Auf Jiddisch gibt es kein extra Wort für ein Gedicht, ein Gedicht ist auch ein Lied.
"Word beggar" von Daniel Kahn
Der Künstler Daniel Kahn ist ein Tausendsassa. Er inszeniert sich gern, macht Musik und Theater. © imago / Photopress Müller
Auf Jiddisch ist ein Gedicht auch ein Lied
09:13 Minuten
Der Künstler Daniel Kahn ist ein Tausendsassa. Er inszeniert sich gern, macht Musik und Theater. Mittlerweile ist er zu einem festen Bestandteil der jiddischen Kulturszene geworden. Nun ist mit „word beggar“ sein erstes Soloalbum erschienen.
Für den Titel seines neuen Albums "word beggar", also Wortebettler, hat sich der Musiker Daniel Kahn bei dem Gedicht "Six Lines" von Aaron Zeitlin bedient. Dort heißt es:
‚Ich weiß: Keiner braucht mich auf dieser Welt,
Mich: einen Worte-Bettler auf dem jüdischen Friedhof.
Wer braucht ein Lied und noch dazu auf Jiddisch?
Mich: einen Worte-Bettler auf dem jüdischen Friedhof.
Wer braucht ein Lied und noch dazu auf Jiddisch?
"Das ist eine gute Frage, die ich gern stelle. Ich beantworte die nicht, aber ich stelle sie gern", so Kahn.
Gedichte sind Lieder und Gedichte
Ein Album auf Jiddisch mit so einer Fragestellung zu beginnen, ist mindestens wagemutig. Denn es bezieht das mögliche Scheitern mit ein. Die Sprache garniert das Ganze noch mit einem weiteren Problem.
Man nehme beides. Die Texte kommen unter anderem von Mordechai Gebirtig, Kurt Tucholsky, George Brassens, Leonard Cohen oder von einem gewissen Robert Zimmerman, so steht es im Booklet der CD – ein kleiner Scherz. Denn bekannter dürfte Herr Zimmermans Künstlername sein: Bob Dylan.
Übersetzt hat Kahn aus dem Deutschen, Französischen und Englischen. Was war der Beweggrund?
„Jiddisch ist eine wichtige Sprache für mich. Mit diesem Album wollte ich entdecken, inwiefern die jiddische Sprache eine Wirkung auf andere Sprache hat. Zum Beispiel: Wenn man einen Bob-Dylan-Song oder einen George-Brassens-Song auf Jiddisch singt, was für eine Wirkung hat das, welche Assoziationen oder Gespenster trägt Jiddisch mit oder bringt Jiddisch dazu."
Eine Wirkung dürfte sein, dass "word beggar" ein kleiner Beitrag zum Erhalt des Jiddischen ist, das heute nur noch von rund 1,5 Millionen Menschen gesprochen wird. Das ist bereits die Oberkante der Schätzung. Die Antwort auf die Frage, wer noch ein Lied auf Jiddisch braucht, könnte also sein: nur noch sehr wenige Menschen. Denn auch in Kahns Elternhaus in Detroit wurde kein Jiddisch gesprochen.
„Zu Jiddisch bin ich später als Erwachsener gekommen. Es hat mich interessiert und inspiriert. Ziemlich gleichzeitig mit Deutsch habe ich Jiddisch gelernt; ich lerne die Sprache immer noch und werde immer weiter lernen. Die Sprache ist so tief, man kann sich drin ertrinken."
Eine einfache Liedersammlung
Nicht nur die Sprache birgt diese Gefahr. Bei dem Album "word beggar" ist man unschlüssig, ob es wegen seiner Schlichtheit so tief ist oder ihr zum Trotz. Einen roten Faden, der die Lieder verbindet, gibt es nicht und den braucht es auch nicht. Bringen wir diese Sprache und Musik zusammen, ergibt das unter dem Strich: zum Ertrinken schön.
„Es gibt politische Lieder, Lieder über Befreiung, aber auch über das Leben, über die Vergänglichkeit. Diese Sammlung ist nicht programmatisch gedacht, viele Lieder sind einfach schön."
