Eine Puppenstube mit Geschichte
Hätten die DDR-Oberen ihre Abrisspläne wahr gemacht, würde es das Erfurter Andreasviertel nicht mehr geben. Es sollte einer vierspurigen Straße weichen. Zum Glück fehlte das Geld und die Bürger wehrten sich. Weitgehend saniert, offenbart es aber bis heute immer wieder geschichtsträchtige Geheimnisse.
Ein Freiraum für Freigeister, mitten in Erfurt, damals in der DDR: Das Andreasviertel.
Katharina Schroeter: "Es war ein ziemlich einfacher Standard, wenn überhaupt von "Standard" zu reden ist. Bei Freunden von uns wuchs das Grün von draußen durch die Fenster. Das war irgendwie sehr interessant, aber es war vielleicht auch nicht einfach, dort zu wohnen."
Hätten die DDR-Oberen ihre Abrisspläne wahr gemacht, würde es das Andreasviertel nicht mehr geben - es sollte einer vierspurigen Straße weichen. Zum Glück fehlte das Geld, und die Bürger wehrten sich. Heute ist das Wohnen anders und das Andreasviertel auch - aber es bleibt ein Unikum.
"Die alten, kleinen Häuser, das war immer was Besonderes hier zu sein. So kleine Gassen, das war auch wie so 'ne Kleinstadt in einer größeren Stadt."
Von der Moritzstraße bis zur Pergamentergasse, vom Ufer der Gera bis zur Andreasstraße, das ist das Andreasviertel - und weil es so bekannt und beliebt ist, nennt mancher Erfurt-Besucher gern gleich die ganze Altstadt so. Denn genau so, wie das Andreasviertel aussieht, stellt man sich wohl eine Bilderbuch-Altstadt vor: mit kurzen geschwungenen Gassen, ein- oder zweistöckigen Häusern, die mehrere hundert Jahre auf dem Buckel haben, mit einem Straßenpflaster, auf dem die Schritte hallen und die Autos langsamer fahren müssen. Und fast immer hört man es irgendwo läuten: die Stadt hat sehr viele Kirchen - und einige davon stehen eben auch im Andreasviertel.
Mitten im Viertel, am Georgsturm, bin ich mit Verena Kyselka verabredet, die das Andreasviertel noch aus DDR-Zeiten kennt:
"Wir waren eine Künstlergruppe, die sich ungefähr Mitte der 80er Jahre gegründet hat - eine Künstlerinnengruppe, wohlgemerkt. Wir haben uns immer sehr viel an privaten Orten natürlich getroffen. Das war zuhause. Und ich hatte da eine ganz große Wohnung, weil ich da ein Atelier schon hatte. Und ja, wir wollten dann irgendwie zur "Wendezeit", dachten: wir müssen aus dem privaten Umfeld heraus. Und damals war das auch ziemlich einfach: ins Stadtparlament und abzustimmen über Häuser, die keine Rückübereignung hatten. Das war eine ganz bewegte Zeit!"
Und sie bekamen das Haus tatsächlich. Ein schmales, mehrstöckiges Haus in einem Viertel, dass so zentral liegt, und heute unbezahlbar wäre. Unglaublich, aber wahr: Die Stadt half damals beim Kredit, so konnten es die Künstlerinnen - als Verein organisiert - kaufen und zum "Kunsthaus" ausbauen. Und im obersten Stock eröffneten sie ein Café:
"Das 'Café Rapunzel'. Und immer, wenn geöffnet war, wurde ein Zopf rausgeworfen. Ja, und in dieser Etage, ganz oben, das wurde dann mein Atelier, später."
Seitdem hat sich die heute 60-Jährige als Projekt-Künstlerin einen Namen gemacht, mit Filmen, Installationen, Skulpturen; mit Ausstellungen in London und Berlin, in Albanien, Bangladesch, China, Australien und in Oman - und in Erfurt. Auch im Andreasviertel hat sie ausgestellt. Am Georgsturm, zum Beispiel, der nur noch als Glockenturm dient, seit die dazugehörende Kirche 1632 abgebrochen wurde - und man damals mit ihren Steinen die nahe Zitadelle gebaut hatte. Der Turm ist das höchste Bauwerk im Viertel und wirkt wie zwischen die niedrigen Wohnhäuser geklebt.
