"George Orwell ist plötzlich richtig wirkungsmächtig geworden"
George Orwells Klassiker "1984" ist seit der Trump-Wahl wieder Bestseller. Daniel Kehlmann hat das Nachwort zur Neuausgabe geschrieben. Jemand, der Unterdrückung bekämpfen wolle, habe mit diesem Buch eine echte Waffe zur Verfügung, so der Erfolgsautor.
Vladimir Balzer: Seitdem Donald Trump an der Macht ist, gibt es zwei Effekte, was das Lesen angeht: Die großen Medien, "New York Times", "Washington Post" und andere, die Lieblingsfeinde des Präsidenten, erleben einen Boom an neuen Lesern. Und ein Klassiker ist wieder Bestseller: "1984" von George Orwell. Ein totalitärer Staat überwacht in diesem Roman seine Bürger und bestimmt vor allem ganz allein über die Wahrheit. In Deutschland erschien an diesem Wochenende eine Neuausgabe, zu der Erfolgsautor Daniel Kehlmann ein Nachwort geschrieben hat. Er sagt, der Erfolg dieses Romans, "1984", hat viel mit Trump zu tun. Aber, Herr Kehlmann, wie kann man denn da eine Parallele ziehen zwischen einer Diktatur und einer Demokratie.
Daniel Kehlmann: Ich glaube tatsächlich auch, dass das, was wir im Moment in Amerika erleben, nicht das ist, was Orwell in "1984" beschreibt. Orwell beschreibt in "1984" den bis ins absolut Äußerste gesteigerten totalitären Staat, der eben auch ideologisch das ganze Leben seiner Bewohner in jedem Augenblick vollkommen durchdringt. Was Donald Trump gerne hätte, ist eher die Richtung einer – nach dem Vorbild Putins – einer Art autoritären Kleptokratie. Das ist auch überhaupt nicht schön, aber das ist gar nicht das, was Orwell beschreibt.
Es gibt aber Überschneidungen, und diese Überschneidungen sind ganz wichtig, und das ist der Begriff der Wahrheit. Und das, was ein autoritärer Staat oder eben bei Orwell ein totalitärer Staat mit dem Begriff der Wahrheit macht. Und die eigentlich aus heutiger Sicht packendsten Momente in diesem Roman von Orwell sind eben, dass es nicht bloß um Unterdrückung geht, nicht nur darum, dass man sich eben der Unterdrückungsmaschinerie fügen und tun soll, was einem gesagt wird und nicht aufbegehren, sondern dass Wahrheit ununterbrochen ständig neu definiert wird, dass also der Diktator oder das System der Diktatur vor allem dadurch sein kann, was es ist, indem es die absolute Bestimmungsmacht darüber hat, was Wahrheit ist. Und genau das haben wir ja auch erlebt, und das ist eine Parallele, die sehr wohl existiert.
"Diese Gefühl, dass Macht darin besteht, Wahrheit ständig neu definieren zu können"
Wie Trumps Leute und Trump selber natürlich sofort nach seiner Inauguration als Präsident versucht haben, dieses Wahrheitsbestimmungsmonopol zu etablieren, also wie er sofort behauptet hat, er hätte die größte Menge von Besuchern bei seiner Inauguration gehabt, die es je gegeben hat, obwohl Fotos ganz klar was anderes sagen. Und da kam dieser berühmte und inzwischen fast schon legendäre Moment, wo Kellyanne Conway gesagt hat, das sind eben "alternative facts". Und darauf hat das ganze – das ganze Land natürlich nicht, also metaphorisch gesprochen das ganze Land – darauf haben sehr viele Leser reagiert, indem sie sofort zu George Orwell gegriffen haben. Und das ist eine ganz klare Parallele. Also dieses Gefühl, dass Macht darin besteht, Wahrheit ständig neu definieren zu können und zu dürfen.
Balzer: Aber wie real sind tatsächlich die Ängste vieler Amerikaner? Sie sind ja jetzt schon seit über einem Jahr in Amerika, sind in New York an der Universität aktiv, in der Library haben Sie Recherchen betrieben für Ihren neuen Roman. Inwieweit haben denn die Amerikaner tatsächlich – was ist Ihr Eindruck zumindest, die, die Sie kennengelernt haben – Angst davor, dass ihnen eine staatlich verordnete Wahrheit verschrieben wird? Inwieweit sind sie nicht auch selbstbewusst genug, zu sagen, das ist halt die Administration in Washington, und die lassen wir mal ihre eigene Wahrheit haben?
