Tacheles auf Estnisch
Start-ups, NGOs, Restaurants haben sich im ehemaligen Industrie-Viertel Telliskivi im estnischen Tallinn angesiedelt. Überall stoße man auf Leute mit leuchtenden Augen, heißt es. Und hier wehe der Geist des ehemaligen Berliner Kreativzentrums Tacheles. Doch diese Entwicklung gefällt nicht allen.
Ein Nachbarschafts-Restaurant: Das trifft es ganz gut. Priit Juurman nickt an diesem bitterkalten Morgen verschlafen. Draußen tauchen dicke Schneeflocken die estnische Hauptstadt Tallinn in Watte, drinnen, im "F-Hoone", nippt der DJ an seinem Cappuccino. An das frühe Aufstehen muss sich der Mittvierziger immer noch gewöhnen. Aber wie das halt so ist: Als Jung-Unternehmer. Ausschlafen ist nicht mehr drin. Seit ein paar Jahren betreibt Priit das "F-Hoone". Hauptberuflich. Die Hipster lieben seinen Laden: die sieben, acht Meter hohen Decken; die unverputzten Wände; die internationale Küche.
"Als Existenzgründer musst du dich auf dein Bauchgefühl verlassen. Du solltest ein Gespür für Trends haben; für die Bedürfnisse der Leute. Natürlich ist das kein Selbstläufer. Es kann auch schief gehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie nervös wir waren, als wir unseren Laden aufmachten. Können die Talliner etwas mit einem Restaurant im sowjetischen Retro-Look anfangen? In Telliskivi, dieser heruntergekommenen Industrie-Gegend? Oder entpuppt sich alles als Luftnummer? Gott sei Dank lief es gleich vom ersten Tag an wie geschmiert."
Wie geschmiert läuft es auch für Jaanus Juss. Wenn man so will, ist der Self-Made-Mann der König von Telliskivi. Der blonde Mittdreißiger runzelt an seinem Stammplatz im F-Hoone, hinten am Fenster, die Stirn. Geht auch Ideen-Geber? Dann also Ideen-Geber. Als solcher hat der Mann mit dem abgebrochenen VWL-Studium 2010 die aus Sowjetzeiten stammende "Kalinin Elektrofabrik" ersteigert – und sie zu dem Hotspot der estnischen Kreativszene gemacht. Designer haben sich angesiedelt, Restaurants wie das F-Hoone, Start-ups. Vorherzusehen was das nicht.
Jaanus Juss: "Als wir in Telliskivi an den Start gingen, dauerte es ein Jahr, bis mit dem F-Hoone der erste Mieter einzog. Alle anderen hielten uns für verrückt: Wo sollen wir hin?! In irgendwelche heruntergekommenen Fabrikgebäude?! Ohne Fenster?! Wo Gras in den Gängen wächst?! Hallo?! Hakt es noch?! Einige Gebäude standen ja 30, 40 Jahre leer. Wir mussten viel Überzeugungsarbeit leisten, nach dem Motto: Ihr werdet schon sehen: In zwei, drei Jahren wird Telliskivi ein toller Ort sein. Ich kann es Priit und seinen Leuten gar nicht hoch genug anrechnen, dass sie so mutig waren. Sie haben uns einen Riesen-Vertrauensvorschuss gegeben.
Im F-Hoone ist Jaanus fast täglich. Er mag den Laden; dass hier der "Geist des Tacheles" weht, wie er das nennt – des Berliner Alternativ-Zentrums. Er tippt auf seine Kaffee-Tasse. Die Aufschrift – darauf kommt es ihm an: Irgendein John wünscht seiner Mary zur Silber-hochzeit auf Englisch als Gute. Das, meint er, sei typisch fürs F-Hoone. Jede Tasse: Ein Unikat.
"Ich habe kein Büro. Ich wüsste auch nicht warum. Ich sitze lieber im F-Hoone oder einem der anderen Cafés in Telliskivi. Das ist viel kommunikativer. So bin ich ständig im Gespräch mit meinen Mietern. Sie sagen kurz Hallo und wenn es ein Problem gibt, können wir darüber reden. Außerdem darfst du nicht vergessen: Wir Esten leben in einer digitalen Gesellschaft. Meine Dokumente beispielsweise: Sind alle in einer Cloud. Ich brauche nur mein Handy und mein Laptop. Selbst meine Steuererklärung mache ich online. Ich muss echt überlegen, wann ich das letzte Mal meinen Steuerberater gesehen habe. Ich glaube, das ist zwei Jahre her. In Estland kannst du alles online erledigen.
