"Damals war Aufbruchstimmung"

Ernst Ulrich von Weizsäcker im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.06.2012
Über 100 Staats- und Regierungschefs treffen sich zum Rio+20-Gipfel, der 20 Jahre nach der ersten großen internationalen Konferenz zum Umweltschutz in Rio stattfindet. Die damals verabschiedete Agenda 21 blieb jedoch "total unterfinanziert", meint der Naturwissenschaftler und Philosoph Ernst Ulrich von Weizsäcker, der schon 1992 dabei war.
Dieter Kassel: Ab heute treffen sich in Brasilien Vertreter von rund 120 Staaten, darunter etliche Staats- und Regierungschefs zusammen mit Tausenden Vertretern von Nichtregierungsorganisationen zum Welt-Umwelt- und -Nachhaltigkeitsgipfel Rio plus 20. Das heißt, sie treffen sich genau dort, wo vor fast auf den Tag genau 20 Jahren die erste Konferenz dieser Art stattfand, in Rio. Und damals mit dabei, in seiner Funktion als Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, war Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker. Er ist inzwischen mehr oder weniger als Privatmann auch dieses Jahr wieder in Rio und wegen der Zeitverschiebung habe ich gestern Abend schon mit ihm gesprochen und zunächst mal zurückgeblickt: Meine erste Frage an Ernst Ulrich von Weizsäcker lautete nämlich, mit welchen Erwartungen er damals vor 20 Jahren nach Rio gefahren sei?

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Damals war Aufbruchstimmung. Ich hatte ein bisschen mitbekommen die Vorbereitungsarbeit, wo die Agenda 21 ausgearbeitet worden ist, und damals sprachen alle Leute von den sogenannten Friedensdividenden, die man abkassieren könne, nachdem der Ost-West-Konflikt zu Ende war. Und man rechnete aus, dass da also so etwas wie 500 Milliarden Dollar jährlich frei würden von Militärhaushalten. Und dieses sollte dann zu ungefähr einem Fünftel, also 100 Milliarden, in die Agenda 21 fließen für eine Ökologisierung und Entwicklung der Welt, also insbesondere der armen Länder.

Kassel: Wenn Sie heute zurückblicken auf 92, waren manche der Erwartungen an diesen Gipfel, vielleicht auch Ihre eigenen, rückblickend betrachtet naiv?

von Weizsäcker: Ja, in Bezug auf die Friedensdividenden … Ich habe das natürlich nie geglaubt damals, aber es ist ja dann ein Prozess eingesetzt, der das ganze Geld aufgefressen hat in Form von Steuererleichterungen insbesondere für das Kapital, für die Reichen, für Vermögen und so weiter. Das haben die Amerikaner absolut strategisch gezielt eingesetzt. Und im Übrigen war dann rückblickend gesehen das eigentliche Ereignis von Rio de Janeiro gar nicht mehr die Agenda 21, die total unterfinanziert blieb, sondern die Verabschiedung der Klimakonvention und der Biodiversitätskonvention. Und in Sachen Wälder, Wüsten und so weiter hat man auch einiges beschlossen und die sogenannten Rio-Prinzipien, auf die man heute wieder rekurriert.

Kassel: Wenn wir trotzdem mal auf die Agenda 21 schauen, die war ja nun das Ergebnis dieses Gipfels 92, das ist ein sehr umfangreiches Dokument, in dem, wenn man das so überspitzt formulieren will, eigentlich alles erwähnt wird, was damals und eigentlich auch heute in der Welt nicht in Ordnung war im Bezug auf Umweltschutz, Nachhaltigkeit und auch soziale Fragen. Hat man da vielleicht zu viel auf einmal gewollt?

von Weizsäcker: Ach, ich finde, das war schon richtig, dass man das gemacht hat, dass man einmal die großen Probleme der Menschheit angesprochen und einigermaßen brauchbare Lösungsvorschläge eingebracht hat. Nur, es wurde nicht finanziert. Der Norden, der das Ganze zu finanzieren gehabt hätte, nämlich diese 100 Milliarden plus – das wurde dann immer auch gesagt – 500 Milliarden, die aus den Entwicklungsländern selber sowieso kommen im Rahmen ihrer Entwicklung, das ist dann einfach nicht passiert. Und dann, was im Wesentlichen übrig blieb, war die lokale Agenda 21, da hat es dann insbesondere in Deutschland, in den Niederlanden und in einigen anderen Staaten aktive Gruppen gegeben, die das Thema Nachhaltigkeit richtig nach vorne geschoben haben.

