Dalos: Die Leute wollen ein "Zeichen setzen"
Nach Einschätzung des ungarischen Schriftstellers György Dalos wollen die Wähler bei der Abstimmung am Sonntag so manche Parteien auch für die Inlandspolitik bestrafen. "Die Leuten gehen zu diesen Urnen jetzt, um ein bisschen in der ungarischen Politik ein Zeichen zu setzen", sagte Dalos.
Dieter Kassel: In einigen Staaten haben die Europawahlen bereits begonnen. Nicht mal das hat Europa gemeinsam, der Sonntag als Wahltag ist in den meisten Ländern üblich, aber nicht in allen. Deshalb wurde in den Niederlanden und in Großbritannien bereits gewählt. In Ungarn aber, dort wird genau wie bei uns in Deutschland erst am Sonntag gewählt. Und aus Ungarn stammt unser heutiger Gast, mit dem wir unsere kleine Reihe mit Gesprächen mit Schriftstellern aus mittel- und osteuropäischen EU-Ländern abschließen wollen.
György Dalos wurde 1943 in Budapest geboren. Er lebt seit vielen Jahren hauptsächlich in Berlin, war hier unter anderem von 1995 bis 99 Leiter des ungarischen Kulturinstituts, des Ungarn-Hauses in Berlin. Er hat viele Romane geschrieben, ist für die bekannt geworden, der letzte vor zwei Jahren war "Jugendstil". Das allerletzte Buch aber ist ein Sachbuch mit dem Titel "Der Vorhang geht auf". Darin geht es um das Ende der osteuropäischen Diktaturen. Nicht darüber, sondern über den Anfang der EU-Mitgliedschaft von Ungarn, die ersten fünf Jahre, wollen wir mit György Dalos jetzt reden. Er ist bei uns im Studio zu Gast. Schönen guten Tag!
György Dalos: Guten Tag!
Kassel: Herr Dalos, als Ungarn EU-Mitglied wurde vor ungefähr fünf Jahren, da haben Sie in einem Interview auch in Deutschland gesagt, das wäre viel zu spät, die große Euphorie nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, die sei längst vorbei, das hätte eigentlich schneller passieren müssen. Man kann das nicht mehr ändern, aber jetzt sind fünf Jahre vergangen, seit fünf Jahren ist Ungarn ein EU-Land. Wie ist das denn jetzt heute in Ungarn? Gibt’s da eine EU-Euphorie?
Dalos: Ich glaube, nichts davon gibt es mehr. Es gibt schon eine Kenntnisnahme der Tatsache, dass Ungarn in der EU gleichrangiges Mitglied geworden ist, aber diese 15 Jahre, ich glaube, während der Zeit Ungarn an dem Tor geklopft hat, die sind nicht spurlos vorbeigegangen, ebenso wie auch nicht die ökonomische Transformation, die eine Menge gekostet hat der Bevölkerung.
Es gab Zeiten, wo man ruhig sagen konnte, dass 70 Prozent der Bevölkerung als Verlierer dieser Wende, dieser demokratischen Umgestaltung wurde, vor allem aus ökonomischen Gründen, und natürlich die Tatsache, dass viele Ungarn in 88/89 dachten, dass sie aufgrund der speziellen Verdienste der ungarischen Gesellschaft, sagen wir, um die Lösung der deutschen Frage vielleicht eine privilegierte oder bevorzugte Behandlung erfahren würde, die sind natürlich enttäuscht worden.
Kassel: Wie ist es in Ungarn mit den EU-Gegnern? Es gibt ja Nationalisten in Ungarn, es gibt auch Rechtsradikale, sind das wichtige Kräfte, die wirklich eine EU-Mitgliedschaft, auch jetzt nach fünf Jahren, noch ablehnen?
Dalos: Da müssen wir doch manche Sachen unterscheiden. Es gibt bewusste politische Kräfte, die aus populistischen Gründen oder aus irgendwelcher Rechnung gegen die EU hetzen. Es gibt inzwischen auch das, vor allem in dem Internetbereich der neuen Rechten. Aber es gibt Menschen, die tatsächlich einfach skeptisch sind, weil sie den Erfolg, dass Ungarn in der EU ist, daran messen, ob sie heute besser leben als gestern und ob sie morgen nicht schlechter leben werden als heute. Und das kann man verstehen.
