Das andere 1968
Vom legendären Woodstock-Festival bis zu der gerade von Sean Penn verfilmten Abenteuergeschichte "In die Wildnis" spannt sich ein Bogen, bei dem die Jugend das Aussteigen aus gesellschaftlichen Konventionen übt. Welche Motive steckten hinter dieser Sehnsucht damals und wie wandelten sie sich bis heute?
1968 - ein Synonym für Rebellion und Auflehnung. In der Musik waren es damals "Die Doors” und das "Woodstock Festival” mit Janis Joplin oder Joe Cocker, Ravi Shankar oder Santana, die ein Lebensgefühl des Ungehorsams gegen den Staat und ungeahnter Freiheiten vermittelten.
Das "Woodstock Festival”, das im August 1969 stattfand, 32 Bands und Solisten der unterschiedlichsten Richtungen (wie Folk, Rock, Soul und Blues) vereinigte, wurde zum Symbol der US-amerikanischen Hippiebewegung. Die Musik, das Engagement für Frieden und der Drogenkonsum gingen hier, bei den über 400.000 Besuchern, die Einlass fanden, eine exotische Verbindung miteinander ein. Die Teilnehmer wussten sich einig im Kampf gegen jede Form von Krieg (auf dem Hintergrund des Vietnamkriegs), gegen Unterdrückung und für die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegungen. Der Historiker Norbert Frei spricht von der "ersten globalen Revolution”: Die Bilder aus Vietnam wurden global geliefert, und man sah die Demonstranten gegen Krieg und Unterdrückung an vielen Orten der Welt.
"Die Formen stammen aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 'Sit in, 'teach in', 'go in', alle diese Begriffe, die entstehen im Zusammenhang mit der zivilen Bewegung gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten, vor allem in den Südstaaten, wo sich viele Studenten in den frühen sechziger Jahren schon engagieren. Sie nehmen diese Formen, Techniken und Methoden mit an die Universität. Und dann kommt es 1964 in Berkeley zu der sogenannten "Free Speech Movement", von der man auch gesagt hat, sie sei die Mutter aller Studentenrevolten gewesen."
Gespeist wurde die 68er Bewegung aus vielen Strömungen, Phantasien und Utopien. Es wäre ein Irrtum zu meinen, dass sich gleich von Anfang an ein Gefühl für die gewünschten Lebensformen und ein einheitlicher Musikgeschmack herausgebildet hätten.
In Deutschland standen damals auch die volkstümlichen, noch den Mief der fünfziger Jahre ausströmenden Schlager hoch im Kurs. Das waren Heintje, Peter Alexander und Roy Black, und im Kino liefen zum Beispiel Paukerfilme und der Streifen "Zur Sache, Schätzchen”. Gleichzeitig erschienen die Drogen als das große Sesam-öffne-dich in andere Welten.
Aldous Huxleys 1959 erschienenes Buch "Die Pforten der Wahrnehmung” gab die Richtung vor - und die "Doors” hatten sich bei ihrer Namensgebung von diesem Titel inspirieren lassen.
Die Neigung der jungen Generation zum Irrationalen und Okkulten und die Faszination für das Geheimnisvolle und Exotische verunsicherte viele der Intellektuellen von Grund auf. Gerade erst glaubte man, die dem Faschismus eigenen irrationalen Tendenzen aufgearbeitet zu haben und Zeuge einer breiten politischen Bewusstseinsbildung geworden zu sein, da setzte sich der Wunsch nach alternativen Gesellschaftsmodellen und neuen Lebensformen mit Macht durch. Ernst Bloch sah den Grund dafür in der Leere und Kälte der bürgerlichen Gesellschaft:
"Der Tag der meisten ist öder als je ... selten war bürgerliche Kälte so lastend ... Desto heftiger der Wille, wenigstens versteckt durchzubrechen.” "
Die großen Theoretiker einer kritischen Philosophie sahen darin "Aberglaube, Unsinn, Archaismen”, "jämmerlichen Blödsinn” und "faulen Zauber”, Betrügerisches und Bankrotthaftes am Werk. Eine solche Kritik war damals ein obligates Bekenntnis zum Rationalen im Rahmen eines aufgeklärten Denkens.
In Wirklichkeit aber bestimmte ein komplexes Lebensgefühl die junge Generation in den 68er Jahren in Amerika und dann in Europa! In Deutschland steckte der Schrecken des Krieges noch in den Körpern und Seelen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Das politische ’68 hatte die Verwirklichung einer anderen Geschichte und einer anderen Gesellschaft auf seine Fahnen geschrieben. Und dann gab es die 68er, die alle Energie in die Realisierung der individuellen Freiheit und der Schaffung exotischer Gegenwelten investierte. Welch ein großer Spielraum für das Ausleben von Gefühlen tat sich da plötzlich auf! Dies war genau das, was sich Albert Hofmann, der Erfinder von LSD, wünschte:
""LSD ist ein Mittel, das unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmung auf andere Teile, andere Inhalte unseres menschlichen Daseins lenkt, sodass wir wieder des geistigen Hintergrunds gewahr werden. Was LSD bewirkt, ist eine Reduktion der intellektuellen Kräfte zugunsten eines emotionalen Erfahrens der Welt.” "
1968: das ist also Straßenkampf, Häuserbesetzung und Aufbegehren gegen die alten, verkrusteten Strukturen der Gesellschaft und der Universitäten. Gleichzeitig stehen die Jahre um 1968 für die individuelle Revolte, das Spielerische und die Bewusstseinserweiterung. Die Protestbewegung der Hippies und der Aufbruch der Alternativen folgten der Vision eines anderen Lebens, jenseits von Zwang und Routine. Der neue Lebensentwurf sollte realisiert werden in (idealisierten) fremden Kulturen oder in Kommunen und ökologischen Randbezirken der eigenen Gesellschaft.