Globalisierungs-Verlierer und die Gentrifizierung Telliskivis
Irgendwo wird immer gebuddelt und gebaggert in Telliskivi. Jaanus hat sich seine blaue Baumwoll-Jacke geschnappt und ist nach draußen gegangen, in den verschneiten Hof. Er bleibt vor einer Garage stehen: In ein paar Wochen soll hier ein Eis-Laden einziehen. Handgemachtes Eis, aus einheimischer Milch und einheimischen Früchten, Blau- und Waldbeeren: Das Konzept seines Neu-Mieters hat ihn überzeugt.
"Eigentlich nennen wir sie ja nicht Mieter, sondern Bewohner. Am wichtigsten ist uns, eine gute Gemeinschaft zu schaffen. Wir suchen immer nach dem richtigen Bewohner mit der richtigen Idee. Es muss passen. Eines unserer besten Gebäude steht seit drei Jahren leer. Wir hatten schon 60, 70 Interessenten, die einziehen wollten. Aber irgendwie war nie der Richtige dabei. Dann lassen wir es lieber. Als Privat-Unternehmen können wir uns das leisten. Wenn wir staatliche Subventionen bekämen, würde garantiert irgendjemand sagen: Ihr verliert eine Stange Geld, jetzt vermietet es gefälligst schon."
Keine Kompromisse – diese Telliskivi-Haltung ist auch typisch für "Funderbeam" - und Vilu Arak, Mitbegründer des Start-ups und dessen Pressesprecher, bzw. laut Visitenkarte: Story Teller. Funderbeams Geschichte veranschaulicht der Mann mit dem Hipster-Bart vorzugsweise am Eingang des Großraum-Büros. Da hängt es: Das schwarze Fantasy-Gemälde mit dem skelettierten Reiter. Er habe zwar keinen Plan von Kunstgeschichte, meint der Enddreißiger lakonisch. Aber für ihn symbolisiere der Reiter die alte Bank-Industrie – wie sie gerade skelettiert werde. Von Start-ups wie Funderbeam. Vilu und sein Team wollen die Finanzwelt revolutionieren - indem sie Risiko-Kapitalgeber und Start-ups, die Kapital brauchen, zusammenbringen.
"Wir haben uns ganz bewusst für Telliskivi entschieden. Wir hätten ja auch in eines dieser Hochhäuser aus Glas und Stahl ziehen können. Klar funktioniert hier nicht alles hundertprozentig, es gibt immer noch dreckige Ecken, aber gerade das fanden wir attraktiv. Es hat ja auch etwas Symbolisches: Wir sind auf einem Gelände, in dem früher, zu Sowjetzeiten, Zugteile gebaut wurden. Die Industrie ist verschwunden, aber das Gelände hat eine Art Wiedergeburt erlebt. Es ist jetzt eine kreative Stadt. Voller Potential; positiver Energie. Du musst nur in eines der Restaurants gehen oder über den Flur: Überall stößt du auf Leute mit leuchtenden Augen. Das färbt auf einen ab."
Leuchtende Augen hatten sie bei Funderbeam auch letztes Jahr. Wegen Jan Tallinn. Der Skype-Gründer ist jetzt Anteilseigner des Start-ups. Vilus strahlt. Jan Tallinn - das ist in Estland die ganz große Nummer. So etwas wie Bill Gates und Mark Zuckerberg in einem. So wie Jan wollen Vilu und die anderen estnischen Nerds auch mal werden. Schon jetzt hat Estland pro Kopf die meisten Start-ups in Europa. So viel Turbo-Kapitalismus ist nicht jedem im 1,3-Millionen-Land geheuer. Natürlich weiß auch Funderbeams Geschichten-Erzähler, dass der Mindestlohn immer noch unter drei Euro liegt und die Globalisierungs-Verlierer aus den Trabanten-Vororten der Stadt über die "Telliskivi Schnösel" lästern. Vilu verzieht unmerklich das Gesicht. Auf die Story hat er eigentlich keine Lust. Auf das Gerede über die Gentrifizierung Telliskivis noch weniger.
"Wir sollten schon fair sein: Für viele Leute ist Gentrifizierung ein Schimpfwort. Nur: Ohne Gentrifizierung gäbe es Telliskivi nicht. Wir sind hier nicht weit von Kalamaja entfernt, dem Hipster-Bezirk. Da war vor zehn Jahren noch tote Hose. Jetzt wohnen dort junge Leute, die die alten Holzhäuser auf Vordermann gebracht haben. Das sind genau die Leute, die in Telliskivi abhängen oder arbeiten. Versteh mich nicht falsch: Natürlich kann Gentrifizierung auch eine Gefahr sein. Wenn es nur darum geht, möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen. Aber ich glaube nicht, dass so etwas in Telliskivi selbst passieren könnte. Jaanus und sein Team verkaufen nicht einfach Quadratmeter. Sie verkaufen Substanz."