Alle unsere Probleme sind europäische Probleme, und seit wir in der EU sind, wir können nicht mehr so hoch auf die EU blicken, weil wir drin sind. Und diese Hoffnung, dass es uns besser gehen wird, hängt nicht zuletzt auch von uns selber ab. Und hier gibt es besonders im wirtschaftlichen Bereich wirklich die Tatsache, dass wenn ein Ackerbauer einerseits schlecht seinen Acker bebauen kann und zweitens auch das Wetter schlecht ist, dann neigt er vielleicht dazu manchmal, alles auf das schlechte Wetter zu schieben, und gleichzeitig wissen wir, was die eigene Fehlleistung ist. So ist auch mit der sozialliberalen Regierung Ungarns vor der Krise, lange vor der Krise, hat diese Regierung ziemlich viele Versäumnisse gemacht, die jetzt uns diesen Übergang in dieser Krisenzeit noch schwieriger machen.
Kassel: Werden denn die Europawahlen am Sonntag – in Ungarn sind sie ja wie bei uns am Sonntag – werden die voraussichtlich von den Wahlberechtigten in Ungarn ausgenutzt werden, um die Parteien für die Inlandspolitik zu bestrafen oder auch zu belohnen, oder ist es so wie in vielen Ländern, dass die Europawahlen eigentlich uninteressant sind, weil immer noch die nationale Politik wichtiger ist?
Dalos: Das jedenfalls, weil die Leute gehen zu diesen Urnen jetzt, um ein bisschen in der ungarischen Politik ein Zeichen zu setzen. Und das ist eben das Problem, dass diejenigen, die nicht hingehen, auch eine Meinung haben und zum Ausdruck bringen, weil das Nichthingehen bedeutet, und das ist jetzt nach allen Meinungsforschern der Fall bei den linken Wählern, relativen Linken.
Links und rechts definieren sich in Ungarn immer auf Bezug der anderen Seite, also nicht ganz entspricht das der historischen Begrifflichkeit. Also die Leute gehen nicht hin, weil sie ihren Glauben verloren haben an den bisherigen Parteien, gleichzeitig ist das zu erwarten, dass im Rahmen des, also wie man erwartet, ungefähr 35 bis 40 Prozent Leute, die ihre Stimmen abgeben würden, dass in diesem Rahmen eindeutig die Rechte, also rechtskonservative Fidesz-Wähler, und die rechtsradikale Wählerschaft teilnehmen werden, weswegen wir damit rechnen, dass außer einem eindeutigen Fidesz-Erfolg können wir auch mit ein oder zwei Mandaten für die rechtsradikalen Ungarn rechnen.
Kassel: Die Menschen, die in Ungarn die Rechtsradikalen vielleicht wählen werden bei dieser Wahl, vielleicht dann auch später bei der Parlamentswahl, sind das, wie man in Deutschland oft sagt, zum Teil die sogenannten Protestwähler, also die wirklich die anderen Parteien ärgern wollen, die denen sagen wollen, mit dieser Politik, die die drei großen Parteien abwechselnd gemacht haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, sind wir nicht zufrieden, oder sind das wirklich überzeugte, also die Wähler auch, überzeugte Rechtsradikale, die wirklich aus ihrer Ideologie heraus solche Parteien wählen?
Dalos: Es gibt in Ungarn, also wenn man so ein bisschen ideologisch diese Gesellschaft aufteilt, es gibt konservative Menschen, es gibt religiös-konservative Menschen, es gibt Nationalisten, und es gibt Anhänger einer liberalen Demokratie und ein bisschen Anhänger des alten Systems, mehr Anhänger übrigens, als das die offiziellen Stimmen für eine winzige kommunistische Partei zeigen. Das heißt, Ungarn ist sehr vielschichtig, und die Rechtsradikalen, glaube ich nicht, dass die Rechtsradikalen in der Bevölkerung in diesem Sinne eine allzu starke Unterstützung hätten. Protestwähler gibt es auch jede Menge, vor allem – und das ist sehr merkwürdig – nicht aus den völlig verarmten Schichten, sondern eher aus den Schichten, die vor einer weiteren Verarmung Angst haben.
Kassel: Wir haben jetzt, Herr Dalos, ganz viel über soziale Fragen, schlicht und ergreifend auch über Wirtschaft und Geld geredet, und das ist ja auch in jedem Land wichtig und ein wichtiges EU-Thema, aber ein einheitliches Europa ist ja mehr. In diesen fünf Jahren Mitgliedschaft jetzt ist, vielleicht jetzt auch aus Sicht der Intellektuellen, der gebildeteren Kreise, Ungarn auch näher nach Europa gerückt, und es gibt ja Länder wie Tschechien, wie Polen, die immer gesagt haben, wir sind auch nicht Osteuropa, wir sind Mitteleuropa und wir haben immer dazugehört, das ist ganz logisch. Ungarn liegt ja auch geografisch doch etwas weiter weg von der Mitte, hat historisch mal mit dem mehr zu tun gehabt, mal mit dem. Ist Ungarn durch diese Mitgliedschaft stärker in Europa angekommen?
