Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein
Lange sprach die Schriftstellerin Daniela Dröscher nicht über ihre Biografie. Inspiriert von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims", hat sie das Buch "Zeige deine Klasse" verfasst – über ihre Herkunft aus einem kleinbürgerlichen Milieu und die damit verbundene Scham.
Frank Meyer: "Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft", so heißt das neue Buch der Autorin Daniela Dröscher. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, viele Theaterstücke, einen Erzählungsband. Und "Zeige deine Klasse", das ist nun ein autobiografisches Buch über das Aufsteigerkind Daniela Dröscher – so nennt sie sich selbst.
Ein Buch auch über die Scham, die sie immer wieder empfunden hat, Scham über die Herkunft vom Dorf, über den eigenen Dialekt, die dicke Mutter, die Kleinbürgerlichkeit der Eltern. Daniela Dröscher ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Dröscher!
Daniela Dröscher: Hallo!
Meyer: Für Ihr Buch war offenbar wiederum ein anderes Buch sehr wichtig, das Buch "Rückkehr nach Reims" des französischen Soziologen Didier Eribon. Das haben Sie "atemlos, mit glühenden Ohren" gelesen, schreiben Sie selbst. Was hat das Buch denn berührt in Ihnen?
Dröscher: Es hat mir erst mal überhaupt ein Sprechen darüber ermöglicht, über soziale Herkunft, oder auch eine Sprache untereinander. Es hat uns allen, würde ich sagen, im Freundeskreis, oder überhaupt mit Menschen, mit denen ich zuvor nie über diese Dimension ihrer Biografie oder Identität gesprochen hätte – es kam ein Diskurs in Gang.
Meyer: Da muss ich mal nachfragen, Sie haben Ihre Freunde nie gefragt, was machen eigentlich deine Eltern, kommst du vom Land, kommst du aus der Stadt – über so was redet man doch ganz normal?
Dröscher: Eigentlich redet man so ganz normal. Es kann auch total betriebs-, milieuspezifisch sein, also literaturbetriebsmilieuspezifisch.
Meyer: Das ist ja schon mal interessant.
Dröscher: Wäre ein Verdachtsmoment, ich weiß es nicht genau. Eine enge Freundin – ich glaube, wir wissen die intimsten Dinge voneinander, aber diese Facette haben wir nie berührt, weil es, glaube ich tatsächlich, eine Scham gibt, oder weil man so eine andere geworden ist. Und dieses Sprechen hat Eribon in Gang gesetzt, also jenseits dieser großen Analyse, die er macht, die natürlich – das hat das Buch ja so wichtig gemacht oder macht es noch wichtig.
Meyer: Dazu müssen wir sagen, er kommt aus der Arbeiterklasse, der französischen, ist auch aufgestiegen, berühmter Soziologe geworden, und fragt sich in diesem Buch, warum er eigentlich über viele Fragen als Soziologe geschrieben hat, auch als Aktivist, als politischer, aber nie über die Arbeiter, über seine eigene Herkunft.
Dröscher: Ja. Über seine Homosexualität hat er geschrieben, explizit, und darüber – genau, diese Scham, mit der Scham, anhand dieser Kategorien nimmt er uns ja mit durch dieses Buch. Und ich habe gemerkt, okay, ich hab wirklich einen anderen Hintergrund, ich hab eben diesen Mittelklassenhintergrund dieser seltsamen westdeutschen Jahre. Und das ist sozusagen eine Hintertür, also in Eribon war eine Hintertür versteckt, eine Hintertür in die westdeutsche Mittelklasse, -klassen, würde man ja heutzutage fast sagen. Und diese Klasse ist ja schon mal – es ist die Frage, ob sie überhaupt eine Klasse ist, weil sei gar kein Wir-Gefühl hat.
Das dynastisch vererbte kulturelle Kapital
Meyer: Jetzt kommen ja die meisten Menschen irgendwie aus der Mittelklasse, das ist ja ein weiter Bereich. Didier Eribon, wie gesagt, kommt aus einer Arbeiterfamilie. Sie sagen jetzt über sich und Ihre Schwester, wir hatten das berühmte Alles, vom Klavierunterricht bis zum voll finanzierten Studium. Sie nennen sich auch mal ein "behütetes westdeutsches Mittelklassekind". Da kann man sich jetzt fragen, was ist eigentlich das Problem, oder was ist der Punkt, wo man sich dafür schämen kann, wenn man eben aus der Mittellage, aus der Mittelklasse kommt?
Dröscher: Diese Scham hat tatsächlich erst eingesetzt mit Betreten der Universität, selbst da noch lange Zeit gar nicht. Die Welt der Literatur und der Kultur, die hat mir irgendwann sehr deutlich vor Augen geführt, es gibt Menschen – die meisten Menschen in diesem Milieu kommen offensichtlich aus Familien, in denen Kultur ein großes Selbstverständnis hatte, also das dynastisch vererbte kulturelle Kapital, so nenne ich das.
