David Gerstein, J. B. Kaufman, Daniel Kothenschulte (Hrsg.)
Walt Disney's Mickey Mouse: Die ultimative Chronik
Taschen Verlag, 496 Seiten, 150 Euro
"Mickey war Disneys Alter Ego"
Mickey Mouse feiert in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag. Filmkritiker Daniel Kothenschulte hat darum "Die ultimative Chronik" zur Geschichte der Figur herausgegeben. Er erklärt, warum die berühmteste Maus der Welt zuerst ein Star der Erwachsenen war.
Frank Meyer: Es gibt ja wahrscheinlich wenig Menschen in der westlichen Welt oder überhaupt auf der Welt, die noch nie etwas von Mickey Mouse gehört haben. Die berühmteste Maus der Welt wird jetzt 90 Jahre alt, und zu diesem Geburtstag spendiert der Taschen Verlag einen prächtigen, fast 500 Seiten starken Bild- und Textband. Der Filmkritiker Daniel Kothenschulte hat das Buch herausgegeben, und er ist jetzt in Köln für uns im Studio. Guten Tag, Herr Kothenschulte!
Daniel Kothenschulte: Guten Morgen!
Meyer: Als Geburtstag von Mickey gilt die Uraufführung eines Films, "Steamboat Willie", am 18. November 1928 war das. Mickey Mouse soll in diesem Film noch ein ziemlich wilder Kerl gewesen sein, der mit Minnie Mouse rumknutscht – die war auch schon dabei –, allerlei leichtsinnige Streiche ausheckt. Was für ein Charakter war denn dieser Ur-Mickey?
Kothenschulte: Der erste Mickey war so ein Stummfilmstar, das war zwar der erste Ton-Zeichentrickfilm, aber die Figur selber erinnert an Douglas Fairbanks. Das war so ein großer Swashbuckling Hero, wie man damals so sagte, also so ein wunderbarer Abenteuerstar. Und Disney hat sich sehr mit dieser Mickey-Figur identifiziert, also es war sein Alter Ego, und er wäre wirklich gerne so gewesen, so mutig, so frech, so witzig – war er wahrscheinlich auch auf eine gewisse Weise – und vor allen Dingen so abenteuerlustig wie Mickey Mouse.
Meyer: Und vor allem mit dem Frechen und mit dem Abenteuerlustigen soll es dann aber auch bald ein Problem gegeben haben, also Mickey Mouse war schnell sehr erfolgreich, aber dann gab es Kritik. Die amerikanischen Elternverbände sollen zum Beispiel gesagt haben, nee, so was kann man doch unseren Kindern nicht vorsetzen, so eine leichtfertige Figur. Und dann, soweit ich weiß, hat Walt Disney aus dem leichtfertigen Mickey einen immer optimistischen, vorbildlichen, moralisch einwandfreien Charakter gemacht. Stimmt so diese Verwandlungsgeschichte?
Kothenschulte: Nicht ganz. Im Großen und Ganzen stimmt sie, aber ich glaube nicht, weil irgendwelche Elternverbände das wollten. Disney hat wirklich diese Figur nach sich selbst gestaltet, und er verwandelte sich tatsächlich in so einen mächtigen, aber auch weisen Studioboss, der auf alle Fragen und zu allen Filmen ja irgendwo eine Antwort hatte, und da passte nicht mehr dieser freche, kleine, anarchische Kerl. Und Disney hat darunter auch ein bisschen gelitten, nur er hatte ja eine andere Figur ab 1934, deren Geburtstag auch irgendwann zu feiern ist: Donald Duck. Der war dann eigentlich der Mickey von vorher. Der war der rebellische, freche und oft auch sehr rabiate kleine Kerl.
"Ein Star für alle Leute"
Meyer: Das heißt, die dunklen Seiten von Mickey wurden an Donald Duck ausgelagert.