Dalos: Ungarn war in den 60er-, 70er-Jahren, also in dieser zweiten Phase der sozialistischen Einrichtung, näher an Westeuropa.
Kassel: Als heute?
Dalos: Nein, als die anderen.
Kassel: Als die anderen, ja.
Dalos: Und in Ungarn gab es auch aufgrund dieser kleinen Freiheiten der liberalen Ära Kádár doch mehr Kontakte aufgrund der dramatischen Flucht von 200.000 Ungarn nach 1956. Nach dem Aufstand waren diese Kontakte alltäglich. Das heißt, dass Ungarn in diesem Sinne reifer für die westliche Annährung und auch für die Integration war.
Das Problem liegt eher daran, dass diese Integration kulturell schwieriger ist, nicht zuletzt deswegen, weil die ungarische Kultur und die ungarische Sprache historisch etwas isoliert gewesen war. Selbstverständlich waren in allen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages Westsprachen weniger gefördert, und mit dieser sprachlichen Isolierung fällt der alten und der mittleren Generation viel schwieriger, sich im Ausland auszutauschen.
Es geht völlig anders bei den Jungen. Die junge Generation lernt die Sprachen, sie reist, sie reist unbefangen, sie hat keine Probleme, und ich erwarte von dieser Generation eine unbefangene Haltung gegenüber dem Westen, weil wir waren noch ein bisschen gehemmt. Wir sind in den 70er-Jahren mit unserer 30-Tage-Ausreiseerlaubnis und verpackt mit allen möglichen Konserven und Salami nach Westen als arme Verwandte, und irgendwie war noch meine Generation wirklich immer in Verlegenheit, wenn man den kulturellen Unterschied sah. Und ich hoffe, dass die jungen Leute das alles schon als etwas völlig Natürliches erleben.
Kassel: Danke, dass Sie bei uns waren.
Dalos: Sehr gerne.
Kassel: Mit diesem Gespräch mit dem ungarischen Autor György Dalos haben wir unsere kleine Serie mit Gesprächen mit Schriftstellern aus EU-Staaten beendet. Sie können aber all die Gespräche, wenn Sie möchten, immer noch hören, und zwar im Internet, unter www.dradio.de. Und Sie können über Europa diskutieren, morgen Vormittag in unserem "Radiofeuilleton – Im Gespräch", zwei Gesprächspartner, mit denen Sie darüber reden können, was uns allen Europa eigentlich bringen soll.
György Dalos wurde 1943 in Budapest geboren. Er lebt seit vielen Jahren hauptsächlich in Berlin, war hier unter anderem von 1995 bis 99 Leiter des ungarischen Kulturinstituts, des Ungarn-Hauses in Berlin. Er hat viele Romane geschrieben, ist für die bekannt geworden, der letzte vor zwei Jahren war "Jugendstil". Das allerletzte Buch aber ist ein Sachbuch mit dem Titel "Der Vorhang geht auf". Darin geht es um das Ende der osteuropäischen Diktaturen. Nicht darüber, sondern über den Anfang der EU-Mitgliedschaft von Ungarn, die ersten fünf Jahre, wollen wir mit György Dalos jetzt reden. Er ist bei uns im Studio zu Gast. Schönen guten Tag!
György Dalos: Guten Tag!
Kassel: Herr Dalos, als Ungarn EU-Mitglied wurde vor ungefähr fünf Jahren, da haben Sie in einem Interview auch in Deutschland gesagt, das wäre viel zu spät, die große Euphorie nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, die sei längst vorbei, das hätte eigentlich schneller passieren müssen. Man kann das nicht mehr ändern, aber jetzt sind fünf Jahre vergangen, seit fünf Jahren ist Ungarn ein EU-Land. Wie ist das denn jetzt heute in Ungarn? Gibt’s da eine EU-Euphorie?
Dalos: Ich glaube, nichts davon gibt es mehr. Es gibt schon eine Kenntnisnahme der Tatsache, dass Ungarn in der EU gleichrangiges Mitglied geworden ist, aber diese 15 Jahre, ich glaube, während der Zeit Ungarn an dem Tor geklopft hat, die sind nicht spurlos vorbeigegangen, ebenso wie auch nicht die ökonomische Transformation, die eine Menge gekostet hat der Bevölkerung.