Da war sozusagen eine große Bibliothek zu Hause. Das war ganz selbstverständlich, dass man das hat. Und ich hab gemerkt, ich bin einen Großteil meiner Zeit damit beschäftigt, mich zu orientieren und überhaupt erst mal zu verstehen, wie funktioniert die Sprache in diesem Diskurs, was sind die Wertigkeiten – also vom Literaturbetrieb zum Beispiel hatte ich überhaupt keine Ahnung. Ich wusste überhaupt nicht, wie die Hierarchien funktionieren, was das ist.
"Dass man partizipiert – sonderbarer Gedanke"
Meyer: Jetzt müssen wir in zwei Richtungen gucken. Einerseits, bei Ihnen zu Hause gab es nicht die Bibliothek. Es war zwar Geld da, aber es war kein kulturelles Kapital da, um es so zu sagen, oder es war…
Dröscher: Nicht in der Form.
Meyer: Und trotz Klavierunterricht sind Sie nicht in eine gelebte Kultur, die Ihre Eltern schon mitgebracht haben, hineingewachsen.
Dröscher: Gelebte Kultur, das ist – ich glaube, man muss wirklich ganz stark differenzieren. Meine Eltern haben immer gelesen, die lieben Musik, die gehen auf Konzerte, das haben sie alles gemacht. Aber es war sozusagen, welche Räume betritt man mit welcher Selbstverständlichkeit? Oder wie – das ist ja eine Dimension, die mich im Buch eigentlich gleichberechtigt mit der Kultur interessiert –, wie nahe, wie greifbar ist Politik? Also das politische Engagement, überhaupt das Sprechen in der Öffentlichkeit, Diskurs führen, das war gefühltermaßen relativ weit weg. Das war tendenziell das Gefühl, es ist normal, dass man regiert wird. Dass man partizipiert – sonderbarer Gedanke.
Meyer: Und jetzt, wenn wir in die andere Richtung schauen, beschreiben Sie ja den Literaturbetrieb so, als ob das dort sehr wichtig wäre, welches kulturelle Kapital man mitbringt, und als ob, wenn man jemand ist, der von unten sozusagen aufsteigt, der eben kein Kapital schon mitbringt von zu Hause, als ob man da beschämt wird, ausgeschlossen wird. Würden Sie das so sagen?
Dröscher: Nein. Ich glaube, das würde ich überhaupt nicht so sagen. Das hat auch, glaube ich, sehr viel mit Nichtsprechen auf beiden Seiten zu tun oder mit Ignoranz auch auf beiden Seiten. Das ist, glaube ich, was ich meine, mit welchem Selbstverständnis betrete ich diese akademische Welt überhaupt oder diese Welt der Literatur. Wie zu Hause fühle ich mich?
Ich gebrauche ja den Begriff Habitat von Bourdieu. Die Räume, in denen ich mich bewege, eine Bibliothek: Wie fühlt sich eine Bibliothek an, eine Universität. Diese – Herrschaftsarchitektur ist übertrieben –, aber pointiert gesagt, ist es das ja. Also, ich betrete Räume, in denen große Geschichte gestaltet wird, in denen große Dinge passieren. Ist das für mich normal? Das war es für mich nicht. Das musste ich lernen. Ich habe es erst sehr spät gemerkt, dass es nicht normal ist, und dachte immer, ich bin falsch, also das ist mein subjektives Versagen oder so was.
Eine innere Zerissenheit – oder ein Beides?
Meyer: Interessant fand ich auch in Ihrem Buch, dass Sie sagen, in Ihren Romanen hätten Sie eigentlich davon schon erzählt, ohne dass Sie es selbst gewusst hätten, dass Sie in Ihrem Roman von Ihrer Herkunft, auch von Ihrer Scham erzählt haben, aber ganz verwandelt. Können Sie uns das kurz skizzieren, wie Sie das in Ihren Büchern schon unbewusst verwandelt haben?
Dröscher: Es gab immer diese Figuren, also in den beiden Romanen die Protagonistinnen, das sind immer Kinder – also ich folge immer Kindern, die ihre Kindheitswelt verlassen, und in beiden Fällen sind es prekäre Kindheiten, und beide Figuren steigen auf, beide ganz nach oben. Der eine, ein Hochstapler, kommt mit einer falschen, erfundenen Sprache nach Oxford, Pola Negri schafft es bis nach Hollywood.
Meyer: Der Stummfilmstar Pola Negri.
