Buch über Eugenik

Der Wahn vom „unwerten“ Leben

06:44 Minuten
Cover des Buchs "Eugenische Phantasmen" von Dagmar Herzog
© Suhrkamp Verlag

Herzog, Dagmar

Übersetzt von Ulrike Bischoff

Eugenische Phantasmen. Eine deutsche GeschichteSuhrkamp Verlag, Berlin 2024

390 Seiten

36,00 Euro

Von Gesa Ufer · 14.07.2024
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Die US-Historikerin Dagmar Herzog gibt in „Eugenische Phantasmen“ einen Überblick des Denkens über Leben mit Behinderung in Deutschland. Und darüber, wie erschütternd lange sich das „rassenhygienische“ Konzept vom „unwerten Leben“ halten konnte.
Woher kamen Vorstellungen vom „unwerten Leben“, warum fanden sie in Deutschland ausgerechnet in den 1920er-Jahren so große Verbreitung, welche Rolle spielte die evangelische Kirche im Nationalsozialismus – gerade mit Blick auf Zwangssterilisierungen, und vor allem: Warum dauerte es nach 1945 so lange, bis die NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung gesühnt und überhaupt als Verbrechen anerkannt wurden? Diesen Fragen geht die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog nach.

Wer ist „brauchbar“?

Der Schwerpunkt ihrer Untersuchung liegt im 20. Jahrhundert. Hier zeigt Herzog, dass bereits 1920, also lange vor dem nationalsozialistischen Massenmord an rund 300.000 Menschen mit Behinderung, ein Schlüsseltext erschien, der ideologisch Jahrzehnte nachwirken sollte: Der Leipziger Juraprofessor Karl Binding und der Freiburger Psychiater Alfred Hoche beschrieben in ihrer schmalen Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. ihr Maß und ihre Form“ wer wann „brauchbar“ war und wer nicht: ökonomisch, aber - und das war vergleichsweise neu - auch im Sinne einer „Volksgesundheit“.

Nach 1933 und der Erlassung der NS-Sterilisierungsgesetze hätten sich, so Herzog, besonders protestantische Einrichtungen bei Zwangssterilisierungen „eifrig ans Werk gemacht“, in Bethel zum Beispiel mit einem buchstäblichen wöchentlichen „Sterilisationstag“.

Keine Zäsur nach 1945

Das Jahr 1945, so macht der Band anhand einer Fülle von Belegen klar, bedeutet noch lange keine Zäsur in der Geisteshaltung vieler Deutscher zur Eugenik. Eine juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen an Behinderten durch den Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer läuft ins Leere. Und noch Jahrzehnte später folgen Gerichtsurteile Hoches und Bindings Logik vom „unwerten Leben“.
Erst die 70er- und 80er-Jahre führen zu einem echten Paradigmenwechsel. Hier werden die großen Leistungen etwa der „Krüppelbewegung“ für West-Deutschland, aber auch das Engagement vieler Menschen in Ost-Deutschland gewürdigt, die es ermöglichten, dass Menschen mit Behinderung endlich als „vollwertige Menschen“ von der Gesellschaft gesehen und anerkannt wurden.
Auch wenn der Deutsche Bundestag erst 2011 die NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung als Verbrechen anerkannt hat: Dagmar Herzog macht Mut, wenn sie feststellt, dass das vor hundert Jahren geprägte Konzept vom „lebensunwerten Leben“ heute gesellschaftlich nicht mehr geduldet wird. Was für ein langer Weg noch vor uns liegt, um vollständige Teilhabe und Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderung zu erreichen und die Eugenik vollständig „zu verlernen“, das allerdings ahnt man nur nach dieser tief bewegenden, glänzend recherchierten Lektüre.
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