"Dann schrieb er uns: Ich bin draußen!"

Wolfgang Piepenstock im Gespräch mit Alexandra Mangel |
1961 bildete sich in Köln eine der ersten Gruppen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Als Student war damals Wolfgang Piepenstock dabei - er hat die internen Diskussionen und die Mühen beim Kampf für politische Gefangene aktiv miterlebt.
Alexandra Mangel: Morgen jährt sich der Gründungstag von Amnesty International, denn am 28. Mai des Jahres 1961, vor genau 50 Jahren, veröffentlichte der Londoner Rechtsanwalt Peter Benenson im britischen "Observer" seinen Aufruf "die vergessenen Gefangenen". Und mit dem fing alles an. Was den Anstoß gegeben hatte, das hat Benenson selbst einmal so beschrieben.

Peter Benenson: Ich saß in einer U-Bahn und las den "Daily Telegraph". Ein Artikel weckte meine besondere Aufmerksamkeit. Er berichtete, dass zwei portugiesische Studenten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden waren für kein anderes Vergehen als dass sie in einem Lissaboner Restaurant einen Trinkspruch auf die Freiheit ausbrachten. Das war während der dunklen Tage des Salazar-Regimes. Vielleicht, weil ich dem Freiheitsgedanken besonderen Wert beimesse, weckte diese Nachricht in mir eine gerechte Entrüstung, so dass ich beschloss, solche Verbote nicht länger hinzunehmen.

Mangel: Peter Benenson, der Gründer von Amnesty International, der nach diesem Erlebnis in der U-Bahn einen Aufruf im britischen "Observer" veröffentlichte und alle Leser dazu aufforderte, sich, wo immer sie auf solche Ungerechtigkeit stoßen sollten, mit Briefen an die betreffenden Regierungen zu wenden. Der Aufruf wurde in vielen Ländern nachgedruckt, und er erreichte auch Menschen in Deutschland, darunter Wolfgang Piepenstock, der jetzt für uns im Studio in Köln sitzt. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der deutschen Sektion von Amnesty International und er war auch eine gute Zeit lang im Vorstand tätig. Herzlich willkommen, Herr Piepenstock!

Wolfgang Piepenstock: Ja, ich komme gern und erzähle von den Anfängen bei Amnesty.

Mangel: Das war ja damals genau die Zeit, wo die Leute anfingen, sich zum ersten Mal politisch einzumischen, außerparlamentarisch, jenseits der Parteien. Seit 1958 gab es die Ostermärsche gegen die Atomkriegsgefahr. Warum haben Sie sich damals engagiert bei Amnesty?

Piepenstock: '61 erreichte ja der Ost-West-Konflikt einen traurigen Höhepunkt, die Mauer wurde gebaut, und es bildete sich so eine Meinung: Ja, die Menschenrechte werden im Osten verletzt, was ja auch stimmte, aber wir nahmen war, auch im Westen gab es Diktaturen und erst recht auch im Süden, und nun erreichte uns der Aufruf aus London. Peter Baker, ein Mitarbeiter von Benenson, kam nach Köln und berichtete von der Gründung in London, und Carola Stern sagte zu mir: Bleiben Sie gleich hier, wir brauchen junge Leute! Ich war damals Student noch, und dann bin ich zu Amnesty gestoßen, wo ich eben seit damals mit dabei bin bis heute; teilweise im Vorstand, teilweise als Prozessbeobachter oder als Strategieberater.

Mangel: Die Journalistin Carola Stern, die eben mit zu den Gründern der deutschen Sektion von Amnesty International auch gehört … wie groß war denn das Spektrum der Engagierten, also auch das politische Spektrum?

Piepenstock: Es kamen Menschen aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten, die kirchenorientierten Frommen, die politisch aufgeklärten, die neugierigen jungen Leute, und sie alle bildeten Gruppen. Und wir versuchten in Köln, einen Verein daraus zu machen, zunächst Amnestie Appell, dann die deutsche Sektion von Amnesty, und die Motive waren sehr unterschiedlich – teilweise persönliche, teilweise politische, und wir haben uns geeinigt: Es muss vorwärts gehen mit den Menschenrechten, sie müssen weltweit verteidigt werden!

Mangel: Aber so einen klaren – so einen Typ von Amnesty-Engagierten, konnte man den erkennen, könnte man den beschreiben?

