichtet von einfachen Arbeitern mit Jahresgehältern um 70.000 US-Dollar, sie selbst hat als Spanisch-Lehrerin für HOVENSA-Angestellte gearbeitet, aber profitiert hat vor allem die Finanzbehörde der U.S. Virigin Islands und damit das ganze Territorium.
Nun – nach der Schließung der Erdöl-Erdölraffinerie – seien nur die Umweltschäden in St. Croix geblieben.
"In dem Jahr als die Raffinerie geschlossen hat, gab es Gasemissionen, die man nicht mehr verschleiern konnte. Fast hundert Schüler mussten ins Krankenhaus. HOVENSA hatte die Anlagen nicht gründlich gewartet und die Verschleißerscheinungen wurden sichtbar. Das US-Umweltamt hat der Firma eine Buße von fünf Millionen Dollar auferlegt und für 700 Millionen sollten sie die Anlage renovieren. Aber statt dessen meldete Hovensa Konkurs an.”
"Das hat unsere Ökonomie in eine schwere Krise gebracht, aus der wir immer noch versuchen heraus zu kommen. Die überdurchschnittlichen Einkommen der Raffineriearbeiter hatten ja so etwas wie eine Über-Mittelklasse geschaffen. Die wanderte plötzlich ab und trocknete den lokalen Markt aus, die Anbieter von Autos, Wohnungen bis hin zu den Banken, Restaurants und die Unterhaltungsbranche, das betrifft praktisch alle Aspekte unserer Ökonomie."
Feiern oder demonstrieren am Jubiläumstag?
Der 31. März dieses Jahres: 100. Jahrestag des Verkaufs der Dänisch-Westindischen Inseln an die USA. Eine festliche Parade mit Fahnenträger, Tambourmajor, Cheerleader und Kadetten, dazwischen die "Copenhagen Brass Jazzband".
Sehr zahlreich ist das Volk allerdings nicht erschienen, obwohl es ein offizieller Feiertag auf den Inseln ist. Am Ende des Festzuges protestiert sogar eine kleine Gruppe offen, sie tragen rote T-Shirts mit Botschaften wie: "Die 100-Jahr-Feier verletzt mein Recht auf Selbstbestimmung!" oder "Feiert nicht den Kolonialismus!"
Hoher Besuch: Dänemarks Ministerpräsident
Ein weiß-blaues Festzelt auf einer großen Wiese – umringt von einem gepflegten Ensemble gelber Kolonialbauten. Das jährliche Flaggenritual wird auch heute durchgeführt, aber heute sind ungewöhnlich viele Dänen dabei.
An einem Fahnenmast wird die dänische Flagge eingeholt und die amerikanische gehisst. Innen füllt sich das Festzelt, vorne sitzen der US-Innenminister als Chef der hiesigen Verwaltung, der Gouverneur der U.S. Virgin Islands Kenneth Mapp und der dänische Ministerpräsident Lars Loekke Rasmussen.
"Ich schlage vor, fragen wir uns selbst: Gibt es irgendeine Rechtfertigung für Unterdrückung? Irgend ein Argument dafür, diese Leute so brutal behandelt zu haben? Wir alle kennen die Antwort. Die Antwort ist nein! Es gibt keinerlei Rechtfertigung für die Ausbeutung von Männern, Frauen und Kindern die auf diesen Inseln unter dänischer Flagge stattgefunden haben. Es gibt keine Rechtfertigung für Sklaverei. Es ist unverzeihlich. Unverzeihlich."
Reparationen zahlt Dänemark nicht
Eine offizielle Entschuldigung spricht Dänemarks Regierungschef aber nicht aus. Er will offenbar keinen Präzedenzfall schaffen. Entschuldigung hieße Entschädigung. So hatte es der ehemalige Senator der U.S. Virgin Islands Adelbert Bryan schon 1998 gefordert. Auch heute ist er wieder da. Außerhalb des Zelts.
In der prallen Sonne. Er trägt ein gelbes T-Shirt mit dem Schriftzug:
"Reparationen jetzt! 1734 bis 1917 sind gleich 183 Milliarden US-Dollar. Und 1917 bis 2017 macht 100 Milliarden US-Dollar."
Der dänische Ministerpräsident bietet weniger: Von 2018 bis 2022 legt er ein Stipendien-Programm auf, das Studenten von der Westindischen Universität für je ein Semester ein Studium in Dänemark ermöglicht.