Mit Notwendigkeit werden diese Phantasien und Aktivitäten schließlich durch die Ethnologie und ihre Erforschung fremder Kulturen vertieft. Marksteine waren die Bücher von Carlos Castaneda, Hans Peter Duerr und Bruce Chatwin, die uns nun auch fundiert mit der nomadischen Lebensform sowie mit den Grenzerfahrungen durch Drogen und schamanistische Praktiken vertraut machten. Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl, ein enger Freund von Hans Peter Duerr, erinnert sich.
""Wenn ich mich richtig erinnere, sind die Studien von Malinowski oder auch Margaret Mead damals in den Berliner Kommunen gelesen worden in der Hoffnung, aus dem, was man über die Lebensformen lokaler Kulturen erfahren konnte, auch Handlungsanweisungen für das eigene Zusammenleben zu beziehen. Überhaupt übersieht man das auch oft: 68 haben sich alle Studenten als Rousseau-Zitate verkleidet. Da sind dann auch Studien entstanden wie die von Hans Peter Duerr 'Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation', 1978. Ein Buch, in dem er versucht hat, den Drogenerfahrungen seiner Generation eine Art von kognitivem Rahmen zur Verfügung zu stellen."
Im weitesten Sinn und auch sehr banalisiert wirken diese Aufbrüche und die Einbeziehung anderer Lebensformen in das eigene Leben heute weiter, zum Beispiel in Computer-Spielformen oder im Fernsehen: Fernsehsendungen wie die Doku-Soap "auf und davon” (auf Vox) oder die Reality-Show "Ich bin ein Star - holt mich hier raus!” (auf RTL) basieren auf der Sehnsucht nach dem Fremden und Exotischen und gleichzeitig auf der Angst vor dem Fremden.
Als Begriffe wie "Aussteiger”, "Hippie”, "Kommune” und "alternatives Leben” aufkamen und die Zeitgeist-Debatten mitbestimmten, hatte das Fernsehen diese Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen noch nicht für ein größeres Publikum entdeckt. Den Anfang machten Rainer Langhans und die "Kommune 1". Wogegen hatte die "Kommune 1" rebelliert?
Langhans: "Gegen ein Leben, das so viel Mord hervorbringen konnte. Das hat uns wirklich umgetrieben, und wir sahen damals sehr begründeten Anlass anzunehmen, dass das noch alles ganz schön in uns allen steckte. Die ganzen Eliten waren damals immer noch Nazi-Leute.” "
Die "Kommune 1" mit Rainer Langhans und seinen Frauen war für das breite Publikum eine Gruppe von Aussteigern, die den revolutionären Umsturz der Gesellschaft anstrebten und unablässig sexuelle Orgien praktizierten. In Wahrheit aber waren sie nicht an gesellschaftlichen Veränderungen, sondern an Selbsterfahrung und Innenschau interessiert, und politisch waren sie nur, indem sie das Private als höchst politisch empfanden.
Außer der eingeengt politischen Betrachtungsweise störte die nach Zärtlichkeit Suchenden auch das Machtgehabe der Männer. Die 68er hatten in ihrer Selbstermächtigung zur politischen Avantgarde auch etwas von einer "besseren Heilsarmee” an sich und ähnelten, wie der Historiker Götz Aly betont, ihren Eltern auf elende Weise.
""Diese wie jene sahen sich als ‘Bewegung’, die das ‘System’ der Republik von der historischen Bühne fegen wollten. Sie verachteten ... den Pluralismus und liebten ... den Kampf und die Aktion. Sie verbanden Größenwahn mit kalter Rücksichtslosigkeit.”"
Diejenigen, die die Gewaltanteile und die totalitären Tendenzen im politischen Kampf der 68er erkannten, schlugen einen anderen, auf seelische Entwicklung und auf Selbstreflexion angelegten Weg ein. Selbst mitten in diesem revolutionären, an Befreiungsbewegungen orientierten Kampf schwärmte Rudi Dutschke für andere Formen der Befreiung, zum Beispiel in den Lebensformen der amerikanischen Hippies.
""Ein eigenes Milieu, ein eigenes Leben, gegenseitige Hilfe, eigenes Zirkulationsfeld. Die Bedürfnisse des Körpers, in welcher Form auch immer sie auftreten, werden nicht verdrängt.” "
Die Forderung nach einer Umsetzung der Theorie in die gesellschaftsverändernde Praxis, hatte nur eine begrenzte Faszinationskraft. Gebunden war die Faszination an den Glauben, dass die Befreiung des Einzelnen über die rationale Strukturierung der Gesellschaft erreicht werden könnte. Ernst Bloch war 1968 ein sprachmächtiger Verkünder dieser Idee.
