Geschichte aus anderen Blickwinkeln
Langstreckenbomber der USA aus dem Zweiten Weltkrieg: Deutschland hätte 1945 das Ziel des ersten amerikanischen Atombombenabwurfs werden können. © picture alliance / akg-images
Ludwigshafen und die deutsche Angst vor der Atombombe
29:46 Minuten

Was wäre passiert, wenn Deutschland 1945 später kapituliert hätte? Eine Atombombe auf Ludwigshafen? Der Historiker Dan Diner findet ungewohnte Perspektiven auf Geschichte. Auch vom globalen Süden aus betrachtet geraten ganz andere Dinge in den Blick.
Am 30. Januar 1933 wäre Hitlers Regierungsbildung um ein Haar geplatzt. Göring und Goebbels bezeichneten die unerwartete Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als Wunder – weil die Nazis bereits im Niedergang waren. Auch die Novemberrevolution 1918 hätte anders verlaufen können. Wenn Deutschland eine parlamentarische Monarchie geworden wäre, hätte sich Hitler 1933 nicht zum alleinigen Führer mit unumschränkter Macht aufschwingen können.
Dan Diner, langjähriger Leiter des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig und Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, sucht den Perspektivwechsel, um unseren herkömmlichen Blick auf die Geschichte zu weiten. Diner ist Initiator der Ausstellung „Roads not taken“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin und Autor eines 2021 erschienenen bahnbrechenden Buches über den Zweiten Weltkrieg: „Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942“.
Vielfach untersucht ist das Kriegsgeschehen in Europa und im Pazifik, Diner hingegen untersucht ihn aus einer anderen Himmelsrichtung: aus der Perspektive des globalen Südens.
„Wenn wir vom Süden nach Norden blicken, sehen wir Dinge, die wir so in ihrer Bedeutung gar nicht erkannt haben“, sagt Diner - vor allem die Bedeutung der weltweiten Versorgungsströme über den Indischen Ozean, der Drehscheibe der gesamten alliierten Logistik, auch der amerikanischen Versorgungstransporte in die Sowjetunion. Stalingrad hat in dieser Logistik eine zentrale Funktion, und sie erklärt die Bedeutung der entscheidenden Schlacht auf dem sowjetischen Territorium.

„Wenn wir vom Süden nach Norden blicken, sehen wir Dinge, die wir so in ihrer Bedeutung gar nicht erkannt haben“, sagt Dan Diner, deutsch-isralischer Historiker.© picture alliance / dpa / Lena Lachnit
Für Hitlers Wehrmacht zerplatzte 1942 ein großer Traum: in einer Zangenbewegung vom Osten her über Stalingrad und mit dem Nordafrikakorps Rommels vom Westen aus die irakisch-iranischen Ölfelder zu erobern. Der Sieg der Briten bei El Alamein 1942 stoppte den Vormarsch Rommels, während die Rote Armee die Wehrmacht in Stalingrad stoppte.
Rommel und der Alptraum der Juden in Palästina
Aus der Perspektive der Juden in Palästina wurde damit eine alptraumhafte Gefahr gebannt: Das Vordringen der Wehrmacht hätte auch für sie den Holocaust bedeutet. Bis heute wird dies in Israel weitgehend verdrängt, und in Deutschland wird diese dunkle Seite des Rommel-Mythos kaum wahrgenommen.
„Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht genügend historisiert“, stellt Diner fest und macht zugleich darauf aufmerksam, dass ein historischer Schrecken auch ins Unterbewusstsein eindringt und Mentalitäten prägt.
Deutschland hätte 1945 das Ziel des ersten amerikanischen Atombombenabwurfs werden können. Ende 1944 hatte US-Präsident Roosevelt den Auftrag erteilt, dies vorzubereiten. Im Juli 1945 war die Bombe entwickelt – und Deutschland hatte das Glück, schon zwei Monate zuvor kapituliert zu haben. Wegen der IG Farben und der Zulieferbetriebe für die Rüstung wäre möglicherweise Ludwigshafen die Stadt gewesen, über die die erste Atombombe abgeworfen worden wäre, so Diner. Vor diesem Hintergrund sei die Angst der Deutschen vor einem Atomkrieg besonders ausgeprägt.
Von der Dekolonisierung zum postkolonialen Diskurs
Beim Umgang mit der Geschichte ist für Dan Diner der Perspektivwechsel der letzten Jahre von besonderer Bedeutung: der postkoloniale Diskurs. Für die 68er-Generation habe noch die Dekolonialisierung im Rahmen des Ost-West-Konflikts Vorrang gehabt. Der heutige postkoloniale Diskurs gehe weiter und tiefer.
„Der meint nicht nur die koloniale Herrschaft der Europäer, sondern auch so etwas wie eine Hegemonie des Wissens. Das postkoloniale Denken ist ein Versuch, eine gewisse westlich-europäische Hegemonie im Sinne der Weltdeutung, des Weltverständnisses, zu revidieren. Diese Revision hat etwas sehr Heilsames und muss ernst genommen werden.“
Zugleich kritisiert Diner, dass das Wort kolonial und Kolonialismus derart inflationär gebraucht wird, dass man nicht mehr so recht weiß, was es bedeuten soll. Entscheidend ist für Diner, „dass der globale Süden Ansprüche stellt, die nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus einer Vergangenheit artikuliert werden, in der er über alle Maßen unterworfen, beherrscht und ausgebeutet worden ist. Diejenigen, die zu schweigen hatten, sprechen heute. Und diejenigen, die gesprochen haben, haben heute mehr zu schweigen.“
(wist)
Die Ausstellung "Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können" ist noch bis zum 24.11.2024 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin zu sehen.