Kothenschulte: Die wurden ausgelagert, aber man muss sich vorstellen, dass Mickey auch kein Kinderstar zuerst war. Mickey war ein Star für alle Leute, vor allen Dingen auch für die Arbeiterbevölkerung war das ein zweiter Chaplin. Das war die Depressionszeit, als Mickey Mouse groß wurde. Wir haben ein Foto im Buch aus dem britischen Wahlkampf von 1930, wo ein Mickey-Mouse-Film im Wahlkampf auf der Straße eingesetzt wurde. Mickey war einfach etwas, was alle Leute fasziniert hat. Es gab einen Schlager, "What! No Mickey Mouse", aus der Wut heraus, dass in einer Kinovorstellung einmal keine Mickey Mouse gezeigt wurde.
Meyer: Jetzt haben Sie über die frühe Erfolgsphase gesprochen, die ersten Jahrzehnte, aber warum, denken Sie, hat diese Figur denn bis heute, 90 Jahre lang, so einen durchschlagenden Erfolg?
Kothenschulte: Ich fürchte genau deshalb, weswegen wir sie manchmal kritisieren: dass sie sich so anpassungsfähig zeigt und dass dieser Konzern, der ja immer größer geworden ist, diese Maus immer mitgeschleppt hat als sein Maskottchen, als sein Markenzeichen und für ein immer wechselndes Publikum dann auch, vor allen Dingen auch in der Modeindustrie, in der Designindustrie immer wieder neue Varianten fand, neue Designs fand, um Mickey Mouse zu einer immer zeitgemäßen Figur zu machen. Ich staune jedes Mal: Wenn ich jetzt bei H&M durch den Laden gehe, ist alles voller Mickey Mouse, und das ist nicht nur dieses Jahr so, weil Mickey 90 wird.
Meyer: Jetzt haben Sie da ein mächtiges, prächtiges Buch dazu zusammengestellt als Herausgeber, großes Format, 500 Seiten stark, "Die ultimative Chronik" steht im Titel. Heißt das, in diesem Buch steht jetzt alles drin, was jemals mit Mickey Mouse passiert ist?
Kothenschulte: Ja, also schon eine Menge davon. Ich hab so ein Buch noch nicht gesehen. Da ist ja nicht nur die Filmgeschichte, sondern auch die Comicgeschichte drin erzählt, das Merchandising, was so wichtig war für Disney. Ab den frühen 30er-Jahren wurden ja millionenfach Mickey-Mouse-Spielzeuge verkauft, die dann mehr Geld in die Kasse brachten als die Filme sogar, und die sind natürlich heute ganz wunderhübsche kleine Devotionalien. Nein, also so was, ehrlich gesagt, zusammenzuerzählen, diese Geschichten, die da von verschiedenen Künstlern auch gemacht wurden, das war die Herausforderung bei dem Buch.
Meyer: Jetzt kostet dieses Buch, darüber müssen wir auch sprechen, 150 Euro, das tut natürlich weh im Portemonnaie. Warum ist das Buch denn 150 Euro wert?
Kothenschulte: Ja, es ist halt sehr groß und sehr dick. Wir haben daran zwei Jahre gearbeitet, und das heißt, dass immer wieder in die Disney-Archive gefahren wurde – die lassen sich auch alles bezahlen, muss man dazusagen – und wir da allerersten Zugriff hatten zu Zeichnungen, die noch nie zu sehen waren, also zu Entwürfen zu Filmen, die nie veröffentlicht wurden, die nie fertig gemacht wurden. Es ist wirklich ein enorm aufwendiges Buch.
"Disney muss natürlich bei allem seinen Segen geben"
Meyer: Und zu dem Buch hat der Vorstandsvorsitzende des Disney-Konzerns, Bob Iger, eine Vorbemerkung geschrieben. Einer Ihrer beiden Autoren, David Gerstein, der arbeitet eng mit der Walt Disney Company zusammen, steht in der Verlagsvorstellung dazu. Also heißt das, das Buch ist so was wie die offizielle, von Disney abgesegnete Festschrift jetzt zum 90. Geburtstag?