""An der Front der Geschichte stehend. Das ist unsere Zeit, die veränderbar ist und durch uns verändert werden kann, nach Maßgabe der Lichtgebung, die wir in diese verworrene, suchende und von Tendenzen erfüllte und durchkreuzte Welt hineinwerfen.” "
Mit Lichtgebung war Aufklärung gemeint. Aber schon bald erkannte die junge Generation, dass ihre individuellen Wünsche nach Erhellung ihres Lebens und ihrer Phantasien kaum berührt wurden. Die eruptiv aufbrechenden Freiheitsphantasien und Entwürfe unkonventioneller Lebens- und Umgangsformen wollten sich jetzt unkontrolliert ausprobieren, nicht mehr orientiert am politischen Kampf, den Rudi Dutschke und andere Wortführer der 68er proklamierten.
""Die Menschen haben ihre Geschichte schon immer gemacht, aber noch nicht bewusst. Es müssen die Unterdrückten frei werden und sich nicht mehr manipulieren lassen.” "
Der 1969 gedrehte Film "Easy Rider” wurde zum Inbegriff eines neuen Lebensgefühls, das sich vor allem in dem Verschmelzen mit der Musik, in ekstatischen Drogenzuständen und einer nonverbalen, bildhaften Kommunikation auszudrücken versuchte. Zugleich handelt der Film von Drogenhandel, Kriminalität und Konflikten der Motorradfahrer und Hippies mit der Gesellschaft.
""Ein Mann suchte Amerika, doch er konnte es nirgends mehr finden.” "
So lautete das Motto des Films. Die USA wurden nicht als ein Land unbegrenzter Möglichkeiten und als Inbegriff von Freiheit und Toleranz verherrlicht. Dennoch war "Easy Rider" ein Road-Movie, das Freiheit und Abenteuer versprach.
Das Aussteigen aus der Gesellschaft hatte in den Jahren nach 1968 viele Formen. Die Kommune - innerhalb der eigenen Gesellschaft gegründet - war genauso exotisch wie das Leben in einem indischen Ashram oder die Teilnahme an einem Survival-Kurs. So vielfältig die Formen des Aussteigens aber auch waren, sie erscheinen uns im Nachhinein zugleich als eigenartig normiert und klassifiziert, denn sie gründeten immer in der Vorstellung, man könnte eine Parallelgesellschaft etablieren, die sogar die Kraft hätte, sich am Ende gegen die verbindlichen Lebensformen durchzusetzen. Karl-Heinz Kohl:
""Irgendwie war 1968 der Höhepunkt der politischen Epoche, die wir heute als 1968 bezeichnen, 68 schon vorbei. Es war auch das Jahr der Neuorientierungen. Es waren damals nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika, Australien, England sehr, sehr viele junge Menschen mit einer Motivation, über die sich keiner so richtig im Klaren war, den Orient suchend. Das hatte sicher auch etwas zu tun mit den Drogenerfahrungen der Zeit. Es war eigentlich ein Aufbruch in ein Unbekanntes."
Dabei gingen einzelne Modelle und Konzepte ganz eigenartige Verbindungen mit konträren Positionen ein; so zum Beispiel die damals aufkommenden Survival- oder Überlebens-Kurse mit den offiziellen und bürokratischen Katastrophenschutzplanern. Beide übten sie ein Verhalten bei drohender Groß-Katastrophe ein: Notsignale oder Erste Hilfe geben, Wassergewinnung, Ernährung aus den Beständen der Natur - bzw. deren Resten -, Feuermachen, Orientierung im Gelände usw.
"Das waren natürlich alles Experimente auf einem völlig neuen Terrain. Man hatte keine Vorbilder für die neuen Lebensformen, die man einführen wollte und die sich ganz wesentlich bestimmt haben durch Abgrenzung, was sie nicht sein wollten. Wie lässt sich eine nicht-bürgerliche Gesellschaft positiv umsetzen? Das war gerade auch in den Kommunen mit enormen Problemen verbunden, weil es in vielen Fällen nicht möglich war, die eigene Affektsteuerung den neuen Zielsetzungen anzupassen."
Das Leben in den Kommunen und in fremden Kulturen war ein offenes Experimentierfeld. Survival-Touren wurden als "Überlebenstrainingskurse” angeboten, unter anderem von einem Institut, das sich "Institut für Freizeit- und Sozialberatung” nannte. Mit Anleihen aus Bundeswehr und Pfadfinderleben, aus Nachkriegszeit und Freizeitgewerbe entstand hier eine ganz neue survival-science. Standardprogramme waren: den Ozean im Einbaum überqueren, mit Karawanen durch die Wüste ziehen, sich in Tonnen die Niagara-Fälle hinabstürzen, auf dem Amazonas, im Gebirge, auf entlegenen Inseln, in tiefen Wäldern leben. Einübung in die Kunst des Überlebens in der Natur, in der Wildnis. Das Risiko suchen und es berechenbar machen. Von der Ethnologie erhoffte man sich dafür die notwendigen Kenntnisse über die fremden Kulturen.
"Die Orientierung an den Lebensformen der früher sogenannten Wilden war dann auch ganz offensichtlich. Da ist ja auch ein weiterer Punkt, auf den die Bewegung von 68 zugeströmt ist, nämlich die Ethnologie. Die Ethnologie wurde einmal wichtig, deswegen weil sie Vorbilder liefern konnte für alternative Formen des Zusammenlebens. Sie wurde aber auch wichtig in dem Moment, in dem man eingesehen hatte, dass die Hoffnungen, die man noch bis Anfang der 70er Jahre auf die Selbstbefreiungsbewegungen in den Ländern der sogenannten Dritten Welt gesetzt hatte, gescheitert waren. Mit dem Ende dieser Utopien hat man dann auch zugleich versucht, neue Projektionsflächen zu gerieren, und diese neuen Projektionsflächen haben sich dann ganz wesentlich zentriert auf die Gesellschaften, die in den Ländern der Dritten Welt selbst wieder als unterdrückte lebten, nämlich diejenigen, die man früher als Wilde oder Primitive bezeichnet hat."