Im Viertel war eine Haftanstalt der Stasi
Wir stehen davor und Verena Kyselka erinnert sich an ihr Projekt hier, kurz vor der Jahrtausendwende. Einen Monat lang leuchteten, wenn es dunkel wurde, ihre "Fallenden Engel" vom Turm. Sie hatte sie überall in Deutschland fotografiert und von Hand nachgezeichnet: Friedensengel, Friedhofsengel, Engel aus Kirchen. Und Abend für Abend fielen sie dann am Georgskirchturm herunter.
Autorin: "Was haben die Leute dazu gesagt, zu dem Projekt?"
Verena Kyselka: "Ja, die fanden das sehr geheimnisvoll. Und warum jetzt der Turm? Und dann fängt so ein Nachdenken an. Was ist das: Engel? Was passiert mit denen? Und was haben die für 'ne Bedeutung? Das war für mich auch wichtig: was hat der Engel heute noch für eine Bedeutung? Was ist ein Friedensengel, zum Beispiel, wenn er fällt? Wird der dann zu einem Stern? Sowas, ja."
Verena Kyselka: "Ja, die fanden das sehr geheimnisvoll. Und warum jetzt der Turm? Und dann fängt so ein Nachdenken an. Was ist das: Engel? Was passiert mit denen? Und was haben die für 'ne Bedeutung? Das war für mich auch wichtig: was hat der Engel heute noch für eine Bedeutung? Was ist ein Friedensengel, zum Beispiel, wenn er fällt? Wird der dann zu einem Stern? Sowas, ja."
Wir gehen weiter, durch die Weiße Gasse. Dort, wo sie auf die Andreasstraße stößt, kommt ein großes Backsteingebäude in den Blick, das die Straße dominiert. Bis '89 war es ein Gefängnis - einerseits von der Justiz, anderseits von der Staatssicherheit. Heute ist darin eine Gedenk-und Bildungsstätte. Wir bleiben kurz stehen, Verena Kyselka schweigt. Schmerzliche Erinnerungen kommen hoch.
Ihr Vater war hier inhaftiert, 1976, ein Jahr lang. Ihm wurden staatsfeindlicher Menschenhandel, Kontakt zu staatsfeindlichen Gruppierungen und Hilfe zur Republikflucht vorgeworfen:
"Ich war damals noch im letzten Jahr der Erweiterten Oberschule, im Abiturjahr. Mein Vater wurde plötzlich abgeholt. Ich war zuhause, und ich war krank. Da kam mein Vater ganz kreidebleich in mein Zimmer mit irgendwelchen, nicht mal uniformierten, sondern zivilen Menschen und hat gesagt, du musst jetzt sofort aufstehen. Der ist dann abgeführt worden. Meine Mutter haben sie damals auch mitgenommen, und ich war alleine mit zwanzig Beamten, die auf die Staatsanwältin warteten.
Und dann kam die Staatsanwältin, und dann haben die angefangen, das ganze Haus zu durchsuchen, und Kisten zu packen - und ich hab immer nur gedacht: Was kann ich jetzt tun? Was kann ich verstecken? Was kann ich sicherstellen, dass das nicht gefunden wird? Das war eine fürchterliche Situation. So habe ich mir eine Nagelschere aus dem Bad genommen, und mir immer in den Finger geschnitten, und gedacht: Ich tu mir jetzt so weh, dass ich das jetzt vergesse."
Ihr Vater, Klinikchef und Universitätsprofessor, wurde zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er hatte zwei Frauen unterstützt, die in den Westen wollten. Bis zum Prozess saß er hier, in der Andreasstraße. Jahrzehnte später, 2005, findet eine Ausstellung an diesem Ort statt, "Einschluss" heißt sie, an der auch Verena Kyselka beteiligt ist. Der Kurator gibt ihr den Schlüssel zu genau diesem Gebäude.
"Das war so grotesk, dass ich dann plötzlich den Schlüssel vom Gefängnis, wo mein Vater gesessen hatte, für ein Wochenende in der Hosentasche hatte. Und ich hatte mich überhaupt nicht getraut da alleine reinzugehen, das war mir viel zu gruselig. Und hab dann gewartet, bis eine Freundin Zeit hat, und wir dann zusammen, und das war schon schrecklich genug. Und dann war da dieser unerträgliche Geruch, nach Urin und Fäkalien, der da immer noch im Keller irgendwie war, immer noch hochdrückte. Das war schon sehr krass."
Diese erste Ausstellung in der Andreasstraße sahen sich etwa 6.000 Besucher an, die meisten waren ebenso schockiert wie berührt.