Piepenstock: Es waren viele Leute dabei, die sich Gedanken machten, wie in den 30er-Jahren in Deutschland vieles nicht gut gelaufen ist und wir wollten es besser machen, wir wollten uns zusammenschließen und auch in anderen Ländern dazu beitragen, dass die Menschenrechte nicht unter die Räder kamen. Also ein Stück Geschichtsbewusstsein, das hat uns schon geeint.

Mangel: Wie haben Sie denn in diesen Anfangsjahren gearbeitet? Wie ging das los?

Piepenstock: Wir haben Gruppen gebildet, ich war in einer der ersten Gruppen. Wir haben Gefangenenschicksale aus London übermittelt bekommen, ich habe gearbeitet für einen Gefangenen in Kuba, einen anderen in Rhodesien und wir schrieben Petitionen, immer wieder, immer wieder – manchmal erreichten wir auch die Gefangenen selber, die dann schrieben: Wir sind ganz glücklich, dass wir nicht allein gelassen werden. Aber die Machthaber, die waren doch hartgesottener, als wir annahmen, und zu einer schnellen Entlassung ist es oft nicht gekommen.

Mangel: Das Scheitern war eher der Normalfall?

Piepenstock: Man musste einen langen Atem haben, Geduld, und durfte nicht aufgeben, bis etwas erreicht war, und in sehr vielen Fällen hat uns dann auch der Gefangene geschrieben: Endlich, endlich bin ich frei. Aber dazwischen lagen oft viele, viele Jahre. Ich erinnere mich an einen Gefangenen aus Uruguay, der sechs, sieben Jahre festsaß, weil er gegen die dortige Militärdiktatur angekämpft hat. Aber dann schrieb er uns: Ich bin draußen, ich besuche euch! Und dann hat er erzählt: Ja, eines Tages erfuhr ich, ihr in Köln habt mich betreut, und das hat mich stark und glücklich gemacht.

Mangel: Warum hat Amnesty eigentlich in dieser Zeit nur für die Freilassung von politischen Gefangenen gekämpft und nicht gegen die Diktaturen und Unrechtsregime, die die Leute gefangen nahmen? Man hat sich ja eben nicht politisch positioniert.

Piepenstock: Ja, da war eine Hoffnung im Spiel, dass man durch gute Argumente das Blatt wenden konnte. Wir mussten lernen, dass dem kaum so ist. Heute wissen wir: Wir müssen in die Gesellschaften hineinwirken, wir müssen Öffentlichkeitsarbeit im großen Stil betreiben und auch in den betroffenen Ländern aufgeklärte Bürger gewinnen, die vor Ort etwas unternehmen – aber wir können ihnen den Weg vor Ort auch nicht vorschreiben, weil wir die Gefahren nicht recht abschätzen können, die man vor Ort auch einschätzen muss.

Mangel: Aber gab es denn damals Auseinandersetzungen um diese Entscheidung, sich da ein Stück weit auch unpolitisch, neutral zu halten? Gab es da Auseinandersetzungen innerhalb der Organisation, also Mitglieder, die sich stärker politisiert haben, die das als unpolitisch verstanden haben?

Piepenstock: Das gab es immer, dass Leute sagten, wir müssen viel mehr unternehmen, und das ist auch heute so. Aber die praktischen Wege müssen ja durchkalkuliert werden: Was kann man in Syrien, was kann man im Libanon heute wagen? Und da müssen wir bescheiden bleiben und müssen informieren und hoffen, dass aus der Gesellschaft heraus sich Widerstand organisiert. Demokratie, um die es ja hier geht, ist eine Angelegenheit der mündigen Menschen, die sich selbst organisieren.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit Wolfgang Piepenstock. Er gehört zu den ersten Mitgliedern der – heute würde man sagen – Nicht-Regierungs-Organisation Amnesty International, die vor 50 Jahren gegründet wurde. Herr Piepenstock, das Feld, auf dem Amnesty aktiv ist, hat sich seitdem ja sehr geändert. Früher war Amnesty Pionier auf diesem Feld der NGOs, den Begriff Nicht-Regierungs-Organisation gab es ja damals noch gar nicht. Heute kämpfen ganz viele Organisationen weltweit – ist das eine Entwicklung, die die Bedeutung, die Rolle von Amnesty auch bedroht?