Es boten sich nun zwei Möglichkeiten an: in der Gesellschaft wieder eine Heimat zu finden oder aber aus der Gesellschaft auszusteigen und sich in alternativen Projekten zu engagieren. Man musste erst unterscheiden lernen zwischen alternativen Projekten an Ort und Stelle - als Alternative zu herkömmlichen Produktionsformen - und Alternativprojekten, die der Aussteiger in einem anderen Land zu realisieren versuchte. Manche unfreiwillig zur Untätigkeit verurteilten Arbeiter besannen sich auf die selbstverantwortliche, alternative Nutzung zum Beispiel der ausgemusterten Werft-Anlagen. Allein in Berlin existierten 1983 etwa 1500 alternative Projekte, in denen 10.000 bis 15.000 Menschen arbeiteten. Es waren aktive Gegenentwürfe zu bestehenden und als mangelhaft erfahrenen oder empfundenen Systemen im Gesundheitswesen, im Sozial- und Wirtschaftsleben, in der Kultur. Es ging dabei um Selbstverwirklichung, soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Die wenigsten dieser "alternativen Aktivisten” wollten aus ihrer Kultur aussteigen, ganz im Gegenteil: Sie suchten nach Möglichkeiten, den Grad an Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft zu verringern, sich selbst aus ihrer Außenseiterposition - zum Beispiel als Arbeitslose - oder anderen aus ihrem Rand-Dasein - zum Beispiel als Ausländer - herauszuhelfen. Dass diese Form des alternativen Lebens sehr weitgehend gesellschaftlich integrierbar war und hier ein nicht unbeachtlicher Teil der Bevölkerung vor Asozialität und Kriminalität geschützt und für die Gesellschaft wieder "nützlich” gemacht werden konnte, wurde von Politikern schnell begriffen. So bemerkte der damalige Berliner Sozialsenator Ulf Fink:
"Die zahlreichen psychosozialen Initiativen verstehen ihre Arbeit als Hilfe zur Selbsthilfe und versuchen dabei neue Formen der Arbeit zu finden, was unterstützenswert ist.” "
Alternativprojekte dagegen, die an das Aussteigen aus der eigenen Kultur geknüpft waren, erfuhren keine finanzielle Unterstützung. Man behandelte sie verächtlich oder einfach nur gleichgültig. Die meisten Aussteiger stellten sich ihr anderes Leben nicht als einzelne, sondern in einer Gruppe vor. Was auch folgerichtig war: Sie wollten die Zivilisation verlassen, weil sie sich als Gesellschafts-, als Gemeinwesen nicht mehr realisieren konnten in einer als lebensfeindlich empfundenen Umgebung.
Kaum einer, der mit dem Wunsch, ein lebenswerteres Leben zu führen, in die Einsamkeit der kanadischen Wälder ging oder Oliven auf der Insel Vulcano pflanzte, der am indischen Strand von Goa meditieren oder in Australien Vieh züchten wollte, konnte dies als einzelner tun, wenn er nicht gerade aus einem starken einsiedlerischen Wunsch aufgebrochen war.
Der Aussteiger-Wunsch verblieb damals oft in einem unaufgeklärten Verhältnis zwischen dem utopischem Ziel, in eine neue Welt einzudringen, und der Besinnung auf historische Bewegungen, wie etwa der Freikörperkultur und auf religiöse bzw. pseudoreligiöse Bedürfnisse. Man aktivierte einen latenten Heilswunsch, verbunden mit der Phantasie, der eigenen Kultur und Arbeitswelt zu entkommen.
" "Die Reise ins Ungewisse war damals ein ganz wichtiges Motiv und hat auch die vielen bewegt, die von Europa nach Indien aufgebrochen sind ... Goa ... Bali. Aber die Reisen, die man dorthin unternommen hat, waren in ihren Auswirkungen dann meistens doch desillusionierend, denn das, was man sich erhofft hat, nämlich die Erfahrung des ganz Anderen, hat sich in aller Regel nicht erfüllt. Es ist gescheitert an den Sprachbarrieren, auch an den internalisierten Normen und Werten, die man nicht so einfach abschütteln kann."
Man hatte keine Erfahrung mit anderen Lebensformen und wusste nur eins: so wie die Eltern wollte man nicht länger leben. Man glaubte, wenn man die von Lügen und Entfremdungen dominierten Strukturen aufgebe und sich zu Liebe und Wahrheit bekenne, lasse man bereits alle Konflikte hinter sich.
Jüngstes Beispiel einer künstlerischen Darstellung des Aussteiger-Wunsches ist der Film "In die Wildnis” von Sean Penn. Gedreht nach einem Roman von Jon Krakauer wird die Geschichte eines jungen Amerikaners erzählt, der in den 1990er Jahren seine Familie verlässt, sich "Supertramp” nennt, in die Wildnis aufbricht und jämmerlich verhungert. Er glaubt, die Freiheit der Natur würde auch seine eigene innere Freiheit, schon allein dadurch, dass er sich in der freien Natur aufhält. Kurz bevor er verhungert, notiert er: "In der Wildnis gefangen” und "Glück ist nur wirklich, wenn man es teilt". In der Familie zu leben, schien vielen nach 1968 nicht mehr als möglich oder erstrebenswert, und die Alternativen mussten erst erprobt werden. Es galt, überhaupt erst einmal ein Gefühl für die innere Wahrheit und Selbstbefreiung zu finden.