Kehlmann: Naja, diese Administration in Washington hat ja auch ihre eigenen sehr starken Medien. Das sind eben diese berühmten Alt-Right-Medien und die Rechten mit großer Wirkungsmacht im Internet vor allem arbeitenden sogenannten alternativen Medien. Also es ist so, und das ist eben genau der Punkt, den ich versucht habe, auch in meinem Nachwort hervorzuheben. Es hat eben nicht funktioniert. Das ist das Schöne. Ich bin heute viel optimistischer, vorsichtig optimistischer, richtig optimistisch kann man noch nicht sein, aber vorsichtig optimistischer, als ich es in den Wochen nach der amerikanischen Wahl war. Und so geht es vielen Amerikanern, die ich kenne.
"alternative facts" inzwischen ein gegflügeltes Wort
Balzer: Da sind Gegenkräfte geweckt worden?
Kehlmann: Die Gegenkräfte sind sehr stark, genau. Die Gegenkräfte sind enorm stark, und dass tatsächlich ein Hohnlachen durch das ganze Land ging, als dieser Begriff der "alternative facts" aufkam, dass das inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden ist für etwas total Lächerliches, das ist schon etwas, was einem sehr viel Hoffnung gibt. Es ist eben doch nicht so leicht, Amerika zu einem autoritären Staat und zu einer Diktatur zu verwandeln. Und dass dem aber so ist, verdanken wir unter anderem Büchern wie George Orwell. Dass dieses Buch eben auch zur Verfügung stand, als ein Referenzrahmen, auf den die ganze Gesellschaft sich sofort beziehen konnte, dass alle sofort gesagt haben, "alternative facts", das klingt ja wie bei George Orwell, das ist eben etwas, was in dem Fall nicht bloß eine literarische Anspielung war, sondern tatsächlich echte politische Kraft entfaltet hat. Also das ist schon etwas ganz Großartiges, was einem auch viel Hoffnung gegeben hat. Aber in diesem Zusammenhang ist eben Orwell plötzlich richtig wirkungsmächtig geworden und nicht bloß eine literarische Referenz.
Balzer: Das ist offenbar eine Dystopie sozusagen, an der man sich reiben kann, die als so eine Art Folie gilt, die einen auch motiviert offenbar, gegen die politischen Tendenzen in Washington vorzugehen als Leser?
Kehlmann: Absolut, oder überhaupt gegen totalitäre Tendenzen. Ich habe in meinem Nachwort, auch wissend, dass das ein großes Wort ist, habe ich gesagt, das ist wirklich Literatur als geistige Waffe. Jemand, der Unterdrückung bekämpfen will, geistig und mit Argumenten, hat tatsächlich in diesem Buch eine echte Waffe zur Verfügung.
Kehlmann ist vorsichtig optimistisch
Balzer: Das mag ja natürlich für George-Orwell-Leser und für viele Millionen Amerikaner gelten, aber die Trump-Unterstützer sind ja immer noch relativ stark. Man hört ja von Umfragen von Trump-Wählern, die sich bei Weitem nicht von ihm abwenden, sondern immer noch Zustimmungsraten von 85 bis 90 Prozent unter denen, die Trump gewählt haben. Viel auch Zweifel an Journalismus und Wissenschaft und an vielen Fakten. Dieses Gift, Wissenschaft zum Beispiel anzuzweifeln oder auch generell journalistischen Recherchen nicht zu trauen, scheint doch gewirkt zu haben, oder?
Kehlmann: Natürlich. Ich will ja jetzt auch nicht zu optimistisch klingen. Ich wollte nur sagen, ich glaube nicht mehr, dass Trump und seine Leute es schaffen werden, die Vereinigten Staaten in eine Diktatur zu verwandeln, was ich vor ein paar Monaten noch absolut für möglich gehalten hätte. Aber das heißt nicht, dass sie nicht unglaublichen Schaden anrichten und dass sie tatsächlich eine Unterstützungsbasis haben, die eine Minderheit ist, aber vollkommen unerschütterlich.
Ich sprach neulich mit einem jungen Mann in New York, der mir erzählt hat, er redet nicht mehr mit seinem Vater, weil sein Vater Trump gewählt hat. Dann habe ich gefragt, warum, und dann sagte er, sein Vater hat Krebs und hatte Angst, dass Hillary ihm seine Krankenversicherung wegnehmen würde. Dann habe ich gesagt, aber was denkt er denn jetzt? Ich meine, Trump nimmt ihm ja nun wirklich gerade seine Krankenversicherung weg. Da sagt er, das glaubt er nicht, weil das steht in den Mainstreammedien und deswegen hält er das für eine Lüge. Und das ist schon ein riesiges Problem, eben, dass große Teile der Bevölkerung, aber eben doch eine Minderheit, aber große Teile der Bevölkerung durch Wahrheit und Information offenbar im Augenblick überhaupt nicht mehr erreichbar sind. Das will ich überhaupt nicht schön reden. Das ist schrecklich.
Balzer: Daniel Kehlmann, vielen Dank für das Gespräch!
Kehlmann: Sehr gern, vielen Dank!
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