Piepenstock: Nein, es ist eher eine Verstärkung, die sinnvoll ist! Denn Menschenrechte sind ja eine Aufgabe aller mündigen Bürger. Und je mehr mitmachen, desto besser! Wir verwalten kein Monopol, sondern wir geben eine wichtige Aufgabe wieder, verstärken sie und hoffen auf viele, viele Mitstreiter in ganz vielen Organisationen, so dass es gut ist, wenn in vielerlei Gestalt, in Bürgerinitiativen, Vereine und Einzelne für die Menschenrechte eintreten.

Mangel: Vor zehn Jahren hat Amnesty ja eine ziemlich gravierende Änderung beschlossen, und da hat man den Menschenrechtsbegriff erweitert – also nicht nur politische Menschenrechte, sondern auch soziale und wirtschaftliche Menschenrechte, zum Beispiel das Recht auf Bildung. Was bedeutet das für das Selbstverständnis der Organisation? Was hat sich seitdem verändert?

Piepenstock: Es ist konsequent, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte ganz zu lesen. Vorne sind die Freiheitsrechte – also das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung, Meinungsfreiheit – und weiter hinten, da sind auch die sozialen Rechte drin: Auf Bildung, auf gerechte Entlohnung! Und so gehören eben die Sozialrechte und die politischen zusammen. Aber ich muss einschränkend sagen, man muss auch arbeitsteilig vorgehen. Man kann nicht auf allen Aufgabenbereichen zugleich aktiv sein, und deshalb arbeiten wir mit den karitativen Organisationen auch zusammen und müssen uns im Bereich der Sozialrechte auch bescheiden.

Mangel: Entsteht dadurch nicht tatsächlich auch ein Problem, dass man das Feld so erweitert? Da weiß man dann ja irgendwann gar nicht mehr, wo man anfangen und aufhören soll.

Piepenstock: Man kann nicht alles zugleich tun, deshalb gibt es Schwerpunktprogramme, und wir konzentrieren uns im Moment darauf, Vertreibungen aus den Wohnvierteln, aus den Slums zu untersuchen, Ungerechtigkeiten in der Erziehung von Kindern zu beobachten und anzuprangern, und auch die Müttersterblichkeit in vielen Ländern der Dritten Welt zu untersuchen. Wir müssen uns bescheiden auf konkrete Kampagnen, um handlungsfähig zu bleiben.

Mangel: Wie ist diese Änderung der Aufgabenstellung denn bei den Mitgliedern von Amnesty angekommen? Haben sich dadurch Mitglieder abgewandt, hat sich der Kreis der Unterstützer verändert auch?

Piepenstock: Also, die meisten sind dabei geblieben, und es sind viele neu hinzugekommen, weil sie auch neue Aufgaben fanden. Und unsere Angebote sind jetzt so breit gefächert, dass man auch auswählen kann. Wir haben einen Kampagnen-Kalender, und jede Gruppe kann sich melden: Wo möchte sie am liebsten arbeiten? Und die Kölner Gruppe, in der ich selbst bin, die nimmt immer die politischen Rechte hinzu, aber wir haben uns auch jetzt entschlossen, eine Kampagne für die Unterstützung der Roma-Kinder auf dem Balkan hinzuzunehmen, so dass das Spektrum eine größere Auswahl ermöglicht und eben breitere Möglichkeiten der Mitwirkung.

Mangel: Wenn Sie mal vergleichen: Amnesty-Engagement für Menschenrechte vor 50 Jahren und heute – würden Sie sagen, dass die Idee der Menschenrechte heute stärker verankert ist als damals, also gibt es einen Gewinn im Kampf um die Menschenrechte über diese 50 Jahre?

Piepenstock: Es gibt Fortschritte, weil das Bewusstsein weltweit doch deutlich gewachsen ist für die Menschenrechte. Die Medien tragen dazu bei, das Internet, es gibt viel, viel mehr Informationen als damals, aber unser Bewusstsein ist ja ein scheues Reh. Es ist immer nur für eine kurze Zeit mobil, und deshalb müssen wir immer wieder Wachheit erzeugen, neu informieren, und auch Formen der Organisation vorgeben, damit vor Ort etwas geschieht.

Mangel: Wolfgang Piepenstock, Amnesty-Mitglied seit 48 Jahren, in dieser Zeit auch jahrelang im Vorstand der Organisation tätig. Mit ihm haben wir über den Wandel der Organisation in ihrer 50-jährigen Geschichte gesprochen. Danke für das Gespräch, Herr Piepenstock!

Piepenstock: Ja, ich danke auch!
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