Das "Woodstock Festival”, das im August 1969 stattfand, 32 Bands und Solisten der unterschiedlichsten Richtungen (wie Folk, Rock, Soul und Blues) vereinigte, wurde zum Symbol der US-amerikanischen Hippiebewegung. Die Musik, das Engagement für Frieden und der Drogenkonsum gingen hier, bei den über 400.000 Besuchern, die Einlass fanden, eine exotische Verbindung miteinander ein. Die Teilnehmer wussten sich einig im Kampf gegen jede Form von Krieg (auf dem Hintergrund des Vietnamkriegs), gegen Unterdrückung und für die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegungen. Der Historiker Norbert Frei spricht von der "ersten globalen Revolution”: Die Bilder aus Vietnam wurden global geliefert, und man sah die Demonstranten gegen Krieg und Unterdrückung an vielen Orten der Welt.
"Die Formen stammen aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 'Sit in, 'teach in', 'go in', alle diese Begriffe, die entstehen im Zusammenhang mit der zivilen Bewegung gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten, vor allem in den Südstaaten, wo sich viele Studenten in den frühen sechziger Jahren schon engagieren. Sie nehmen diese Formen, Techniken und Methoden mit an die Universität. Und dann kommt es 1964 in Berkeley zu der sogenannten "Free Speech Movement", von der man auch gesagt hat, sie sei die Mutter aller Studentenrevolten gewesen."
Gespeist wurde die 68er Bewegung aus vielen Strömungen, Phantasien und Utopien. Es wäre ein Irrtum zu meinen, dass sich gleich von Anfang an ein Gefühl für die gewünschten Lebensformen und ein einheitlicher Musikgeschmack herausgebildet hätten.
In Deutschland standen damals auch die volkstümlichen, noch den Mief der fünfziger Jahre ausströmenden Schlager hoch im Kurs. Das waren Heintje, Peter Alexander und Roy Black, und im Kino liefen zum Beispiel Paukerfilme und der Streifen "Zur Sache, Schätzchen”. Gleichzeitig erschienen die Drogen als das große Sesam-öffne-dich in andere Welten.
Aldous Huxleys 1959 erschienenes Buch "Die Pforten der Wahrnehmung” gab die Richtung vor - und die "Doors” hatten sich bei ihrer Namensgebung von diesem Titel inspirieren lassen.
Die Neigung der jungen Generation zum Irrationalen und Okkulten und die Faszination für das Geheimnisvolle und Exotische verunsicherte viele der Intellektuellen von Grund auf. Gerade erst glaubte man, die dem Faschismus eigenen irrationalen Tendenzen aufgearbeitet zu haben und Zeuge einer breiten politischen Bewusstseinsbildung geworden zu sein, da setzte sich der Wunsch nach alternativen Gesellschaftsmodellen und neuen Lebensformen mit Macht durch. Ernst Bloch sah den Grund dafür in der Leere und Kälte der bürgerlichen Gesellschaft:
"Der Tag der meisten ist öder als je ... selten war bürgerliche Kälte so lastend ... Desto heftiger der Wille, wenigstens versteckt durchzubrechen.” "
Die großen Theoretiker einer kritischen Philosophie sahen darin "Aberglaube, Unsinn, Archaismen”, "jämmerlichen Blödsinn” und "faulen Zauber”, Betrügerisches und Bankrotthaftes am Werk. Eine solche Kritik war damals ein obligates Bekenntnis zum Rationalen im Rahmen eines aufgeklärten Denkens.
In Wirklichkeit aber bestimmte ein komplexes Lebensgefühl die junge Generation in den 68er Jahren in Amerika und dann in Europa! In Deutschland steckte der Schrecken des Krieges noch in den Körpern und Seelen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Das politische ’68 hatte die Verwirklichung einer anderen Geschichte und einer anderen Gesellschaft auf seine Fahnen geschrieben. Und dann gab es die 68er, die alle Energie in die Realisierung der individuellen Freiheit und der Schaffung exotischer Gegenwelten investierte. Welch ein großer Spielraum für das Ausleben von Gefühlen tat sich da plötzlich auf! Dies war genau das, was sich Albert Hofmann, der Erfinder von LSD, wünschte:
""LSD ist ein Mittel, das unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmung auf andere Teile, andere Inhalte unseres menschlichen Daseins lenkt, sodass wir wieder des geistigen Hintergrunds gewahr werden. Was LSD bewirkt, ist eine Reduktion der intellektuellen Kräfte zugunsten eines emotionalen Erfahrens der Welt.” "
1968: das ist also Straßenkampf, Häuserbesetzung und Aufbegehren gegen die alten, verkrusteten Strukturen der Gesellschaft und der Universitäten. Gleichzeitig stehen die Jahre um 1968 für die individuelle Revolte, das Spielerische und die Bewusstseinserweiterung. Die Protestbewegung der Hippies und der Aufbruch der Alternativen folgten der Vision eines anderen Lebens, jenseits von Zwang und Routine. Der neue Lebensentwurf sollte realisiert werden in (idealisierten) fremden Kulturen oder in Kommunen und ökologischen Randbezirken der eigenen Gesellschaft.