Autorin: "Wenn Sie das Andreasviertel jetzt sehen, saniert, große Häuser, schöne Häuser, auch teure Häuser. Wie groß ist der Bruch zu dem Andreasviertel, an das Sie sich erinnern, an die Zeit in den 80er Jahren, vor 1989?"
Verena Kyselka: "Ja, das sieht alles jetzt sehr hübsch aus. In den 80er Jahren war das noch so, ja, lebendiger als heute. Das ist ja generell in Städten so, dass man weniger Leute auf den Straßen sieht, die sich da aufhalten, oder Stühle vor die Tür stellen und sich unterhalten. Das fehlt hier total, im Andreasviertel."
Autorin: "Wie hat das Andreasviertel vor '89 ausgesehen?"
Verena Kyselka: "Vor '89 war immer noch die Struktur die gleiche, mit Kopfsteinpflaster, was es zum Teil jetzt nicht mehr gibt. Dann waren die Häuser sehr verfallen. Auf Grund der guten Initiative des damaligen Stadtarchitekten, der die ganzen Dächer gesichert hat, zur Wendezeit, ist es Gott sei Dank auch nicht weiter verfallen."
Verena Kyselka: "Ja, das sieht alles jetzt sehr hübsch aus. In den 80er Jahren war das noch so, ja, lebendiger als heute. Das ist ja generell in Städten so, dass man weniger Leute auf den Straßen sieht, die sich da aufhalten, oder Stühle vor die Tür stellen und sich unterhalten. Das fehlt hier total, im Andreasviertel."
Autorin: "Wie hat das Andreasviertel vor '89 ausgesehen?"
Verena Kyselka: "Vor '89 war immer noch die Struktur die gleiche, mit Kopfsteinpflaster, was es zum Teil jetzt nicht mehr gibt. Dann waren die Häuser sehr verfallen. Auf Grund der guten Initiative des damaligen Stadtarchitekten, der die ganzen Dächer gesichert hat, zur Wendezeit, ist es Gott sei Dank auch nicht weiter verfallen."
"In der DDR war das schon ein wenig eingeschränkt mit den Träumen"
Ruth-Elisabeth Schlemmer: "Als ich hier in diese Gemeinde kam, erzählte mir mein Kollege eine ganz faszinierende Geschichte, die auch zeigt, wie wichtig Kirche mitten in einem Viertel ist. Wir haben hier noch eine alte Turmuhr. Diese Turmuhr wird täglich aufgezogen und sie schlägt jede Viertel-, jede halbe und jede Dreiviertelstunde. Und um schlägt sie dann auch die Zahl der Zeit. Und das hat sie schon damals gemacht, als gegenüber noch Gefängnis war. Und mir ist erzählt worden, dass es für Gefangene zum Teil ganz wichtig war, dass diese Uhr geschlagen hat, denn das war für sie die Verbindung zur Zeit und zur Außenwelt."
Wir gehen in die Kirche, die dem Viertel seinen Namen gab: in die Andreaskirche. Es ist ihre Kirche: Ruth-Elisabeth Schlemmer ist hier Pfarrerin. Ihre ersten Tage nach einer Sabbatzeit, erstmals nach Jahrzehnten im Beruf.
Schlemmer: "Ich komme aus einem Pfarrhaus, mit einer langen Tradition, schon mein Großvater, Ur-Urgroßvater und so weiter waren Pfarrer. Auch meine Eltern sind beide Pfarrer, Pfarrerinnen gewesen."
Autorin: "Aber Sie haben nie drüber nachgedacht, etwas anderes zu werden? Als Kind hat man ja durchaus verschiedene, manchmal auch absurde Wünsche, was weiß ich: Kosmonautin, Lokführerin?"
Schlemmer: "Ach, naja, das war in der DDR dann schon ein bisschen eingeschränkt, auch mit den Träumen. Es gab nicht viele Berufe, in die ich mich hineingeträumt hätte. Worüber ich wirklich nachgedacht habe, war in den Buchhandel zu gehen, weil ich so gerne gelesen habe und weil in dem Ort, wo ich wohnte, einen ganz tollen Buchhändler gehabt hatte, der auch so ein bisschen kritische Bücher in die Auslage gelegt hat. Aber es ist dann doch ein Beruf mit Menschen geworden, ja."