Verblüffend ist, dass "word beggar" nicht nur ohne programmatische Zielsetzung entstanden ist, sondern auch sehr spontan:
„Da war keine grundsätzliche Idee. Das sind Lieder, die mich durch verschiedene Projekte in den letzten Jahren gefunden haben. Ich hatte letztes Jahr die Gelegenheit, zwei Tage in einem sehr schönen Studio in der Schwäbischen Alb aufzunehmen. Ich hatte einen Haufen Lieder - wie eine Ernte. Ich habe tatsächlich innerhalb anderthalb Tagen diese elf Lieder eingespielt, und zwar alles analog direkt auf Tape. Ich wollte die Lieder einfach so pur wie möglich aufnehmen."
Im Studio standen nur deshalb zwei Aufnahmetage zur Verfügung, weil im letzten Jahr in Stuttgart ein Festival für jiddische Musik wegen Corona ausgefallen war. Der 43-Jährige sollte nur zwei Lieder für das Festival einspielen. So aber konnte er ganz allein seine Ernte einfahren - und ganz analog: Klavier, Gitarre, Akkordeon, Mundharmonika, eine 16-Spur-Bandmaschine, fertig.
„Es ist quasi von Anfang bis Ende alles bio. Eine schlichte Aufnahme zu machen, war für mich als Performer eine Herausforderung, wobei alles so intim und einfach wie möglich war."
Daniel Kahn und sonst niemand
Mit schlicht und intim hat Kahn die wesentlichen Parameter schon benannt. "Word beggar" - das überrascht - ist tatsächlich sein erstes echtes Soloalbum. Dabei veröffentlicht Kahn, der auch als Schauspieler, Bühnenautor und Theaterregisseur tätig ist, bereits seit 2003 Platten. Auch diesmal ist es nur knapp ein Solo geworden.
„Ich hatte ursprünglich vor, Tracks aufzunehmen und dann weiter mit anderen Kollegen in Berlin Overdubs zu machen. Also keine ganze Band, aber Gäste. Wir haben festgelegt, dass es nicht mehr braucht. Das sind Lieder, die teilweise auch noch unfertig sind, das sind Skizzen, das sind Bearbeitungen, Nachdichtungen, Übersetzungen, Übertragungen, Vertonungen von Gedichten. Es handelt sich immer irgendwie um die jiddische Sprache und meinen Zugang dazu."
Dass, besonders in Deutschland, sofort das Wort Klezmer in den Raum geworfen wird, wenn es um jüdische Musik geht, ist ein Reflex, den Kahn zur Genüge kennt. Sonderlich stören tut es ihn nicht. Auch wenn es wie in diesem Fall falsch ist - und wiederum auch nicht.
„Klezmer ist jiddische Volksmusik. Schon im 20. Jahrhundert wurde das ein Musik-Genre. Das ist in Deutschland auch ein anderer Begriff als sonst wo. Ich würde sagen, musikalisch gibt es fast null Klezmer auf diesem Album, aber es hängt natürlich viel mit Klezmer zusammen. Das sind jiddische Lieder, das gehört zur jiddischen Kulturbewegung. Ich habe kein Problem damit."
"Word beggar" mag spontan, ungeplant und ungeordnet sein wie eine Laune der Natur. Die Eingangsfrage, ob es noch ein jiddisches Lied braucht, beantwortet Kahn ein zweites Mal mit dem Schlussakkord und Höhepunkt seines neuen Albums: Leonard Cohens weltberühmtes Stück "Halleluja". Ausgerechnet den Refrain lässt Kahn in seiner jiddischen Interpretation aus, der Refrain, den jedes Publikum weltweit mitsingt.
„Der Refrain wird genug gesungen. Der Refrain verdeckt das Lied. Er ist unglaublich kräftig, aber er ist auch erstaunlich bedeutungslos, er verliert alles an Inhalt. Das Lied selbst ist so widersprüchlich, komplex und ironisch, lustig, traurig – alles! Jede Strophe enthält das Wort ‚aber‘. Es geht um Gegensätze: Glauben, Zweifel. Ich wollte auf diese Gegensätze konzentrieren."