"Damit die Noten reif werden …"

Von Ulli Schauen |
Für Orchester-Dirigenten, die noch nicht den großen Durchbruch geschafft haben, sind Dirigentenwettbewerbe wie der derzeit in Sofia stattfindende wichtige Ereignisse. Auch Paul MacAlindin hat sich um eine Teilnahme bemüht. Bei der Vorbereitung ist das Studium der Partitur wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Entscheidend sei der Prozess, "damit die Noten reif werden", meint der 38-jährige Brite.
Ein 38-jähriger Mann mit zerzausten langen braunen Haaren vor einem elektronischen Piano. In seinem kleinen Appartement im Kölner Studentenviertel arbeitet Paul MacAlindin eine Partitur durch, für einen Dirigentenwettbewerb, bei dem er sich beworben hat. Nach wenigen Tagen hat er so die Partitur von Tschaikowskis Romeo und Julia im Kopf ...

"... aber dann beginnt ein Prozess, damit die Noten reif werden, durch das Studium, durch die Proben mit der Technik und so weiter. Die Noten sind überhaupt nicht wichtig, die Musik, die man aus den Noten hervor bringen kann, ist am wichtigsten."

Wenn die Partitur durchgearbeitet ist und wenn er einen Eindruck davon hat, wie es klingen soll, ...

"... dann stellt sich Paul MacAlindin in sein Appartement und übt die Bewegungen des Dirigierens, manchmal vor einem Spiegel, manchmal mit Videokamera."

" ... dann muss ich mich um bestimmte Bewegungen kümmern, damit die sauber sind."

Der erste Eindruck ist entscheidend, sagt Paul MacAlindin. Es ist wie in der Liebe. Ob das Orchester tut, was der Dirigent will, oder ob es sich widersetzt - bei einem Dirigentenwettbewerb kommt es auf die ersten zehn Minuten an. Danach ist der Dirigent nur noch ein mehr oder weniger eleganter Hampelmann, auf den das Orchester schaut - oder auch nicht.

"Man hat eine Menge Tricks, damit die Leute reagieren auf die gewünschte Art, zum Beispiel Augenkontakt ist sehr wichtig - oder auch Nicht-Augenkontakt. Wenn man zum Beispiel weiß, dass in ein paar Takten ein schwieriges Trompetensolo kommt, dann muss man einfach nicht Augenkontakt mit dem Trompetenspieler machen, weil er würde sonst so genervt werden."

MacAlindin will sich unterscheiden von denen in seiner Profession, die für die Kamera dirigieren statt für das musikalische Gefühl.

"Die meisten sehen fantastisch aus, wenn sie auf der Bühne auftreten, aber sie vergessen, dass ihr erster Job ist, die Struktur eines Meisterwerkes zu artikulieren, damit die Instrumentalisten dem Stück einen bedeutungsvollen Ausdruck geben können."

Dirigenten sind ihm zu sehr Schauspieler geworden, und ...

"Unsere CD-Kultur hat uns mehr in die Richtung einer oberflächlichen Perfektion gebracht, statt was man von den älteren Aufnahmen aus den 20er, 30er, 40er Jahren kriegen konnte. Und das ist eine lebendige atemraubende Struktur."

In Großbritannien arbeitete er als Assistent für den Komponisten Sir Peter Maxwell Davies und den Dirigenten Elgar Howarth, aber vor sechs Jahren zog es den Schotten nach Deutschland,

"... weil Deutschland immer noch ein Hauptland für klassische Musik ist ..."

... auf der Suche nach einem neuen Lebensgefühl – das sich auch bald einstellte ...

"... dass ich mitten in Europa bin, ich merke einen Unterschied zwischen der Mentalität hier und in Großbritannien. Es ist keine Insel-Mentalität mehr. ..."

Besonders froh ist der 38-jährige Dirigent, nun näher an Osteuropa zu sein.

MacAlindin und das Staatsorchester von Eriwan mit einem Werk des armenischen Komponisten Alexander Arutiunian.
In Osteuropa arbeitet er besonders gern.
In Zagreb leitete er ein einzigartiges musikpädagogisches Konzert. 125 Kinder komponierten dafür ihre eigene Musik und führten sie zusammen mit dem Rundfunkorchester und einem großen Kinderchor auf.

"Aber sonst war es sehr wichtig, dass sich die Kinder gemütlich auf der Bühne konzentrieren können, obwohl sie mittendrin in einem professionellen Orchester waren, und dass die Orchesterinstrumentalisten auch sehr wohl waren neben Kindern mit Klasseninstrumenten wie Glockenspielen usw."

Feste Stellen für Dirigenten sind in aller Welt Mangelware. Und so muss sich ein Dirigent mit Hilfe vieler Jobs über Wasser halten, die nicht immer etwas mit Musik zu tun haben. MacAlindin gibt auch Sprachunterricht, er hat Chöre dirigiert und zu Beginn seiner Kölner Zeit auch als Instrumentalist im Kölner Sitzungskarneval ausgeholfen. Karneval ist eigentlich gar nicht seine Sache, aber ...

"... das war eine einzigartige Kultur, hinter der Bühne mit so vielen verschiedenen Musikern, Schauspielern und Sängern zu tun zu haben, und eine gemischte audience vorne, die immer Bier trinken und klatschen und es ist ehrlich ein Kampf, damit die Leute merken, was auf der Bühne eigentlich passiert. Aber mittendrin in dieser Kultur von Köln habe ich gelernt, was es für eine energetische Stadt war. Wie viel Mut und wie viel Kreativität und Spaß viele Leute in diese Stadt investieren."
Daneben nimmt er sich für ehrenamtliches Engagement Zeit: Zwei Jahre lang musizierte er jeden Samstag mit Asylbewerbern. "Musiker im Exil" nannte er sein Vorhaben.

"Es gibt viele Migranten und Asylbewerber, die nach Europa kommen mit gar nichts, das heißt es sieht so aus, als hätten sie nichts anzubieten, aber was sie innerlich haben, ist selbstverständlich ihre eigene Kultur, ihre Musik ihre Kunst, ihre Literatur, und das können sie anbieten."

Mit der Bewerbung für den Dirigentenwettbewerb in Sofia hat es bei Paul MacAlindin schließlich nicht geklappt. Nicht einmal den Eingang seiner Unterlagen bekam er bestätigt. Aber jetzt freut er sich auf sein nächstes Highlight.

"Danach gibt es einen Meisterkurs in St. Petersburg, mit dem Schwerpunkt des berühmten Dirigentenmeisters Ilian Musin. Der in 2000 gestorben ist. Und seine bekannten Studenten wie Shawn Edwards leiten diesen Kurs. Damit nicht nur seine Erinnerungen sondern auch seine Art und Weise weiter leben können."