Kassel: Kommen wir ins Hier und Jetzt, kommen wir zu Rio plus 20: Sind die Fragen, die da beantwortet werden müssen, wirklich andere oder sind es im Grunde genommen die gleichen wie vor 20 Jahren?

von Weizsäcker: Es sind in gewissem Sinne die gleichen Fragen, aber sehr verschärft. Inzwischen haben wir über eine Milliarde Menschen zusätzlich. Im Übrigen haben wir ein gigantisch angewachsenes Konsumverhalten, wir haben heute nicht mehr in der Größenordnung von einer Milliarde, sondern eher von drei Milliarden weltweit Mittelklasse, Mittelschicht, mit den entsprechenden Konsumgewohnheiten. Es hat gewissermaßen eine Amerikanisierung der Welt stattgefunden, auch in China und Indien. Und dieses hat die ökologischen Probleme dramatisch verschärft. Im Übrigen ist inzwischen einfach der Zeitgeist aus dem angelsächsischen Raum kommend, dass der Staat ausgedient habe und dass man alles dem Markt überlasse, über die Welt hinweggefegt und hat den Staaten praktisch ihre Einflussmöglichkeiten geraubt.

Kassel: Ist denn diese Idee gerade im Bezug auf "der Staat muss es nicht richten, die Wirtschaft muss es nicht richten", ist die auch die Mutter dieses neuen – so neu ist er nicht mehr, aber dieses zurzeit sehr aktuellen – Gedankens der Green Economy, also der grünen Wirtschaft, die ja wohl eine sehr große Rolle in diesem Jahr in Rio spielt?

von Weizsäcker: Green Economy war eine sehr kluge Idee von Achim Steiner, dem Exekutivdirektor des UNO-Umweltprogramms, der sagte, natürlich brauchen wir Entwicklung in den Entwicklungsländern, und das ist eben auch Wirtschaft, aber die Umwelt der Welt hält das gar nicht aus! Also, wir müssen unbedingt eine andere Art von Wirtschaft entwickeln und die Entwicklungsländer wären gut beraten, wenn sie nicht erst mal alle Infrastruktur- und Technologiefehler und Zivilisationsfehler der Amerikaner und Europäer nachmachen, sondern dass sie von vornherein eine Green Economy anstreben. Die mögen das aber nicht.

Kassel: Aber haben wir da nicht, Herr von Weizsäcker, auch ein moralisches Dilemma? Es klingt ja sehr vernünftig, zu sagen, ihr könnt aus unseren Fehlern lernen, ihr müsst die Fehler nicht alle noch mal selber machen; aber andererseits, wenn nun die Nordamerikaner, die Mittel- und Westeuropäer und vielleicht noch die Japaner und Australier sagen, wir haben 40, 50 Jahre lang zu große Autos gefahren, wir haben 40, 50 Jahre lang viele andere Umweltsünden begangen, ihr macht das jetzt nicht: Ist das nicht auch eine moralische Frage? Die haben jetzt eine Wirtschaft, die boomt, die können sich Autos leisten, die wollen das natürlich auch machen!

von Weizsäcker: Ja, ja, selbstverständlich, ich verstehe die sehr gut! Was ich falsch finde aufseiten der Rhetorik der Entwicklungsländer, ist: Wenn wir jetzt auf ökologische Wirtschaft gehen müssen, dann brauchen wir Riesensummen Geld von euch und Technologietransfer, und zwar geschenkt! – Das ist großer Unsinn, denn der allergrößte Teil der ökologischeren Wirtschaft hat nichts mit patentierten Technologien zu tun. Also, zum Beispiel das deutsche Passivhaus, das erfordert im Wesentlichen vernünftige Architekten, die es dort auch gibt, vernünftige Baumeister und was es alles gibt, also Installateure. Das sind Dinge, die ohne Weiteres lernbar sind, die sind nicht patentgeschützt. Von daher ist der Begriff Technologietransfer, wie er hier in Rio verhandelt wird, ein bisschen neben dem Problem.