Mit Notwendigkeit werden diese Phantasien und Aktivitäten schließlich durch die Ethnologie und ihre Erforschung fremder Kulturen vertieft. Marksteine waren die Bücher von Carlos Castaneda, Hans Peter Duerr und Bruce Chatwin, die uns nun auch fundiert mit der nomadischen Lebensform sowie mit den Grenzerfahrungen durch Drogen und schamanistische Praktiken vertraut machten. Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl, ein enger Freund von Hans Peter Duerr, erinnert sich.
""Wenn ich mich richtig erinnere, sind die Studien von Malinowski oder auch Margaret Mead damals in den Berliner Kommunen gelesen worden in der Hoffnung, aus dem, was man über die Lebensformen lokaler Kulturen erfahren konnte, auch Handlungsanweisungen für das eigene Zusammenleben zu beziehen. Überhaupt übersieht man das auch oft: 68 haben sich alle Studenten als Rousseau-Zitate verkleidet. Da sind dann auch Studien entstanden wie die von Hans Peter Duerr 'Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation', 1978. Ein Buch, in dem er versucht hat, den Drogenerfahrungen seiner Generation eine Art von kognitivem Rahmen zur Verfügung zu stellen."
Im weitesten Sinn und auch sehr banalisiert wirken diese Aufbrüche und die Einbeziehung anderer Lebensformen in das eigene Leben heute weiter, zum Beispiel in Computer-Spielformen oder im Fernsehen: Fernsehsendungen wie die Doku-Soap "auf und davon” (auf Vox) oder die Reality-Show "Ich bin ein Star - holt mich hier raus!” (auf RTL) basieren auf der Sehnsucht nach dem Fremden und Exotischen und gleichzeitig auf der Angst vor dem Fremden.
Als Begriffe wie "Aussteiger”, "Hippie”, "Kommune” und "alternatives Leben” aufkamen und die Zeitgeist-Debatten mitbestimmten, hatte das Fernsehen diese Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen noch nicht für ein größeres Publikum entdeckt. Den Anfang machten Rainer Langhans und die "Kommune 1". Wogegen hatte die "Kommune 1" rebelliert?
Langhans: "Gegen ein Leben, das so viel Mord hervorbringen konnte. Das hat uns wirklich umgetrieben, und wir sahen damals sehr begründeten Anlass anzunehmen, dass das noch alles ganz schön in uns allen steckte. Die ganzen Eliten waren damals immer noch Nazi-Leute.” "
Die "Kommune 1" mit Rainer Langhans und seinen Frauen war für das breite Publikum eine Gruppe von Aussteigern, die den revolutionären Umsturz der Gesellschaft anstrebten und unablässig sexuelle Orgien praktizierten. In Wahrheit aber waren sie nicht an gesellschaftlichen Veränderungen, sondern an Selbsterfahrung und Innenschau interessiert, und politisch waren sie nur, indem sie das Private als höchst politisch empfanden.
Außer der eingeengt politischen Betrachtungsweise störte die nach Zärtlichkeit Suchenden auch das Machtgehabe der Männer. Die 68er hatten in ihrer Selbstermächtigung zur politischen Avantgarde auch etwas von einer "besseren Heilsarmee” an sich und ähnelten, wie der Historiker Götz Aly betont, ihren Eltern auf elende Weise.
""Diese wie jene sahen sich als ‘Bewegung’, die das ‘System’ der Republik von der historischen Bühne fegen wollten. Sie verachteten ... den Pluralismus und liebten ... den Kampf und die Aktion. Sie verbanden Größenwahn mit kalter Rücksichtslosigkeit.”"
Diejenigen, die die Gewaltanteile und die totalitären Tendenzen im politischen Kampf der 68er erkannten, schlugen einen anderen, auf seelische Entwicklung und auf Selbstreflexion angelegten Weg ein. Selbst mitten in diesem revolutionären, an Befreiungsbewegungen orientierten Kampf schwärmte Rudi Dutschke für andere Formen der Befreiung, zum Beispiel in den Lebensformen der amerikanischen Hippies.
""Ein eigenes Milieu, ein eigenes Leben, gegenseitige Hilfe, eigenes Zirkulationsfeld. Die Bedürfnisse des Körpers, in welcher Form auch immer sie auftreten, werden nicht verdrängt.” "
Die Forderung nach einer Umsetzung der Theorie in die gesellschaftsverändernde Praxis, hatte nur eine begrenzte Faszinationskraft. Gebunden war die Faszination an den Glauben, dass die Befreiung des Einzelnen über die rationale Strukturierung der Gesellschaft erreicht werden könnte. Ernst Bloch war 1968 ein sprachmächtiger Verkünder dieser Idee.
""An der Front der Geschichte stehend. Das ist unsere Zeit, die veränderbar ist und durch uns verändert werden kann, nach Maßgabe der Lichtgebung, die wir in diese verworrene, suchende und von Tendenzen erfüllte und durchkreuzte Welt hineinwerfen.” "
Mit Lichtgebung war Aufklärung gemeint. Aber schon bald erkannte die junge Generation, dass ihre individuellen Wünsche nach Erhellung ihres Lebens und ihrer Phantasien kaum berührt wurden. Die eruptiv aufbrechenden Freiheitsphantasien und Entwürfe unkonventioneller Lebens- und Umgangsformen wollten sich jetzt unkontrolliert ausprobieren, nicht mehr orientiert am politischen Kampf, den Rudi Dutschke und andere Wortführer der 68er proklamierten.
