Otto Normalverdauers Lieblingslektüre
Giulia Enders' Bestseller "Darm mit Charme" hat eine regelrechte Welle von Darm-Büchern ausgelöst: von "Poste deine Darmspiegelung" bis "Scheißschlau. Wie eine gesunde Darmflora unser Hirn fithält". Hans von Trotha analysiert den Boom.
Mehr als eine Million verkaufte Hardcover, dann eine preisgekrönte Hörbuchversion und die Rechte verkauft in 26 Länder – das sind die Zahlen, von denen das Marketing, der Vertrieb und die Controller im Verlag träumen. Nur die Lektoren wissen nicht so recht, wie sie es anstellen sollen. Die Autoren naturgemäß schon gar nicht. Geschafft hat es ein Buch mit einem Thema, dem man das vielleicht am allerwenigsten zugetraut hätte.
O-Ton Giulia Enders: "Das war so: Mein Mitbewohner kam in die Küche und sagte: Giulia, du studierst doch Medizin. Wie geht kacken?"
Nach den Kochbüchern hat, als sei das folgerichtig, der Darm die Buchhandlungsregale erobert, mit allem, was dazugehört und was er produziert. Der Darm ist en vogue. Und der Ausstoß ist enorm.
Der Darm hat einen festen Platz auf den Bestsellerlisten
"Alles Scheiße. Wenn der Darm zum Problem wird"
"Kinderkacke. Der Survival Guide"
"Neues von der Arschterrasse"
"Poste deine Darmspiegelung"
"Sei du selbst, alles andere wirst du eh verkacken"
Das sind alles aktuelle Titel. Der Darm hat seinen festen Platz auf deutschen Buchcovern und behauptet sich auf den Bestsellerlisten. Denkt einer an Bücher und sagt das Wort "Darm", vollendet sein Gegenüber im Geist fast sicher: "mit Charme". Davon träumen sie nämlich auch in den Verlagsmarketingabteilungen: einen Titel prägen, der zum Slogan wird, der seine eigene Marke ist.
"Darm mit Charme". Der kleine Binnenreim ist so unbeholfen unschuldig hübsch wie die Frau, die vom Buchcover lächelt, und erst Recht wie die Zeichnung des niedlichen Titeldarms, der schon dem Cupcake applaudiert, mit dem er gleich machen darf, was ein Darm eben so mit all dem macht, das zu ihm heruntergespült wird. Und während ein Großteil der lesenden Menschheit bisher gar nicht unbedingt wissen wollte, was genau das ist, genügte die Pandoradose eines unschuldigen Binnenreims, um das für eine ganze Generation Verdauender zu ändern.
Denn ist der Charme erst einmal auf den Darm gereimt – was wie jede geniale Idee im Nachhinein so ungeheuer naheliegend erscheint – muss das in diesem Fall für gewöhnlich eher uncharmant behandelte Thema entsprechend charmiert werden.
Die Populärversion des Verdauungsvorganges kommt an
O-Ton Giulia Enders: "Ja, wie man ja schon mitgekriegt hat, studiere ich Medizin, und eine Sache, die bei Medizin immer am Großartigsten ist, sind so Tee- und Kaffeekränzchen bei Tanten, weil man dann gefragt wird, was man studiert. Und während meine Schwester dann ungefähr eine halbe Stunde erklären muss, was Kommunikationsdesign so ganz genau ist, sage ich ein Wort: Medizin! Und alle sind glücklich. (Lachen) Und das Ganze dauert leider nur so dreißig Sekunden an bei mir, weil dann die Frage kommt: Und in welche Richtung willst du später mal gehen? Und dann muss ich so aus treuer Liebe blank ziehen und ehrlich sagen: Seit meinem ersten Semester bin ich auf dem Darmrohr hängen geblieben, mir fängt alles nur mit dem Anus an und hat sich zu meinem absoluten Faszinationsthema ausgeweitet."
Im Fall des Megabestsellers "Darm mit Charme" von Giulia Endres kaufte der Verlag Autorin, Thema und Titel von der Bühne weg. Den Charme hat hier natürlich nicht der Darm, sondern eine fröhliche junge Frau, die mit ihrer Populärversion des Verdauungsvorgangs beim Science Slam den ersten Platz machte, was einen Verlag auf die Idee gebracht hat, dass sich das doch auch zwischen zwei Buchdeckeln an Ottonormalverdauer verkaufen lassen müsste. Schließlich besteht die Zielgruppe aus all jenen, die verdauen, damit immer wieder Probleme haben, darüber aber irgendwie nicht reden können, wollen, sollen oder dürfen.