"Ein bisschen stolz bin ich schon, hier zu sein"
Anfang der neunziger Jahre konnte sie froh sein, eine Chance, eine Stelle zu bekommen. Denn auch in der Evangelischen Kirche sank die Zahl der Kirchenmitglieder, es mussten Stellen eingespart werden.
Schlemmer: "Und dann hörte ich: Andreasgemeinde, schaute mir die Kirche an, schaute mir das Pfarrhaus an, ging in den Gassen hier herum, und hab gedacht: ein bisschen stolz bin ich schon, hier zu sein."
Autorin: "Und die Gassen ringsherum, wie sahen die aus?"
Schlemmer: "Sie waren mitten in der Erneuerung, also es hatte begonnen, dass schon die ersten Käufer oder Mieter die Häuser bezogen haben, die sie mit viel, viel Liebe wieder aufgebaut hatten. Aber es gab noch große Lücken, und die letzten alten Abbruchhäuser gab es noch, und ich habe auch noch den Hahn gehört, also es gab auch noch wirklich die letzten Mieter und Mieterinnen, die in den Häusern wohnten, die noch nicht saniert und noch nicht verkauft waren, und das waren schon auch noch alte Leute, die aus diesem Viertel kamen. Lange hab ich noch eine Frau begleitet, die dann mit über neunzig die älteste Frau in der Andreasstraße gewesen ist und ich schätze fast auch im Viertel war."
Autorin: "Und die Gassen ringsherum, wie sahen die aus?"
Schlemmer: "Sie waren mitten in der Erneuerung, also es hatte begonnen, dass schon die ersten Käufer oder Mieter die Häuser bezogen haben, die sie mit viel, viel Liebe wieder aufgebaut hatten. Aber es gab noch große Lücken, und die letzten alten Abbruchhäuser gab es noch, und ich habe auch noch den Hahn gehört, also es gab auch noch wirklich die letzten Mieter und Mieterinnen, die in den Häusern wohnten, die noch nicht saniert und noch nicht verkauft waren, und das waren schon auch noch alte Leute, die aus diesem Viertel kamen. Lange hab ich noch eine Frau begleitet, die dann mit über neunzig die älteste Frau in der Andreasstraße gewesen ist und ich schätze fast auch im Viertel war."
Ihre Kirche steht mit der Front an der verkehrsreichen Andreasstraße, an der Busse, Autos und Straßenbahnen vorbeirollen, und mit der anderen in der Webergasse, als schütze sie den Eingang zum Andreasviertel. Im Inneren ist es still.
Wer sich für die Geschichte der Kirche interessiert, liest von deren erster Erwähnung 1216, von der bronzenen Luther-Platte, die zwar in Jena steht, deren farbiges Holzmodell aber hier in der Andreaskirche zu sehen ist - das älteste Luther-Denkmal überhaupt. Und die Kummer-Orgel und der Kanzelaltar und natürlich die Andreasglocke, die am Anfang zu hören war:
"Das Schöne an dieser Kirche, was ich auch so sehr mag, an der Andreaskirche: sie ist klein und kompakt. Und sie ist so eine typische kleine Handwerkerkirche. Natürlich sind die Häuser damals um die Kirche herumgebaut worden. Aber heute hat man den Eindruck, sie quetscht sich noch so rein in die Straßen, in die Glockengasse, in die Glockenquergasse, Pergamentergasse, Webergasse. Und da hört man schon, wer hier ringsherum gewohnt hat, und für die diese Kirche gebaut ist und für die diese Kirche auch wichtig war."
2002: Amoklauf in Erfurt betrifft auch Andreasgemeinde
Die Andreasgemeinde ist jedoch größer als das Viertel, eine Großstadtgemeinde mit 2600 Mitgliedern, die auch in den Neubaugebieten im Norden der Stadt wohnen. Dieses "Einzugsgebiet" sorgte dafür, dass Ruth-Elisabeth Schlemmer an einem für die Stadt Erfurt dramatischen Tag zu einer sehr wichtigen Person wurde - und es bis heute geblieben ist: Der Tag, als der ehemalige Schüler Robert S. mit einer Waffe ins Gutenberg-Gymnasium ging, 16 Menschen erschoss - und dann sich selbst. Der 26. April 2002.