""Die Menschen haben ihre Geschichte schon immer gemacht, aber noch nicht bewusst. Es müssen die Unterdrückten frei werden und sich nicht mehr manipulieren lassen.” "
Der 1969 gedrehte Film "Easy Rider” wurde zum Inbegriff eines neuen Lebensgefühls, das sich vor allem in dem Verschmelzen mit der Musik, in ekstatischen Drogenzuständen und einer nonverbalen, bildhaften Kommunikation auszudrücken versuchte. Zugleich handelt der Film von Drogenhandel, Kriminalität und Konflikten der Motorradfahrer und Hippies mit der Gesellschaft.
""Ein Mann suchte Amerika, doch er konnte es nirgends mehr finden.” "
So lautete das Motto des Films. Die USA wurden nicht als ein Land unbegrenzter Möglichkeiten und als Inbegriff von Freiheit und Toleranz verherrlicht. Dennoch war "Easy Rider" ein Road-Movie, das Freiheit und Abenteuer versprach.
Das Aussteigen aus der Gesellschaft hatte in den Jahren nach 1968 viele Formen. Die Kommune - innerhalb der eigenen Gesellschaft gegründet - war genauso exotisch wie das Leben in einem indischen Ashram oder die Teilnahme an einem Survival-Kurs. So vielfältig die Formen des Aussteigens aber auch waren, sie erscheinen uns im Nachhinein zugleich als eigenartig normiert und klassifiziert, denn sie gründeten immer in der Vorstellung, man könnte eine Parallelgesellschaft etablieren, die sogar die Kraft hätte, sich am Ende gegen die verbindlichen Lebensformen durchzusetzen. Karl-Heinz Kohl:
""Irgendwie war 1968 der Höhepunkt der politischen Epoche, die wir heute als 1968 bezeichnen, 68 schon vorbei. Es war auch das Jahr der Neuorientierungen. Es waren damals nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika, Australien, England sehr, sehr viele junge Menschen mit einer Motivation, über die sich keiner so richtig im Klaren war, den Orient suchend. Das hatte sicher auch etwas zu tun mit den Drogenerfahrungen der Zeit. Es war eigentlich ein Aufbruch in ein Unbekanntes."
Dabei gingen einzelne Modelle und Konzepte ganz eigenartige Verbindungen mit konträren Positionen ein; so zum Beispiel die damals aufkommenden Survival- oder Überlebens-Kurse mit den offiziellen und bürokratischen Katastrophenschutzplanern. Beide übten sie ein Verhalten bei drohender Groß-Katastrophe ein: Notsignale oder Erste Hilfe geben, Wassergewinnung, Ernährung aus den Beständen der Natur - bzw. deren Resten -, Feuermachen, Orientierung im Gelände usw.
"Das waren natürlich alles Experimente auf einem völlig neuen Terrain. Man hatte keine Vorbilder für die neuen Lebensformen, die man einführen wollte und die sich ganz wesentlich bestimmt haben durch Abgrenzung, was sie nicht sein wollten. Wie lässt sich eine nicht-bürgerliche Gesellschaft positiv umsetzen? Das war gerade auch in den Kommunen mit enormen Problemen verbunden, weil es in vielen Fällen nicht möglich war, die eigene Affektsteuerung den neuen Zielsetzungen anzupassen."
Das Leben in den Kommunen und in fremden Kulturen war ein offenes Experimentierfeld. Survival-Touren wurden als "Überlebenstrainingskurse” angeboten, unter anderem von einem Institut, das sich "Institut für Freizeit- und Sozialberatung” nannte. Mit Anleihen aus Bundeswehr und Pfadfinderleben, aus Nachkriegszeit und Freizeitgewerbe entstand hier eine ganz neue survival-science. Standardprogramme waren: den Ozean im Einbaum überqueren, mit Karawanen durch die Wüste ziehen, sich in Tonnen die Niagara-Fälle hinabstürzen, auf dem Amazonas, im Gebirge, auf entlegenen Inseln, in tiefen Wäldern leben. Einübung in die Kunst des Überlebens in der Natur, in der Wildnis. Das Risiko suchen und es berechenbar machen. Von der Ethnologie erhoffte man sich dafür die notwendigen Kenntnisse über die fremden Kulturen.
"Die Orientierung an den Lebensformen der früher sogenannten Wilden war dann auch ganz offensichtlich. Da ist ja auch ein weiterer Punkt, auf den die Bewegung von 68 zugeströmt ist, nämlich die Ethnologie. Die Ethnologie wurde einmal wichtig, deswegen weil sie Vorbilder liefern konnte für alternative Formen des Zusammenlebens. Sie wurde aber auch wichtig in dem Moment, in dem man eingesehen hatte, dass die Hoffnungen, die man noch bis Anfang der 70er Jahre auf die Selbstbefreiungsbewegungen in den Ländern der sogenannten Dritten Welt gesetzt hatte, gescheitert waren. Mit dem Ende dieser Utopien hat man dann auch zugleich versucht, neue Projektionsflächen zu gerieren, und diese neuen Projektionsflächen haben sich dann ganz wesentlich zentriert auf die Gesellschaften, die in den Ländern der Dritten Welt selbst wieder als unterdrückte lebten, nämlich diejenigen, die man früher als Wilde oder Primitive bezeichnet hat."