Es gab Zeiten, wo man ruhig sagen konnte, dass 70 Prozent der Bevölkerung als Verlierer dieser Wende, dieser demokratischen Umgestaltung wurde, vor allem aus ökonomischen Gründen, und natürlich die Tatsache, dass viele Ungarn in 88/89 dachten, dass sie aufgrund der speziellen Verdienste der ungarischen Gesellschaft, sagen wir, um die Lösung der deutschen Frage vielleicht eine privilegierte oder bevorzugte Behandlung erfahren würde, die sind natürlich enttäuscht worden.
Kassel: Wie ist es in Ungarn mit den EU-Gegnern? Es gibt ja Nationalisten in Ungarn, es gibt auch Rechtsradikale, sind das wichtige Kräfte, die wirklich eine EU-Mitgliedschaft, auch jetzt nach fünf Jahren, noch ablehnen?
Dalos: Da müssen wir doch manche Sachen unterscheiden. Es gibt bewusste politische Kräfte, die aus populistischen Gründen oder aus irgendwelcher Rechnung gegen die EU hetzen. Es gibt inzwischen auch das, vor allem in dem Internetbereich der neuen Rechten. Aber es gibt Menschen, die tatsächlich einfach skeptisch sind, weil sie den Erfolg, dass Ungarn in der EU ist, daran messen, ob sie heute besser leben als gestern und ob sie morgen nicht schlechter leben werden als heute. Und das kann man verstehen.
Alle unsere Probleme sind europäische Probleme, und seit wir in der EU sind, wir können nicht mehr so hoch auf die EU blicken, weil wir drin sind. Und diese Hoffnung, dass es uns besser gehen wird, hängt nicht zuletzt auch von uns selber ab. Und hier gibt es besonders im wirtschaftlichen Bereich wirklich die Tatsache, dass wenn ein Ackerbauer einerseits schlecht seinen Acker bebauen kann und zweitens auch das Wetter schlecht ist, dann neigt er vielleicht dazu manchmal, alles auf das schlechte Wetter zu schieben, und gleichzeitig wissen wir, was die eigene Fehlleistung ist. So ist auch mit der sozialliberalen Regierung Ungarns vor der Krise, lange vor der Krise, hat diese Regierung ziemlich viele Versäumnisse gemacht, die jetzt uns diesen Übergang in dieser Krisenzeit noch schwieriger machen.
Kassel: Werden denn die Europawahlen am Sonntag – in Ungarn sind sie ja wie bei uns am Sonntag – werden die voraussichtlich von den Wahlberechtigten in Ungarn ausgenutzt werden, um die Parteien für die Inlandspolitik zu bestrafen oder auch zu belohnen, oder ist es so wie in vielen Ländern, dass die Europawahlen eigentlich uninteressant sind, weil immer noch die nationale Politik wichtiger ist?
Dalos: Das jedenfalls, weil die Leute gehen zu diesen Urnen jetzt, um ein bisschen in der ungarischen Politik ein Zeichen zu setzen. Und das ist eben das Problem, dass diejenigen, die nicht hingehen, auch eine Meinung haben und zum Ausdruck bringen, weil das Nichthingehen bedeutet, und das ist jetzt nach allen Meinungsforschern der Fall bei den linken Wählern, relativen Linken.
Links und rechts definieren sich in Ungarn immer auf Bezug der anderen Seite, also nicht ganz entspricht das der historischen Begrifflichkeit. Also die Leute gehen nicht hin, weil sie ihren Glauben verloren haben an den bisherigen Parteien, gleichzeitig ist das zu erwarten, dass im Rahmen des, also wie man erwartet, ungefähr 35 bis 40 Prozent Leute, die ihre Stimmen abgeben würden, dass in diesem Rahmen eindeutig die Rechte, also rechtskonservative Fidesz-Wähler, und die rechtsradikale Wählerschaft teilnehmen werden, weswegen wir damit rechnen, dass außer einem eindeutigen Fidesz-Erfolg können wir auch mit ein oder zwei Mandaten für die rechtsradikalen Ungarn rechnen.
Kassel: Die Menschen, die in Ungarn die Rechtsradikalen vielleicht wählen werden bei dieser Wahl, vielleicht dann auch später bei der Parlamentswahl, sind das, wie man in Deutschland oft sagt, zum Teil die sogenannten Protestwähler, also die wirklich die anderen Parteien ärgern wollen, die denen sagen wollen, mit dieser Politik, die die drei großen Parteien abwechselnd gemacht haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, sind wir nicht zufrieden, oder sind das wirklich überzeugte, also die Wähler auch, überzeugte Rechtsradikale, die wirklich aus ihrer Ideologie heraus solche Parteien wählen?