Schlemmer: "Ich bin in dieses ganze Geschehen hineingeraten, an diesem Tag, und habe es mitgelebt, auch mit einzelnen Menschen, die ich auch persönlich begleitet habe. Ich bin in dieser Zeit ganz stark aufgehoben gewesen in unseren alten Traditionen, in unseren Räumen, und unterstützt worden,von den Menschen. Ich muss ja nur die Bibel aufschlagen, und ich habe die Psalmen. Und ich kann in der Sprache der Psalmen auch mit meinen neunen, heutigen Worten etwas ausdrücken, was uns eigentlich die Sprache verschlägt. Und es war ein ganz großer Zusammenhalt auch hier in der Gemeinde. Manchmal stand ein Glas Marmelade vor der Tür, oder ich wurde zum Mittagessen eingeladen, so als kleine leibliche Stärkung. Oder es kamen Briefe, gut, und wir denken an Sie und wir beten für Sie. So dass es ein ganz großes Miteinander war."
Bis heute betreut Pfarrerin Schlemmer Angehörige von Opfern des 26. April und Menschen, die jetzt noch mit den Bildern von damals zu kämpfen haben.
Schlemmer: "Wenn wir miteinander weinen, dann ist das etwas, was erleichtert, auch mich selbst erleichtert. Es ist mein Glaube, das sag ich so ganz einfach, der mich trägt, der immer das Netz war. Ich bin immer, auch wenn ich mal tiefer gefallen bin, als es mir gewünscht habe: ich bin immer in diesem Netz aufgefangen, und kriege da auch wie in so einem Brunnen, kriege da auch immer wieder neue Kraft dazu. Ich glaube, dass man unterschätzt, wie viel Kraft es gibt, wenn man sich gegenseitig trägt."
Autorin: "Sie sind ja in dieser Zeit, haben Sie mit sehr verschiedenen Menschen zu tun gehabt. Unter anderem mit einem Psychologen, den Sie dann geheiratet haben. Ich finde es irgendwie tröstlich, dass so ein dramatisches Ereignis, das so vielen Menschen Unglück gebracht hat, eben auch diese Seite hatte. Wie kriegen Sie das zusammen?"
Schlemmer: "Ich weiß noch, als wir geheiratet haben, da war es mir ganz wichtig, nicht nur, weil ich selber Pfarrerin bin, diesen Gottesdienst zu unserer Trauung genau zu durchdenken. Mir war es ganz wichtig, bevor wir dieses DANKE sagen, dass wir uns gefunden haben, dass wir - wie wir es in jedem Gottesdienst haben - so einen Kyrie-Teil, so einen Herr Erbarme Dich-Teil haben. Um aufzunehmen, dass es etwas gibt im Leben, dass es Situationen im Leben gibt, die verstehen wir nicht. Wir verstehen nicht, warum in einem Moment jemand das Liebste verliert und jemand durch diesen Moment das Liebste gewinnt. Wir verstehen es nicht. Aber wir nehmen das beides zusammen. Und wir nehmen es in unseren Gottesdienst. Und wir sagen Erbarme dich, tröste und hab' Dank."
Zu DDR-Zeiten wechselten Bürger vor Gefängnis die Straßenseite
Peter Wurschi: "Sie sehen ja hier diese abgehangenen Decken, über dieser abgehangenen Decke befand sich die Lüftungsanlage, die von den Schließern immer auch gern angemacht wurde. Ich kann das mal, ich glaube, das funktioniert sogar noch. Das war das Grundrauschen, welches sich auf diesem Gang befunden hat. Und die Gänge waren ausgelegt, mit diesen Korbmatten, mit diesen Bastmatten, die man so aus DDR-Zeiten kannte. Das heißt, die Schritte der Schließer waren eigentlich im Inneren der Zellen überhaupt gar nicht zu hören."
Wir sind im dritten Stock der Gedenk-und Bildungsstätte Andreasstraße, mitten in Erfurt, neben dem Domplatz, direkt gegenüber vom Andreasviertel. Peter Wurschi, Mitte vierzig, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter, führt mich durch die Ausstellung. Es geht darin um "Haft, Diktatur und Revolution" in der DDR. Dazu gehört auch der Alltag von den 50er Jahren bis 1989 hier in dieser Untersuchungs-Haftanstalt der Staatsicherheit.
Autorin: "Nun liegt diese Haftanstalt mitten in der Stadt Erfurt, rechts neben dem Domplatz, wenn man das Andreasviertel im Rücken hat. Wie haben die Erfurter auf diese Haftanstalt auf dieses Monstrum reagiert?"
