Daniela Dröscher: "Lügen über meine Mutter"
Kiepenheuer & Witsch, 2022
448 Seiten, 24 Euro
Daniela Dröscher: "Lügen über meine Mutter"
Daniela Dröscher verarbeitet in "Lügen über meine Mutter" die eigene Kindheit. Es war "der Versuch einer Rekonstruktion", sagt sie. © Carolin Saage
Eine Kindheit in den Achtzigern
20:16 Minuten
Ela liebt ihre Familie, aber etwas stimmt nicht: Die Mutter sei viel zu dick, findet der Vater und verordnet strenge Diäten. Daniela Dröscher erzäht in ihrem Roman "Lügen über meine Mutter" die Geschichte ihrer eigenen Kindheit.
Die Achtzigerjahre in einem westdeutschen Dorf im Hunsrück: Der süßliche Duft von „Hubba Bubba“-Kaugummis liegt in der Luft, Helmut Kohl ist gerade Bundeskanzler geworden, die Grünen ziehen in den Bundestag ein, und 1985 gewinnt Boris Becker in Wimbledon. Das ist die Welt, in der die kleine Ela aufwächst, der Sonnenschein ihrer Familie. Zu Beginn des Romans ist sie sechs Jahre alt.
Doch zwischen Mama und Papa ist nicht alles eitel Sonnenschein, denn ein Thema beherrscht und belastet das Familienleben: die Körperfülle von Elas Mutter. Aber ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau wirklich zu dick? Muss sie dringend abnehmen?
Diäten bestimmten ihr Leben
Ja, das muss sie, findet ihr Ehemann und setzt die Mutter massiv unter Druck, Tag für Tag. Wirft ihr sogar vor, ihre äußere Erscheinung verhindere sein berufliches Fortkommen, weil man sich mit ihr nicht sehen lassen könne. Fortan bestimmen Diäten ihr Leben.
Die Schriftstellerin Daniela Dröscher erzählt in "Lügen über meine Mutter" über einen Zeitraum von vier Jahren vom Aufwachsen in dieser Familie und gewährt uns damit auch einen Blick in ihre eigene Kindheitsgeschichte. Ela ist Dröschers Alter Ego, und sie nennt ihren Roman „Versuch einer Rekonstruktion“, um aus der zeitlichen Distanz über die Fiktion „die Dinge anders zu sehen und besser zu verstehen“.
Die Perspektive des Kindes
Auch deshalb unterbricht sie die aus der Perspektive eines Kindes erzählte Geschichte immer wieder mit Exkursen, in denen sie als Erzählerin über die Geschehnisse reflektiert und versucht, sie einzuordnen: War das damals wirklich so?
„Zum einen wollte ich das Kind entlasten", sagt sie. "Ich erzähle ja aus einer kindlichen Ich-Perspektive – eine sehr schwierige Perspektive.“
Die kleine Ela ist klug, sieht sehr viel und hat einen schönen Humor. "Doch bestimmte Dinge sieht sie noch nicht. Die sieht nur ein erwachsener Mensch. Und auch bestimmte Diskurse, die wichtig sind, um diesen Text einzuordnen – die wollte ich dem Kind nicht auf die Schultern legen", erläutert Dröscher.
Allegorie auf den Selfmademann der Achtziger
Was Elas Mutter widerfährt, würde man heute Bodyshaming-Terror nennen. Zwar fühlt sich Ela mit ihrer Mutter deshalb solidarisch. Doch sie liebt auch ihren Vater. Er sei im Buch „ein Produkt von vielen Figuren“, sagt Dröscher, „eine Allegorie auf den Selfmademann der Achtzigerjahre.“ Sein gemeines Verhalten gegenüber der Mutter sei auch „eine Effekt der Gesellschaft“.
Doch trotz ihrer Liebe zur Mutter verrät Ela sie an einem Sommertag im Schwimmbad. Daniela Dröscher kann sich an diese Situation aus ihrer eigenen Kindheit noch gut erinnern: Dass sie sich plötzlich für ihre Mutter schämte, als die Blicke der anderen Dorfbewohner - hämisch oder auch nur vermeintlich hämisch – auf ihr ruhten. Die Szene erneut heraufzubeschwören und zu schreiben, war für Dröscher ein schmerzhafter Prozess.
Der Roman endet 1986. Die Ehe von Dröschers Eltern dauerte noch einige Jahre an. Dann hatte die Mutter genug vom Vater: Als auch Danielas kleine Schwester volljährig wurde, trennte sie sich von ihm.
(mkn)