Dröscher: Der Stummfilmstar Pola Negri schafft es bis nach Hollywood. Und beide Figuren begleitet das Hochstaplergefühl zum einen, und sie sind auch als Hochstaplerin oder notorische Lügnerin in die Geschichte eingegangen. Und das ist natürlich, das Hochstaplergefühl ist ja ein so ganz zentrales Gefühl für diesen Milieuwechsel, weil man irgendwie beides ist. "Beides" ist jetzt konstruktiv formuliert. Man kann auch sagen zerrissen oder nicht eins oder… Und das ist ja produktiv eigentlich, beides zu sein.
Meyer: Und ein Hochstaplerinnengefühl haben Sie zum Beispiel, wenn Sie jetzt im Literaturbetrieb unterwegs sind, weil Sie immer noch das Gefühl haben, so richtig gehöre ich hier nicht dazu, ich tue eigentlich nur so?
Dröscher: Schon lange nicht mehr. Schon lange nicht mehr ist übertrieben, aber ich würde sagen, seit Eribon nicht mehr. Seit Eribon. Der hat… also im Sprechen, also im Aussprechen ist ja schon, passiert schon was. Indem ich mich bekenne sozusagen – deshalb habe ich diesen Imperativ auch gewählt. Es ist erst mal ein Imperativ, der mir selbst gilt. Ich würde gar niemand anderen aufrufen erst mal, sondern mich selbst, es ist ein Selbstappell. In dem Aussprechen passiert schon was.
Die große schweigende Mehrheit
Meyer: Was viele ja auch elektrisiert hat in Didier Eribons Buch über diese Möglichkeit des Sprechens hinaus, dass er ja da sehr politische Fragen stellt, oder dass er die soziale Frage wieder als politische Frage überhaupt etabliert, dass er eben fragt, warum wählt die französische Arbeiterklasse, warum wählen meine Eltern den Front National? Diese Fragestellung oder diese Ebene lassen Sie in Ihrem Buch jetzt aus. Warum eigentlich das?
Dröscher: Ich lasse sie insofern nicht aus – nein, ich fange anders an. Die Politik der ersten Person, das ist ja in einer ganz radikal subjektiven Perspektive geschrieben. Wenn wir die Politik der ersten Person ändern, ändern wir früher oder später auch die Politik der zweiten Person Plural. Also erst erste Person Singular …
Meyer: Um das jetzt zu übersetzen: Sie schreiben von sich und von Ihrer eigenen politischen Einstellung in Ihrem Buch, Sie gucken aber nicht auf bestimmte Schichten und Klassen und deren politische Einstellung. Wollen Sie uns das gerade sagen?
Dröscher: Ich sage, ich erzähle wirklich subjektiv von meiner Familie und kann sagen, mit dem rechten Denken hat das nichts zu tun. Das hat eher was damit zu tun, warum es zu dieser großen, schweigenden Mehrheit kommt, die nicht rechts ist, aber schweigt und eben nicht laut genug dagegen ist. Dieser Fährte war ich auf der Spur. Diese Frage habe ich erst mal mir selbst gestellt.
Ich sage ja in dem Buch, ich war, mein Herz war früh links, ich bin es immer geblieben, aber ich war es nie organisiert. Ich hab den Sprung in die Politik nie wirklich – also Politik im weitesten Sinne habe ich nie geschafft. Warum eigentlich nicht, wie kann das sein? Wie kann sich diese Überzeugung überhaupt nicht in irgendeine Praxis übersetzen? Jetzt kann man sagen, Schreiben ist in sich selbst politisch. Das reicht mir gerade nicht.
"Ein Sich-Bekennen und Wohlfühlen damit"
Meyer: Man könnte ja das Ganze auch von einer anderen Seite angucken oder sich mal überlegen, es wäre ja auch die Haltung denkbar, ich bin stolz darauf, dass ich aufgestiegen bin. Ich bin auch stolz auf die Leute, die mir das ermöglicht haben, also mein Hintergrund, meine Familie, die Leute, die mich dabei begleitet haben. Und mit diesem Stolz stehe ich auch zu meiner Herkunft und zu meinen Leuten. Ist das für Sie eine ganz undenkbare Haltung?
Dröscher: Stolz, den verabschiede ich explizit als Kategorie im Buch. Aber Gelassenheit, also wirklich ein Sich-Bekennen und Wohlfühlen damit, mit diesen beiden Perspektiven durch die Welt zu laufen und womöglich auch vermitteln zu können oder übersetzen zu können oder sich eben in zwei verschiedenen Welten auszukennen. Inzwischen finde ich, das ist ein großes Geschenk, ich kann es sehr annehmen.
Meyer: "Zeige deine Klasse. Die Geschichte meine sozialen Herkunft", so heißt das Buch von Daniela Dröscher, ist im Verlag Hoffmann & Campe erschienen, für 20 Euro zu haben.
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