Off-Theater mit internationalem Spielplan
Es ist Mittag geworden. Vilu stapft los, Richtung Fahrradladen. Abgefahrenere Mountain-Bikes gibt es nirgendwo sonst in Estland. Er kommt häufiger her: Zum Fachsimpeln; um abzuschalten. Tut ihm gut, meint der Revolutionär – genau wie das Roggen-Malz-Brot aus der gläsernen Bäckerei nebenan. Da will er nachher noch hin. Gut möglich, dass er dann wieder Maris Jogeva in die Arme läuft – der Leiterin von "Neno", dem Netzwerk der estnischen NGOs. So wie letztens.
"Es ist wichtig, dass wir in Telliskivi sind – und nicht in irgendeinem teuren Gebäude. Nicht zuletzt für unser Image. Wir arbeiten viel mit staatlichen Stellen zusammen, mit Beamten. Wir laden sie immer zu uns ein. Damit sie sehen, was für eine Atmosphäre bei uns herrscht. Die meisten sind ziemlich angetan: Bei Euch ist alles so hell. So bunt. Ihr strahlt alle so. Das höre ich immer wieder. Es stimmt ja auch: In Telliskivi spulen wir nicht einfach unser Programm ab. Wir haben eine Mission."
Maris Mission – das ist, die Zivilgesellschaft in Estland zu vernetzen. 107 NGOs machen bei Neno mit. Etliche haben ihre Büros in Telliskivi – einige auf demselben Flur wie Neno.
"Ja, es stimmt schon: Bei uns ist alles ziemlich entspannt. Wir brauchen keine Hierarchien. Was wir brauchen, sind Netzwerke. Wie können wir erreichen, dass möglichst viele Leute an einen Strang ziehen: Darum geht es. Nicht, wer das Sagen hat. Das hat vielleicht auch etwas mit unserer estnischen Mentalität zu tun; der Tatsache, dass wir ein kleines Land sind. Über ein, zwei Ecken kennt hier jeder jeden. Es macht die Zusammenarbeit leichter. Die Wege sind kurz. Das mag ein Grund sein, warum die Hierarchien in Estland so flach sind."
Ein ausverkauftes Haus: Das ist ganz nach dem Geschmack von Thomas Frank, dem Kurator von Vaba Lava. Der Wiener Theatermacher hat es sich nicht nehmen lassen zur Premiere von "Wer hat Angst vor den Blinden" zu kommen. Ein Theaterstück über Blinde – mit blinden Amateur-Schauspielern: Das hat es in Estland noch nie gegeben. Thomas war sich anfangs nicht sicher, wie das Publikum darauf reagieren würde. Aber alles o.k. Er seufzt erleichtert. Auf die Leute in Telliskivi ist Verlass.
"Wenn ich von Premieren hier zurück nach Wien komme, denken immer alle: Ich übertreibe maßlos. Ich finde es unglaublich, was für 'ne Offenheit, Akzeptanz und Bereitschaft hier dem Theater, der zeitgenössischen Kunst, der Kultur überhaupt, entgegengebracht wird."
Letztes Jahr, in seiner zweiten Saison, hatte Vaba Lava schon 55.000 Besucher. Eine Spielstätte für unabhängiges Off-Theater: Das fehlte noch im kleinsten der drei Balten-Staaten. Mit internationalem Spielplan. Deshalb auch zwei Kuratoren: einen estnischen und einen internationalen.
"Telliskivi könnte sicherlich kein Bezirk in Wien sein. Wien ist viel zu entwickelt. Seitdem ich das erste Mal hier war - 2014 zu heute - hat sich Telliskivi schon rasant verändert. Dass so'n Theater in der Größenordnung überhaupt neu gebaut wurde, ist natürlich 'nen Wahnsinn. Das gibt’s in West-Europa kaum."
Freut sich der Theatermann aus dem Westen. Er hat sich wieder ins Publikum gesetzt – zum zweiten Akt. In Gedanken ist Thomas schon ein bisschen bei der nächsten Premiere: der Koch-Performance eines Schweizer Happening-Künstlers Anfang April. Kann eigentlich auch nur Erfolg werden. In Telliskivi, der estnischen Variante des Berliner Tacheles.