Es boten sich nun zwei Möglichkeiten an: in der Gesellschaft wieder eine Heimat zu finden oder aber aus der Gesellschaft auszusteigen und sich in alternativen Projekten zu engagieren. Man musste erst unterscheiden lernen zwischen alternativen Projekten an Ort und Stelle - als Alternative zu herkömmlichen Produktionsformen - und Alternativprojekten, die der Aussteiger in einem anderen Land zu realisieren versuchte. Manche unfreiwillig zur Untätigkeit verurteilten Arbeiter besannen sich auf die selbstverantwortliche, alternative Nutzung zum Beispiel der ausgemusterten Werft-Anlagen. Allein in Berlin existierten 1983 etwa 1500 alternative Projekte, in denen 10.000 bis 15.000 Menschen arbeiteten. Es waren aktive Gegenentwürfe zu bestehenden und als mangelhaft erfahrenen oder empfundenen Systemen im Gesundheitswesen, im Sozial- und Wirtschaftsleben, in der Kultur. Es ging dabei um Selbstverwirklichung, soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Die wenigsten dieser "alternativen Aktivisten” wollten aus ihrer Kultur aussteigen, ganz im Gegenteil: Sie suchten nach Möglichkeiten, den Grad an Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft zu verringern, sich selbst aus ihrer Außenseiterposition - zum Beispiel als Arbeitslose - oder anderen aus ihrem Rand-Dasein - zum Beispiel als Ausländer - herauszuhelfen. Dass diese Form des alternativen Lebens sehr weitgehend gesellschaftlich integrierbar war und hier ein nicht unbeachtlicher Teil der Bevölkerung vor Asozialität und Kriminalität geschützt und für die Gesellschaft wieder "nützlich” gemacht werden konnte, wurde von Politikern schnell begriffen. So bemerkte der damalige Berliner Sozialsenator Ulf Fink:
"Die zahlreichen psychosozialen Initiativen verstehen ihre Arbeit als Hilfe zur Selbsthilfe und versuchen dabei neue Formen der Arbeit zu finden, was unterstützenswert ist.” "
Alternativprojekte dagegen, die an das Aussteigen aus der eigenen Kultur geknüpft waren, erfuhren keine finanzielle Unterstützung. Man behandelte sie verächtlich oder einfach nur gleichgültig. Die meisten Aussteiger stellten sich ihr anderes Leben nicht als einzelne, sondern in einer Gruppe vor. Was auch folgerichtig war: Sie wollten die Zivilisation verlassen, weil sie sich als Gesellschafts-, als Gemeinwesen nicht mehr realisieren konnten in einer als lebensfeindlich empfundenen Umgebung.
Kaum einer, der mit dem Wunsch, ein lebenswerteres Leben zu führen, in die Einsamkeit der kanadischen Wälder ging oder Oliven auf der Insel Vulcano pflanzte, der am indischen Strand von Goa meditieren oder in Australien Vieh züchten wollte, konnte dies als einzelner tun, wenn er nicht gerade aus einem starken einsiedlerischen Wunsch aufgebrochen war.
Der Aussteiger-Wunsch verblieb damals oft in einem unaufgeklärten Verhältnis zwischen dem utopischem Ziel, in eine neue Welt einzudringen, und der Besinnung auf historische Bewegungen, wie etwa der Freikörperkultur und auf religiöse bzw. pseudoreligiöse Bedürfnisse. Man aktivierte einen latenten Heilswunsch, verbunden mit der Phantasie, der eigenen Kultur und Arbeitswelt zu entkommen.
" "Die Reise ins Ungewisse war damals ein ganz wichtiges Motiv und hat auch die vielen bewegt, die von Europa nach Indien aufgebrochen sind ... Goa ... Bali. Aber die Reisen, die man dorthin unternommen hat, waren in ihren Auswirkungen dann meistens doch desillusionierend, denn das, was man sich erhofft hat, nämlich die Erfahrung des ganz Anderen, hat sich in aller Regel nicht erfüllt. Es ist gescheitert an den Sprachbarrieren, auch an den internalisierten Normen und Werten, die man nicht so einfach abschütteln kann."
Man hatte keine Erfahrung mit anderen Lebensformen und wusste nur eins: so wie die Eltern wollte man nicht länger leben. Man glaubte, wenn man die von Lügen und Entfremdungen dominierten Strukturen aufgebe und sich zu Liebe und Wahrheit bekenne, lasse man bereits alle Konflikte hinter sich.
Jüngstes Beispiel einer künstlerischen Darstellung des Aussteiger-Wunsches ist der Film "In die Wildnis” von Sean Penn. Gedreht nach einem Roman von Jon Krakauer wird die Geschichte eines jungen Amerikaners erzählt, der in den 1990er Jahren seine Familie verlässt, sich "Supertramp” nennt, in die Wildnis aufbricht und jämmerlich verhungert. Er glaubt, die Freiheit der Natur würde auch seine eigene innere Freiheit, schon allein dadurch, dass er sich in der freien Natur aufhält. Kurz bevor er verhungert, notiert er: "In der Wildnis gefangen” und "Glück ist nur wirklich, wenn man es teilt". In der Familie zu leben, schien vielen nach 1968 nicht mehr als möglich oder erstrebenswert, und die Alternativen mussten erst erprobt werden. Es galt, überhaupt erst einmal ein Gefühl für die innere Wahrheit und Selbstbefreiung zu finden.

Rainer Langhans und Fritz Teufel im Jahr 1968© AP Archiv

Szene aus "Easy Rider"© Berlinale, Cinematheque Suisse