Dalos: Es gibt in Ungarn, also wenn man so ein bisschen ideologisch diese Gesellschaft aufteilt, es gibt konservative Menschen, es gibt religiös-konservative Menschen, es gibt Nationalisten, und es gibt Anhänger einer liberalen Demokratie und ein bisschen Anhänger des alten Systems, mehr Anhänger übrigens, als das die offiziellen Stimmen für eine winzige kommunistische Partei zeigen. Das heißt, Ungarn ist sehr vielschichtig, und die Rechtsradikalen, glaube ich nicht, dass die Rechtsradikalen in der Bevölkerung in diesem Sinne eine allzu starke Unterstützung hätten. Protestwähler gibt es auch jede Menge, vor allem – und das ist sehr merkwürdig – nicht aus den völlig verarmten Schichten, sondern eher aus den Schichten, die vor einer weiteren Verarmung Angst haben.
Kassel: Wir haben jetzt, Herr Dalos, ganz viel über soziale Fragen, schlicht und ergreifend auch über Wirtschaft und Geld geredet, und das ist ja auch in jedem Land wichtig und ein wichtiges EU-Thema, aber ein einheitliches Europa ist ja mehr. In diesen fünf Jahren Mitgliedschaft jetzt ist, vielleicht jetzt auch aus Sicht der Intellektuellen, der gebildeteren Kreise, Ungarn auch näher nach Europa gerückt, und es gibt ja Länder wie Tschechien, wie Polen, die immer gesagt haben, wir sind auch nicht Osteuropa, wir sind Mitteleuropa und wir haben immer dazugehört, das ist ganz logisch. Ungarn liegt ja auch geografisch doch etwas weiter weg von der Mitte, hat historisch mal mit dem mehr zu tun gehabt, mal mit dem. Ist Ungarn durch diese Mitgliedschaft stärker in Europa angekommen?
Dalos: Ungarn war in den 60er-, 70er-Jahren, also in dieser zweiten Phase der sozialistischen Einrichtung, näher an Westeuropa.
Kassel: Als heute?
Dalos: Nein, als die anderen.
Kassel: Als die anderen, ja.
Dalos: Und in Ungarn gab es auch aufgrund dieser kleinen Freiheiten der liberalen Ära Kádár doch mehr Kontakte aufgrund der dramatischen Flucht von 200.000 Ungarn nach 1956. Nach dem Aufstand waren diese Kontakte alltäglich. Das heißt, dass Ungarn in diesem Sinne reifer für die westliche Annährung und auch für die Integration war.
Das Problem liegt eher daran, dass diese Integration kulturell schwieriger ist, nicht zuletzt deswegen, weil die ungarische Kultur und die ungarische Sprache historisch etwas isoliert gewesen war. Selbstverständlich waren in allen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages Westsprachen weniger gefördert, und mit dieser sprachlichen Isolierung fällt der alten und der mittleren Generation viel schwieriger, sich im Ausland auszutauschen.
Es geht völlig anders bei den Jungen. Die junge Generation lernt die Sprachen, sie reist, sie reist unbefangen, sie hat keine Probleme, und ich erwarte von dieser Generation eine unbefangene Haltung gegenüber dem Westen, weil wir waren noch ein bisschen gehemmt. Wir sind in den 70er-Jahren mit unserer 30-Tage-Ausreiseerlaubnis und verpackt mit allen möglichen Konserven und Salami nach Westen als arme Verwandte, und irgendwie war noch meine Generation wirklich immer in Verlegenheit, wenn man den kulturellen Unterschied sah. Und ich hoffe, dass die jungen Leute das alles schon als etwas völlig Natürliches erleben.
Kassel: Danke, dass Sie bei uns waren.
Dalos: Sehr gerne.
Kassel: Mit diesem Gespräch mit dem ungarischen Autor György Dalos haben wir unsere kleine Serie mit Gesprächen mit Schriftstellern aus EU-Staaten beendet. Sie können aber all die Gespräche, wenn Sie möchten, immer noch hören, und zwar im Internet, unter www.dradio.de. Und Sie können über Europa diskutieren, morgen Vormittag in unserem "Radiofeuilleton – Im Gespräch", zwei Gesprächspartner, mit denen Sie darüber reden können, was uns allen Europa eigentlich bringen soll.