"Danmarkskanon"

Leitkultur auf Dänisch

Die dänische Nationalflagge weht am 19.04.2014 in Kopenhagen, Dänemark im Wind.
Die dänische Nationalflagge weht am 19.04.2014 in Kopenhagen, Dänemark im Wind. © dpa / picture-alliance / ZB
Jan Diedrichsen im Gespräch mit Dieter Kassel |
Was ist typisch dänisch? Darüber haben die Dänen jetzt selbst abgestimmt und mehr als 2400 Vorschläge eingereicht. Wichtig für die Menschen seien Liberalität, Freisinn und Gleichberechtigung, sagt Jan Diedrichsen, Sprecher der deutschen Minderheit beim dänischen Parlament.
Dieter Kassel: Über 2400 Vorschläge haben Bürgerinnen und Bürger ursprünglich eingereicht für den sogenannten "Danmarkskanon", eine Liste typisch dänischer Eigen- und Errungenschaften. Ein Kuratorium hat diese Liste dann eingekürzt auf 20 Punkte und über die nun wiederum wurde dann von den Bürgern abgestimmt. Und das Ergebnis steht jetzt fest, man kann es schon kennen aus dem Internet, offiziell vorgestellt wird dieser "Danmarkskanon" dann heute vom dänischen Kulturminister Bertel Haarder, dem Initiator dieses Projekts.
Wir wollen jetzt aber von Jan Diedrichsen wissen, wie viel er eigentlich damit anfangen kann. Er ist unter anderem Leiter des Sekretariats der deutschen Volksgruppe in Kopenhagen und damit Sprecher der deutschen Minderheit beim dänischen Parlament und der Regierung. Schönen guten Morgen, Herr Diedrichsen!
Jan Diedrichsen: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Dänemark galt jahrzehntelang ja als eines der liberalsten Länder der Welt. Ist dieser "Danmarkskanon" jetzt so eine Art Abgrenzungsdokument?

Liberalität und Freisinn

Diedrichsen: Nein, das sehe ich überhaupt nicht so, weil die Punkte, die die Dänen – also, man muss ja auch aufpassen, "die Dänen", so viele haben nicht an der Umfrage teilgenommen –, die Punkte, die man rausgesucht hat, doch sehr in diese Richtung gehen. Also, auf jeden Fall so ein Selbstbild, dieses freie Dänemark, das offene Dänemark, Liberalität und Freisinn ist auch der erste Punkt, oder Gleichberechtigung von Mann und Frau wäre Punkt zwei. Die dänische Wohlfahrtsgesellschaft, das Vertrauen an sich, all solche Punkte kommen wieder und wieder.
Aber es ist durchaus auch richtig, dass eine Diskussion in Dänemark schon seit Jahren geführt wird, wie kann man dieses System bewahren, wie kann man dieses Freiheitssystem, von dem die Dänen so überzeugt sind, auch bewahren? Und in diesem Zusammenhang muss man auch diesen Kanon sehen.
Jeder zweite Einwohner Kopenhagens fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit, wie hier fotografiert am 6.2.2014 auf dem Sotorvet. Foto: Thomas Uhlemann
Jeder zweite Einwohner der dänischen Hauptstadt Kopenhagen fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit.© picture-alliance / dpa / Thomas Uhlemann
Kassel: Aber nehmen wir mal dieses Beispiel, Gleichberechtigung, das ist ja zunächst in meinen Augen als dänische Errungenschaft durchaus berechtigt. Denn was die Gleichberechtigung von Mann und Frau angeht, ist kaum ein Land auf der Welt schon so weit gekommen wie Dänemark, das stimmt erst mal. Aber nun könnte man natürlich auch sagen, wenn man sagt, typisch dänisch ist, dass Mann und Frau völlig gleichberechtigt sind, kann man auch wieder sagen: Das ist eben nicht typisch muslimisch! Und gerade eine Diskussion über die Rolle des Islams in Dänemark wird ja auch geführt.
Diedrichsen: Ja, ja. Aber das wäre dann, denke ich, schon ein bisschen zu weit gedacht. Es ist richtig, dass diese Diskussion darüber in Dänemark geführt wird, wie gehen wir mit unseren hart erkämpften Freiheitsrechten um in einer globalisierten Welt, vor allem auch vor einem Jahr, als relativ viele Flüchtlinge versuchten, nach Dänemark zu kommen, war das eine Riesendiskussion.
Und vor allem aus deutscher Perspektive fragen sich viele – wir bekommen ja auch Besuch in Kopenhagen, das Sehnsuchtsland vieler Sozialdemokraten –, was ist bei euch los in Dänemark? Ihr wart immer, wie Sie ja selber sagten, so das Land, wo in unseren Augen der sozialdemokratische Traum so ein bisschen Wirklichkeit wird, und jetzt igelt ihr euch ein, Grenzkontrollen sind unten bei uns an der Grenze ja an der Tagesordnung, man hat sehr harte Gesetzgebung erlassen, was ist bei euch los?

