Daphna Joel / Luba Vikhanski: "Das Gehirn hat kein Geschlecht"

Kampf dem Rollenklischee

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Cover des Buchs "Das Gehirn hat kein Geschlecht" von Daphna Joel und Luba Vikhanski.
Heben die Vielfalt des Individuums hervor: Daphna Joel und Luba Vikhanski in "Das Gehirn hat kein Geschlecht". © Deutschlandradio / dtv
Von Volkart Wildermuth |
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Auch die Forschung ist in Sachen Geschlechterbilder nicht frei von Vorurteilen. Neurowissenschaftlerin Daphna Joel zeigt mit ihren Untersuchungen den Geschlechter-Bias der Forschung – und plädiert für Vielfalt.
Frauen sind von der Venus, Männer vom Mars – weil ihre Gehirne unterschiedlich arbeiten. Oft wiederholt, leider falsch. "Das Gehirn hat kein Geschlecht", heißt das Buch der Neurowissenschaftlerin Daphna Joel. Gemeinsam mit der Journalistin Luba Vikhanski plädiert sie dafür, die menschliche Vielfalt wirklich wahrzunehmen, statt sie stets in zwei Kategorien zu pressen.

Mosaike aus Mars und Venus

Viele Forschende haben nach Unterschieden in den Gehirnscans von Frauen und Männer gesucht und sie auch gefunden. Allerdings geht es da um Durchschnittswerte. Daphna Joel ging einen Schritt weiter: Sie schaute nach individuellen Unterschieden der Gehirne und stellte fest, dass die meisten Menschen in manchen Hirnregionen tendenziell weibliche Muster aufwiesen, in anderen männliche. Sie alle waren also – wenn man denn in diesem Bild bleiben will – Mosaike aus Mars und Venus.
"Wenn wir weiter hartnäckig auf Gehirne dieselbe Terminologie wie auf Genitalien anwenden, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass die meisten Gehirne weder männlich noch weiblich sind, sondern intersexuell", lautete das Fazit von Daphna Joel. Kein Wunder, dass ihre Studie 2015 für Schlagzeilen sorgte.

Individualität lässt sich nicht am Geschlecht festmachen

Damals wurde aber auch Kritik laut, schließlich kann man aufgrund von Gehirnbildern das Geschlecht doch recht verlässlich erkennen. Stimmt, kontert Daphna Joel, aber darum gehe es nicht. Entscheidend sei, dass sich umgekehrt individuelle Eigenschaften nur schlecht allein aufgrund des Geschlechts vorhersagen lassen.
Aber warum erscheinen dann Frauen und Männer so unterschiedlich? "Die Antwort liegt in der Einteilung der Menschen in eben jene zwei soziale Kategorien: Frauen und Männer", so Daphne Joel. Es geht nicht um Biologie, sondern um Gesellschaft.

Anekdotenreich erzählt

Die Studie zu den Mosaik-Gehirnen ist Dreh- und Angelpunkt des Buches. Die beiden Autorinnen werfen einen Blick zurück und zeigen anhand zahlreicher Beispiele, wie Forschungsergebnisse hin- und her interpretiert wurden, bis sie zu den üblichen Geschlechterstereotypen passten.
Mit Blick in die Zukunft fragen sie danach, was die neu entdeckte Vielfalt der Gehirne jenseits der Geschlechter für die Kindererziehung, für Beruf und Gesellschaft bedeutet. Mit vielen Anekdoten aus dem eigenen Familienleben wie auch Uniseminaren machen sie den Leserinnen und Lesern konkrete Vorschläge.
Ganz neu ist das alles nicht. So gab es in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe Bücher zu diesem Thema – etwa von Cordelia Fine, Lise Eliot, Gina Rippon.

Den eigenen Weg gehen

Joel geht aber einen spannenden Schritt weiter. Sie hebt die Vielfalt jedes Individuums hervor und fordert: Jede und jeder muss die Möglichkeit bekommen, den eigenen Weg zu gehen – unabhängig vom Geschlecht.
"Ich hoffe", schreibt Daphna Joel, "dass Kinder, wenn das Thema Gender aufkommt, ihre Eltern (oder Großeltern) bitten müssen, ihnen zu erklären, was um Himmels willen man sich früher einmal dabei gedacht hat, Menschen nach der Form ihrer Genitalien einzuteilen."
Dieses unterhaltsame Buch liefert gute Argumente und regt dazu an, eine (leider) noch übliche Weltsicht infrage zu stellen.

Daphna Joel / Luba Vikhanski: "Das Gehirn hat kein Geschlecht. Wie die Neurowissenschaft die Genderdebatte revolutioniert"
Aus dem Amerikanischen von Johanna Wais
dtv Verlagsgesellschaft, München 2021
256 Seiten, 16 Euro

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