Fröhliche Wissenschaft einer Tabuzone
Die anschwellende Leser- und Fangemeinde wird zur Schicksalsgemeinschaft der erleichtert erlebten Behebung einer durch Verklemmtheit hervorgerufenen kollektiven Verdauungsstörung. Deswegen wird bei dem Thema auch so viel gelacht. Es ist das gepeinte Lachen der Verklemmten angesichts ihrer eigenen Verklemmtheit. Das ist die fröhliche Wissenschaft einer tabuisierten Zone, kredenzt von der personifizierten Unschuld in Gestalt der fröhlichen Giulia Endres, der enthusiastischen Fürsprecherin des Darms als eines, so der Untertitel ihres Buchs, "unterschätzten Organs".
O-Ton Giulia Enders: "Ich weiß nie so ganz genau, was meine Tanten denken, weil sie sagen mir's ja nicht, aber ich vermute mal, es hat mit unfassbar viel Kot zu tun. In allen Erscheinungsformen und Substanzklassen, die Kot nur annehmen kann."
Eine Art literarischer Underberg
Inzwischen hat auch das Thema auf dem Buchmarkt alle Erscheinungsformen und Substanzklassen angenommen, die ein Thema auf dem Buchmarkt nur annehmen kann.
"Klo-Philosoph. In 180 Sitzungen zum Klugscheißer"
"Geiler Scheiß. 69 Aktionen, die du unbedingt mal gebracht haben solltest"
"Einen Scheiß muss ich"
"Entspann dich, verdammte Scheiße"
"Kleine Scheißer in große Gärten"
"Am Arsch vorbei geht auch ein Weg"
"Scheißschlau. Wie eine gesunde Darmflora unser Hirn fithält"
Wobei kein anderes Buch auch nur ansatzweise an den Erfolg von "Darm mit Charme" herangekommen ist – ein Erfolg an der Kasse und im Feuilleton gleichermaßen übrigens. "Darm mit Charme" bleibt nunmehr in der vierten Saison der Deutschen liebster Verdauungsbegleiter, eine Art literarischer Underberg mit hohem Informations-, Unterhaltungs- und Entlastungsfaktor. Es ist dieser Dreiklang, der hinter dem Erfolg steckt. Komm doch mit in den Darm mit Charme.
Der schmale Grat zwischen "Scheiße" und genial
O-Ton Giulia Enders: "Meine Tanten haben mir was nettes, glaub ich, hoff ich, gesagt. Sie heben gesagt: Immer wenn ich jetzt aufs Klo geh, muss ich an dich denken."
Der Gedanke, ein durch jahrhundertelange Tabuisierung belastetes Thema, das zudem sexuell aufgeladen ist …
O-Ton Giulia Enders: "Und er bildet circa 20 verschiedene Hormone. Also Leute, die sich da irgendwie von ihren Sexualhormonen leiten lassen, sind Minimalisten."
... mit dem Wildfang-Charme einer sympathischen Mädchenfrau zu kombinieren, ist tatsächlich genial. Diese Genialität spiegelt der niedlich gereimte Titel ebenso wie das kalkuliert unprofessionell daherkommende Porträt der Autorin auf dem Cover und der nette, anscheinend irgendwie danebengezeichnete Darm – eine kalkulierte grafische Katastrophe, die eben jene Unbeschwertheit transportiert, mit der wir dem Thema, der Autorin und der Buchhandelskasse begegnen sollen. Eine echte Gratwanderung. Das kann, direkt daneben, auch schlicht Scheiße sein. In diesem Fall aber wurde es der größte Sachbucherfolg unserer Zeit. Dessen letzter Satz lautet: "Wenn Gutes und Schlechtes in einem richtigen Verhältnis steht, dann kann uns das Schlechte abhärten, während das Gute uns pflegt und gesund hält." Irgendwie gilt das auch für den Buchmarkt, zumindest für seine vielen Titel rund um den Darm.