Wie kann man das System halten?

Aber wenn man dann versucht, das zu erklären, nämlich: Die Politik hat keine Antworten bislang, wie man dieses System halten kann, auf das Dänemark so stolz ist, also die Wohlfahrtsgesellschaft, dass in Dänemark – ich übertreibe ein bisschen, aber im Punkt passt es schon –, dass die Dänen gerne Steuern bezahlen, dass alles gut läuft, dass wir eine Vertrauensgesellschaft haben, wie bewahrt man das in Zeiten der Globalisierung? Darauf gibt es keine Antworten.
Die Antwort, die die dänische Politik derzeit findet – man kann ja sehr diskutieren, ob es die richtigen sind –, ist ein Versuch, sich abzuschotten. Und das ist die Diskussion, die sehr aktiv geführt worden ist in den letzten Jahren in Dänemark. Und der Kulturkanon von Herrn Haarder ist vielleicht ein bisschen der Versuch einer Versachlichung der ganzen Diskussion. Das soll ja dann auch in die Schulen gehen, dass man darüber diskutiert. Aber es ist schon so ein Diskurs in der dänischen Gesellschaft, wie hält man dies, was so angeblich typisch dänisch ist?
Kassel: Aber wenn man die Begriffe sich dann anguckt, gerade weil sie so simpel sind – was ich erst mal begrüße –, sind sie doch so extrem interpretierbar. Nehmen wir einen Punkt, der heißt einfach "Freiheit".
Diedrichsen: Genau.
Kassel: Nun kann man natürlich sagen, die Dänen wollen sich ihre eigene Freiheit natürlich nicht beschränken lassen. Will aber eigentlich niemand auf der Welt ja. Auf der anderen Seite heißt Freiheit eben auch, dass alle frei sind. Dürfen auch alle Einwanderer da frei ihre Kultur ausüben? Gehört das zur dänischen Freiheit oder nicht? Ist das nicht eine Frage, die tatsächlich im Moment recht offen ist?

Freiheit behalten durch Ausgrenzung?