Peter Wurschi: "Zeitzeugen bzw. alte Erfurter haben mir in Interviews erzählt, dass sie, wenn sie durch Erfurt gegangen sind, eigentlich die Straßenseite gewechselt haben. Hier zieht sich eine lange, lange Mauer entlang der Andreasstraße, entlang der ehemaligen Bezirksverwaltung, und da ist man lieber auf die anderen Seite gegangen, weil diese Kraft, diese Staatssicherheit ihnen ein ungutes Gefühl vermittelt hat, und man hat sich sicherer gefühlt, wenn man auf der anderen Straßenseite gelaufen ist, obwohl man sicherlich auch sicher an der Mauer langgehen konnte, also man wurde nicht reingezogen, aber für die Erfurter war das doch einfach ein bedrückende Gefühl."
Mancher wusste gar nicht, warum er oder sie hier gelandet war. Man musste gar nicht selbst Fluchtversuche aus der DDR unternommen haben, manchmal genügte schon das Wissen darüber, dass jemand in den Westen "abhauen" wollte, oder - in der SED-Sprache - "Rowdytum", abweichende Meinungen, abweichendes Verhalten, Unzufriedenheit mit den Verhältnissen; all das war "politisch".
Wie erklären wir die DDR künftigen Generationen?
1989 sollte das Gebäude abgerissen werden. Man schien mit dem alten Gefängnis, das hundert Jahre hier gestanden hatte, und am Ende auch der Stasi diente, wohl nichts mehr anfangen zu können. Aber die "Gesellschaft für Zeitgeschichte" und die damalige Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Staatssicherheit sorgten dafür, dass das Haus unter Denkmalschutz gestellt wurde. Es gab mehrere, damit war das Gebäude erstmals der Öffentlichkeit zugänglich. Und zeitgleich begann die Debatte: Was machen wir damit? Wie erklären wir das den künftigen Generationen?
Wurschi: "Man muss jemandem, der in der DDR aufgewachsen ist, dem muss man viele Sachen nicht mehr erklären. Da sagt man ein Wort und alle wissen sofort Bescheid. Jeder wusste, wie es im Intershop gerochen hat. Aber jemand, der das nicht erlebt hat, dem muss man erklären, was das für eine sinnliche Erfahrung war, Gerüche auf einmal wahrzunehmen, die so jenseits der eigenen Vorstellungskraft waren."
Und all das sollte in einem Kontext stehen, damit die meist jungen Besucher, Schülerinnen, Schüler, verstehen, dass die Stasi eben nur ein Teil des SED-Systems gewesen ist, nach eigener Definition "Schild und Schwert der Partei".
Wurschi: "Und diese Idee hier war, mit der Graphic Novel, mit 'ner vereinfachenden Bildsprache, letztlich Entscheidungssituationen zu generieren, um nachvollziehbar zu machen, vor welchen Herausforderungen die Menschen in der DDR standen."
Nur: wie kriegt man das hin - ohne einer Vereinfachung zu unterliegen?
"Gar nicht. Die Vereinfachung gehört dazu. Hier sind verschiedene Biografien idealtypisch zusammengebaut, um eine Situation, die, glaube ich, jedem DDR-Bürger immer noch gewahr ist, und über die man auch reden muss, wenn man über die DDR spricht: die Situation - und das steht ja hier auch groß im Raum – 'Sag mir, wo du stehst'."
Autorin: "Haben Sie den Eindruck, dass DDR-Geschichte als deutsche Geschichte wahrgenommen wird oder immer noch als eine Art Fremdkörper?"
Wurschi: "Also in der Lebensrealität der westdeutschen Jugendlichen hat DDR-Geschichte keinen Ort. Das ist Geschichte von früher, das ist schon mal schwierig, und dann ist es noch ne Geschichte von jemand anderem, das ist dann doppelt schwierig."
Alltag zwischen Schlangenstehen und Westfernsehen
Interessant ist, wie sich die Besucher und Besucherinnen in der Ausstellung untereinander verständigen. Mittels grüner Klebezettel, auf die sie schreiben können, wie sie sich an die DDR erinnern. Quasi als Nachhall auf vier großformatige Fotos, die im Raum nebenan gezeigt werden: das einer Neubausiedlung in Altenburg, einem Bild vom Datschenleben, dem Leben in der Nische, einem vom Schlangenstehen und einem mit dem typischen Antennenwald, der zeigt:
"Dass man vor allen Dingen auch nach dem Feierabend sich medial in die Bundesrepublik verabschiedet hat. Und das war ja die Idee: wie soll man Alltag in der DDR beschreiben? Es gab siebzehneinhalb Millionen Alltage. Jeder Versuch, den Alltag in der DDR zu beschreiben, kann eigentlich nur scheitern."