Kassel: Sie haben den Begriff Zeitgeist vorhin schon erwähnt, da ging es zwar um etwas anderes, aber bei Zeitgeist geht mir durch den Kopf, dass 1992 in Rio Bundeskanzler Helmut Kohl da war, Bundeskanzlerin Angela Merkel fährt nicht zu Rio+20, der britische Premierminister David Cameron fährt nicht und Barack Obama kommt auch nicht. Sagt das was über den Zeitgeist, ist es den großen Politikern heute nicht mehr so wichtig, eine solche Veranstaltung?

von Weizsäcker: Ich nehme mal zugunsten der drei Genannten an, dass sie das Thema genau so wichtig finden wie ihre Vorgänger vor 20 Jahren. Aber an einer Sache, wo seit Monaten klar ist, dass die Fronten zwischen Nord und Süd total verhärtet sind, und dass eigentlich die sogenannten BRICS-Länder das Geschehen bestimmen, das sind also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die großen, aufstrebenden Entwicklungsländer, und die lassen sich vom Norden nichts mehr sagen. Die lassen sich vom Süden applaudieren, aber machen intern häufig eine Politik, die gar nicht umweltverträglich ist.

Kassel: Sehen Sie denn unter diesen Umständen überhaupt eine Chance, dass es am Ende ein halbwegs sinnvolles und die Welt weiterbringendes Abschlussdokument geben kann? Es gibt ja wohl schon einen Entwurf der Brasilianer, von dem viele Insider – gerade in Deutschland der BUND hat das heute wieder kritisiert – sagen, wenn es bei diesem Entwurf bleibt, dann kann man sich die Konferenz schenken, weil, der ist so wasserweich, darauf wird man sich nie in einer Reform beziehen können.

von Weizsäcker: Ja, das war in der Tat eine Art von heldenhafter Geschichte vonseiten der Brasilianer, überhaupt aus diesen total verhärteten Fronten wenigstens so was wie die Konsensteile zu destillieren. Aber das ist eben herzlich wenig. Immerhin ist man eben auch den Bitten des Nordes, insbesondere der Amerikaner, nachgekommen, den Technologietransfer nicht mehr im Titel zu haben und bei der Finanzierung weiche Formulierungen zu benutzen.

Da wird ja immer noch die naive Vorstellung gepflegt seitens des Südens, dass der Staat des Nordens die große Finanzmaschine ist. Die Staaten des Nordens sind ja stärker verschuldet als die des Südens! Und dass die nun so was wie 30 Milliarden Euro oder Dollar jährlich produzieren sollen für eine Green Economy weltweit, das ist ja so total außerhalb jeder Realität! Und von daher kann man sagen, der brasilianische Entwurf ist an der Stelle einfach ein Stück realistischer. Es wäre trotzdem ganz vernünftig, wenn man auf dieser Basis einen Text zustande kriegt. Denn die eigentlichen Gegner sind diejenigen, die die UNO kaputtreden wollen und sagen, es ist überhaupt nichts rausgekommen!

Kassel: Namens?

von Weizsäcker: USA.

Kassel: Zum Schluss: Wir haben begonnen mit dem Rückblick, wo stehen wir jetzt? Sie haben jetzt sowohl die nationale deutsche, als auch insbesondere die internationale Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik Jahrzehnte beobachtet, Herr von Weizsäcker, haben gesagt, große Aufbruchstimmung 92 in Rio, die vielleicht auch angemessen, aber im Nachhinein auch ein bisschen übertrieben war. Jetzt hat der ganz offizielle Hauptteil von Rio+20 noch gar nicht begonnen und alle sind schon pessimistisch. Ist das auch wieder übertrieben oder sind die Zeiten wirklich schlecht im Moment für die Zukunft des Umweltschutzes?

von Weizsäcker: Im Moment regiert, soviel ich sehe, mit Ausnahme von Butan in allen Ländern ein Zeitgeist der anthropozentrischen, ökonomistischen Weltsicht. Und das geht aus dem angelsächsischen Raum hervor, die haben das immer so gesehen oder seit sehr, sehr langer Zeit, und hat sich nach 1990, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, über die ganze Welt ausgebreitet. Solange der Ost-West-Konflikt da war, musste sich das Kapital mit dem Staat arrangieren, als Bollwerk gegen den Kommunismus. Dieses Problem ist dem Kapital sozusagen abhandengekommen, und jetzt benehmen sich die Märkte, die Kapitaleigner unglaublich arrogant gegenüber den Staaten. Die Staaten haben nicht mehr viel zu sagen!

Kassel: Sagt der Naturwissenschaftler und Umweltaktivist Ernst Ulrich von Weizsäcker. Er war dabei 1992, beim ersten Umweltgipfel in Rio, und er ist jetzt auch wieder vor Ort zur Jubiläumsveranstaltung Rio plus 20, deshalb haben wir das Gespräch mit ihm gestern aufgezeichnet.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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