Kothenschulte: Wir haben jetzt keine Hauspostille für die Company geschrieben, aber Disney muss natürlich bei allem seinen Segen geben. Das heißt aber nicht, dass wir deswegen was schreiben, was sie wollen, im Gegenteil: Wir versuchen das zu schreiben, was wir wollen, und das hatte unendliche Verhandlungen immer wieder zur Bedingung. Aber die Disneys haben viel gelernt durch dieses Buch, gerade über ihre unveröffentlichten Filme. Es wird wirklich Primärforschung in dieses Buch geflossen, und niemand, der daran mitgearbeitet hat, ist bei Disney irgendwie angestellt, das sind alles unabhängige, also wir drei sind unabhängige Leute. Aber es ist natürlich ein Eiertanz, vor allen Dingen wenn der Konzernchef noch das Vorwort schreiben soll, das hat dann noch mal einen riesigen Aufwand an Begutachtung zur Folge gehabt.
"Viele Mickeys, die parallel existieren"
Meyer: Jetzt haben wir vorhin über die Anfänge von Mickey Mouse gesprochen – was würden Sie denn sagen der heutige Mickey Mouse, was ist heute an dem anders als an seinen Vorfahren aus der frühen Zeit?
Kothenschulte: Ich glaube, heute haben wir viele Mickeys, die parallel existieren. Es gab einen tollen Zeichentrickfilm vor fünf Jahren, der hieß "Get a Horse!", wo Mickey noch mal so auftrat wie 1928 als ganz freche Figur. Dann gab es ein Computerspiel, "Epic Mickey", an das das Disney-Imperium nicht mehr so gern erinnert wird, gerade weil es so innovativ war, also ein Computerspiel, wo Mickey Mouse mit Farbe seine Gegner in einer virtuellen Welt jagt und eigentlich auch wieder so eine ganz rebellische Figur ist. Aber es gibt natürlich den Comic-Mickey, der Abenteuer erlebt und der gesittet und gesetzt auftritt. Und diese verschiedenen Designs, die existieren heute parallel, und mir scheint tatsächlich der frühe Mickey wieder populärer zu sein als der späte Mickey. Also all diese Modedesigns basieren immer auf dem Mickey mit den schwarzen Augen und nicht auf dem mit den Pupillen, wie er seit 1940 zu sehen war.
Meyer: Zwar ist es ja so gewesen in den letzten Jahren, dass bei vielen Saubermännern der amerikanischen Comicgeschichte so dunklere Seiten eingebaut wurden, nehmen Sie den "Superman"-Film, den "Batman"-Film zum Beispiel. Können Sie sich so was für die Zukunft auch für Mickey Mouse vorstellen?
Kothenschulte: Ja, das Spiel "Epic Mickey" war ein bisschen so, und dann gibt es immer gleich so ein Backlash, dass man das dann nicht noch mal machen möchte. Es ist halt das Besondere bei Mickey, dass er nicht nur eine Figur ist, sondern das Emblem einer Firma, und nicht nur das Emblem einer Firma, sondern möglicherweise auch das Emblem Amerikas. Also neben der Coca-Cola-Flasche ist Mickey das dauerhafteste Bild für die amerikanische Popkultur, und ich fürchte, da hängt einfach zu viel dran, um zu sehr zu experimentieren. Disney selbst hat das gemerkt, und er hat das bedauert.
Meyer: "Walt Disney's Mickey Mouse: Die ultimative Chronik", so heißt dieser Prachtband, über den wir gesprochen haben, erscheint jetzt zum 90. Mickey-Mouse-Geburtstag. Am 18. November wird das Buch herauskommen, Daniel Kothenschulte gibt es im Taschen Verlag heraus mit 496 Seiten, wie gesagt 150 Euro ist der stolze Preis. Herr Kothenschulte, vielen Dank für das Gespräch!
Kothenschulte: Danke auch!
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