Daniel Huhn: „Rückeroberung"
© Hoffmann und Campe
Wiedersehen in Theresienstadt
06:46 Minuten
Daniel Huhn
Rückeroberung. Die Geschichte von Manfred Gans, der im Mai 1945 Deutschland durchquerte, um seine Eltern aus dem KZ zu befreienHoffmann und Campe, Hamburg 2022288 Seiten
22,00 Euro
Der Historiker Daniel Huhn erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie und ihres Überlebens im Nazi-Deutschland als spannende Reportage. Dazu verbindet er die historische Darstellung mit den unmittelbaren Eindrücken aus Briefen und Aufzeichnungen.
Das schikanierte Leben der jüdischen Minderheit und die Stationen der Entrechtung im nationalsozialistischen Deutschland – der Historiker und Dokumentarfilmer Daniel Huhn schildert diesen oft trocken vermittelten historischen Stoff sehr anschaulich und lebendig am Beispiel der Familie Gans aus der Kleinstadt Borken im westlichen Münsterland.
Vom feindlichen Ausländer zum Elitesoldaten
Der Sohn Manfred Gans wird von seinen Eltern 1938 nach England geschickt. Der 16-Jährige schlägt sich eine Weile als Fabrikarbeiter in Manchester durch. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wird er wie alle Deutschen als „Enemy Alien“ (feindlicher Ausländer) interniert; sogar jüdische Flüchtlinge verdächtigt man der Sabotage. Dann aber bekommt er die Möglichkeit, sich für eine geheime, bis heute von Mythen umrankte Eliteeinheit drillen zu lassen: die „Three Troop“ oder „X Troop“, die aus deutschen und österreichischen Juden besteht und die für Spezialeinsätze im Zuge der alliierten Landung in der Normandie 1944 vorgesehen ist. Mit einer neuen, nichtjüdischen Identität als Frederick Gray versehen, betritt Manfred am D-Day den umkämpften französischen Strand.
Die wichtigste Waffe ist die Sprache
Gegen das Bild der jüdischen Rächertruppe, wie es Quentin Tarantino im Film „Inglourious Basterds“ inszeniert hat, schildert Daniel Huhn dicht an den Aufzeichnungen von Manfred Gans die ebenso kühnen wie besonnenen Einsätze der jüdischen Einheit, bei denen die wichtigste Waffe allerdings die Sprache ist: Deutsche Soldaten müssen von der Aussichtslosigkeit ihres Widerstands überzeugt und als Kriegsgefangene vernommen werden.
Mehrfach gerät Manfred bei riskanten Erkundungsunternehmen in Lebensgefahr. Im April 1945 kehrt er zurück in seine zerstörte Heimatstadt Borken. Schrecken und Beklemmung mischen sich mit Genugtuung. Als britischer Ermittlungsoffizier verhört er viele Deutsche – und gewinnt bedrückende Einblicke in die Psyche einer geschlagenen Nation.
Quer durch Deutschland nach Theresienstadt
Seine Eltern wurden unterdessen erst nach Westerbork und Bergen-Belsen, dann nach Theresienstadt deportiert, wo sie – wenn auch stark geschwächt – bis zum Kriegsende überlebten. Als Manfred von ihrem Verbleib erfährt, macht er sich mit einer Sondererlaubnis sofort auf die Reise. Auf seiner Fahrt im offenen Jeep quer durch Deutschland begegnet er endlosen Kolonnen von Displaced Persons, Vertriebenen, Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und Soldaten; sie führt ihn durch komplett verwüstete Städte und überraschend intakte ländliche Regionen, wo die Versorgung auch jetzt noch besser ist als in den von der Wehrmacht ausgeplünderten Ländern. Dann kommt der hochemotionale Moment des Wiedersehens im hoffnungslos überfüllten Lager, wo auch noch in den Wochen nach der Befreiung Tausende entkräftete Menschen sterben.
Eingängig erzählte Geschichte
Geschickt verbindet Daniel Huhn die historische Darstellung mit den unmittelbaren Eindrücken aus den Briefen und Aufzeichnungen der Familie Gans. Dank der reportagehaften Erlebnisnähe und der vielen aufschlussreichen Details ist dieses Buch insbesondere (aber nicht nur) jüngeren Lesern zu empfehlen. Manfred Gans ist eine gute Identifikationsfigur: sympathisch, intelligent, mutig, ein Idealist, der zugleich scharfen Realitätssinn besitzt, wie sich in seinen unerschrockenen Einsätzen als Soldat zeigt, aber auch in den bisweilen erfrischend unverblümten Briefen an seine Freundin Anita Lamm in New York, die eine zentrale Quelle dieses Buches sind. 1938 haben sich die beiden in fünf gemeinsamen letzten Tagen in Borken ineinander verliebt, dann neun schreckensreiche Jahre lang nicht gesehen – um am Ende aller Briefe doch noch zu heiraten. Großes Kino.