Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg
DVA, München 2021
352 Seiten, 34 Euro
Die Geschichte vom Rande betrachtet
07:28 Minuten
Der Historiker Dan Diner hat eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs vom Standpunkt des Nahen Ostens aus geschrieben. Mit seiner Perspektive auf die Geschichte dezentriert er die gängigen Narrative und blickt auf die Ränder des Kriegsgeschehens.
Am Anfang war das Empire! So oder so ähnlich könnte man Dan Diners fulminante Gründungsgeschichte Israels zusammenfassen. Aber es ist weit mehr als das. Auf meisterliche Weise schreibt Diner nicht weniger als die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Dies tut er allerdings aus ungewohnter Perspektive, nämlich aus der des Nahen Ostens, oder präziser der des britischen Mandatsgebietes Palästina.
Dezentrierung der Erzählung
Nun sind Darstellungen des Zweiten Weltkrieges, die nicht mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 beginnen und nicht mit der bedingungslosen deutschen Kapitulation im Mai 1945 enden, nicht so selten, wie mancher Leser in Deutschland vermutet. Dass Japans und Chinas Zweiter Weltkrieg schon Jahre früher begann und länger andauerte, und sich das in der internationalen Geschichtsschreibung auch widerspiegelt, scheint sich allerdings erst allmählich auch hierzulande herumzusprechen. Aber darum geht es Diner nicht. Er ersetzt nicht einfach einen zentralen Schauplatz, Europa, durch einen anderen, den Pazifik und Anrainer, sondern er schreibt die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus einer geographisch-peripheren Perspektive.
Er provinzialisiert den europäischen Weltkrieg, so könnte man mit Dipesh Chakrabarty sagen, dezentriert die gängigen Narrative. Dass ihm das gelingt, ohne die zentralen Aspekte des von Deutschland provozierten Angriffs, ohne den Eroberungs- und Vernichtungskrieg, und ohne den Holocaust zu relativieren oder an die Seitenlinie zu rücken, ist die große Leistung dieses Buches.
Diner gelingt es, die Verwobenheit der einzelnen Kriegsschauplätze vor dem Auge der Leserin erstehen zu lassen. Palästina und die Geschichte seines Befreiungskampfes aus dem Korsett des Britischen Empire ist das Scharnier, das geographisch Asien und Europa zusammenbindet, aber auch imperiale Verteidigung und europäischen Völkermord.
Das Imperial Defence System
Als Teil eines hochkomplexen Systems der Imperial Defence, der britischen Strategie zur Verteidigung seines Kolonialreiches, vor allem der Kronkolonie Indien und der Verkehrs- und Kommunikationswege dahin, nahm Palästina eine wichtige Position innerhalb der Southern British World ein. Dort befanden sich wichtige Häfen, dort liefen wichtige Pipelines zusammen, so dass Haifa von der Wehrmacht sogar der Spitznamen "Tankstelle Haifa" verpasst wurde. Deshalb, so die Beobachtung Diners, wandte sich die britische Regierung immer stärker von der während des Ersten Weltkrieges in der Balfour Declaration abgegebenen Verpflichtung ab, die Grundlagen für einen jüdischen Staat zu schaffen. In London fürchtete man die Verärgerung der muslimischen Bevölkerung des Empires. Das ist verflochtene Geschichte auf hohem Niveau!
Der deutsche Krieg und der deutsche Völkermord ist dabei im Hintergrund ständig präsent. Gegen Deutschland sich zu verteidigen erforderte die Stabilisierung des Empires, der Verfolgungsdruck bis hin zur Ermordung erzeugte Fluchtwellen, wobei gerade für jüdische Geflüchtete Palästina eines der Ziele war, was die Spannungen mit der arabischen Bevölkerung erhöhte.
Wie in einem System gigantischer kommunizierender Röhren geriet eine Welt in Schwingung, die an unterschiedlichsten geographischen Orten ihre Wirkung entfaltete. Das erlaubt ständig neue Perspektivierungen. Etwa auf die italienische Expansion in Afrika, oder Rommels "Afrika Korps", das plötzlich zur tödlichen Bedrohung nicht nur der in Palästina lebenden Jüdinnen und Juden wird, sondern für die gesamte Southern British World, also der Gürtel von vorgeschobenen Kolonien und Stützpunkten, von Irak über Ägypten bis Ostafrika, der Indien schützen sollte.
Öl, Öl, Öl
Nicht zuletzt im Lichte der gegenwärtigen politischen Instabilitäten lohnt der Griff zu diesem Buch. Es geht um Öl, Öl, dass im Golf gefördert wurde, Öl, dass in Pipelines bis ans Mittelmeer transportiert wurde, Öl, dass gebraucht wurde, um die britische Mittelmeerflotte mobil zu halten. Und es war der Mangel an Treibstoff, Öl, der die Panzer Rommels kurz vor dem Suezkanal zum Stillstand verurteilte. Kaum ein Thema könnte aktueller sein. Unsere postkoloniale Welt, sie erinnert immer noch in vielerlei Hinsicht an die Welt, die Diner beschreibt.