Diedrichsen: Ja, das ist die Diskussion in der dänischen Gesellschaft. Wenn Sie sich anschauen, beim Parteitag der Sozialdemokraten wurden Beschlüsse gefasst auch im Bereich der Ausländerpolitik, die es auf jeden Fall nie auf den CDU-Parteitag schaffen würden. Es gibt eine klare Zusammenarbeitslinie auch zwischen Sozialdemokraten und der größten bürgerlichen Partei Dänemarks, der Danks Folkeparti, der nationalen dänischen Partei.
Man versucht, das soziale System in Dänemark zu halten, vor allem Sozialdemokraten, Dansk Folkeparti, und das tut man, indem man versucht, ein wenig auszugrenzen. Ein wenig ist schon vielleicht ein bisschen ein Euphemismus, also, man versucht schon, dieses System zu halten, man hat keine Antworten darauf der Bevölkerung zu geben, wie schaffen wir, das System zu halten, wenn wir jetzt alle Grenzen aufmachen?
Und das ist ein ganz schwieriges, auch für die Politik zu vermittelndes System. Aber man muss einfach auch mit der Außensicht aus Deutschland versuchen zu verstehen, dass die Dänen nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich ganz komische Ausländerhasser geworden sind – den Eindruck kann man ja auch manchmal in ausländischer Presse bekommen –, sondern dass es die Frage ist, wie halten wir dieses System, das vielleicht manchmal auch ein bisschen romantisiert dargestellt wird, wenn man sich anschaut, wie vor allem von der linken Seite in Deutschland Skandinavien über Jahrzehnte betrachtet worden ist so als dieses Modellbild, da ist sicherlich auch sehr viel Romantik drin gewesen.
Aber es ist eine große Furcht in der Bevölkerung derzeit: Wie schaffen wir es, die Errungenschaften, Gleichberechtigung Mann und Frau … wie schaffen wir, das zu halten?
Auto neben einem Schild "Stop / Kontrol"
Kontrollen an der Grenze zwischen Deutschland und Dänemark.© dpa / Lukas Schulze
Kassel: Nun haben Sie schon gesagt … Oder man sollte vielleicht vorher erst mal sagen, dass der dänische Kulturminister ja schon bei Beginn des Projekts gesagt hat, es geht nicht nur um das Ergebnis am Schluss, es geht darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen und alle dazu zu kriegen, gemeinsam darüber nachzudenken, was ist dänisch und was davon müssen wir unbedingt erhalten? Aber Sie haben selber schon gesagt, so arg viele Leute haben gar nicht mit abgestimmt. Das heißt, diese große Aufmerksamkeit, diese große Debatte, die er wollte, hat er damit gar nicht gekriegt?
Diedrichsen: Nein, die hat man dann in Deutschland gekriegt, das hatten Sie ja in Ihrer Anmoderation. In Dänemark ist es eher ein Projekt für professionelle Vereine. Wir haben uns als deutsche Minderheit auch daran beteiligt, sind nicht unter die Top Ten gekommen, aber trotzdem ist es eher ein Elitendiskurs gewesen. Der Versuch ist ehrenwert, zu versuchen, eine Versachlichung reinzubekommen.
Und Herr Haarder ist ja jetzt nicht mehr Kulturminister seit einer Woche, aber seine Nachfolgerin hat gerade gesagt, sie wird versuchen, es umzusetzen oder sozusagen runterzubrechen auf Schulniveau, dass man es in den Schulen dann diskutiert.
Aber ich denke, die Diskussion in Dänemark, die schon seit Jahren geführt wird, wie geht man mit diesem Prinzip der Freiheit um, nämlich die Freiheit für die Dänen und etwas abgeschottet für die anderen, wird auf anderen Ebenen geführt. Zum Teil sehr hart geführt in Dänemark, das ist eine harte Debatte. Und so ein Kulturkanon kann das wahrscheinlich nicht rausretten, aber die Beschäftigung mit den Dingen hat doch sicherlich bei einigen etwas freigesetzt.
Kassel: Wir können, Herr Diedrichsen … Sie haben das schon wiederholt erwähnt, das Ganze ist auch sehr aus deutscher Sicht. Nur sind wir ja das Deutschlandradio Kultur, dann ziehen wir es mal durch! Wir können dieses Gespräch nicht beenden, ohne noch über einen dieser zehn Punkte im endgültigen "Danmarkskanon" zu reden: "hygge"!
Diedrichsen: Oh!
Kassel: Sie sind Doppelmuttersprachler, heißt "hygge" übersetzt, wie deutsche Medien behaupten, "Gemütlichkeit"? Nee, das greift zu kurz, oder?

Hygge - mehr als Gemütlichkeit

Diedrichsen: Nein, nein, nein, nein! Dieses "hygge" ist eigentlich ein ganz interessanter Begriff, da hatte ich auch eine ganze Seite in der "Süddeutschen", es gibt Beratungsliteratur vor allem im englischsprachigen Bereich. Die Dänen sind das glücklichste Volk der Welt, wenn Sie heute mit mir durch die Fußgängerzone in Kopenhagen gehen würden, dann würden Sie es wahrscheinlich bezweifeln, wenn man diese angestrengten Weihnachtseinkäufeblicke sieht.
Dieser Begriff von "hygge" ist den Dänen ganz wichtig. Das ist mehr als Gemütlichkeit, das ist auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, aber ist natürlich auch wieder in dem Sinne etwas, was ein bisschen ausschließt. Hygge hat man, wenn man die Tür zumacht, wenn man sich gemütlich ins Sofa setzt, wenn man sein Buch nimmt, ein Glas Rotwein, die Dänen essen dann gerne ein bisschen Käse dazu, darüber kann man auch diskutieren. Aber so dieses sehr Sich-Wohlfühlen, ein bisschen auch Nach-außen-Abschotten, das ist schon etwas, was sehr, sehr, sehr eng mit dem dänischen Selbstwertgefühl zusammenhängt.
Kassel: Hygge und neun andere Punkte sind gelandet beim endgültigen "Danmarkskanon", der ab heute öffentlich verfügbar ist. Wir haben darüber mit Jan Diedrichsen gesprochen, er ist der Leiter des Sekretariats der deutschen Volksgruppe in Kopenhagen. Und ich wünsche Ihnen auf beiden Seiten der Grenze und auch in Brüssel, wo Sie auch regelmäßig sind, noch ganz viel Hygge, aber auch ganz viel Erfolg! Danke Ihnen fürs Gespräch!
Diedrichsen: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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