2019 ist die Friedliche Revolution in der DDR dreißig Jahre her. Und während man anderswo noch über Denkmäler und Gedenken streitet, hat Erfurt längst eins! Der Kubus, der in der Gedenkstätte Innen und Außen verbindet, ist nicht nur Seminarraum, er ist Galerie und Denkmal zugleich. Aus über 100 Fotos, die fast das ganze Jahr 1989 zeigen, wurde eine Collage gestaltet und auf die spiegelnde Fassade des Kubus projiziert.
Wurschi: "Aus dieser Bilder-Collage wurde dann ein Zeichner gewonnen, Simon Schwarz, auch da wieder ein kleiner link nach Erfurt, der in Erfurt geboren wurde, und dann mit seinen Eltern aussiedelte, nach Hamburg. Aber der kam für uns nach Erfurt zurück und hat aus diesen Bildern eine Graphic Novel gemalt oder hat sie verfremdet."
Autorin: "Das ist ja ein ganz starkes Moment, was man hier nochmal sieht, aus der deutschen Geschichte, aus der Geschichte der friedlichen Revolution in der DDR. Wird das eigentlich als solch ein starkes Moment bis in die Gegenwart wahrgenommen?"
Wurschi: "Ich glaube, wo es um die Friedliche Revolution geht, wo die Zeitzeugen davon berichten, was 1989 passiert ist, welche Gefühle man auch hatte, welche Kraft auch dieser Bewegung innegewohnt hat, welche Sehnsüchte entstanden sind, damit kann man auch heute noch ganz gut erzählen, was es ausmacht, aus 'ner Begrenzung aufzubrechen, in eine Freiheit zu wollen. Dieser große Moment der Erzählung von '89, die sind hier durchaus erklärbar bzw. vermittelbar."
Wer vor dem Kubus, drinnen oder draußen steht, auf dessen verspiegelter Oberfläche die Ereignisse von damals nachgezeichnet sind, sieht sich plötzlich mittendrin:
Wurschi: "Am 4. 12. oder 3. 12 . merkten die Menschen im Andreasstraßenviertel, dass die Staatssicherheit Akten vernichtet. Das lag in der Luft, es roch nach Papier, die verkokelten Aktenschnipsel landeten in der Umgebung. Es konnte nicht sein, dass das das Ergebnis der Revolution 89 ist, wir befinden uns in der Zeit 1989, dass die Staatsicherheit weiter macht, was sie will! Und deswegen haben sich dann Menschen hier zusammengetan, in Erfurt, auf verschiedenen Wegen. Und haben sich hier in den Morgenstunden getroffen, sich Einlass verschafft und damit die Arbeit der Staatssicherheit zum Erliegen gebracht, die ja dann im Januar in der Hauptabteilung in Berlin ja zum Stopp gebracht wurde."
Erfurts Synagoge - die einzige, die in der DDR neu gebaut wurde
Nur ein paar Meter sind es von seinem Büro bis hinüber in die Synagoge. Im Gehen zieht er die Kippa aus der Hosentasche und setzt sie auf. Reinhard Schramm ist Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens. Die Synagoge steht am Max-Kahrs-Platz, hinter den Neubauten des Rings, benannt nach dem ersten Vorsitzenden nach dem Holocaust.
Autorin: "Jetzt stehen wir hier in der Synagoge, das ist ein relativ karger Raum, 1952 geweiht worden. Was ist das für ein Ort für Sie?"
Reinhard Schramm: "Ich denke, das ist ein Ort, der die Kontinuität jüdischen Lebens vielleicht unterstreicht, hier stand die Synagoge, die 1884 erbaut, errichtet und geweiht wurde, in der "Reichsprogramnacht" wurde sie zerstört und dann 1952 entstand hier diese Synagoge, die einzige, die in der DDR neu gebaut wurde. Das ist insofern auch ein Stück Geschichte der Nachkriegszeit, denn 1952 herrschte in der Sowjetunion extremer Antisemitismus, der ja dann in den Slansky-Prozessen in Prag endete, in Richtung Westen übertragen wurde. Und in der Zeit wurde hier von dem damaligen Minister Otto Nuschke von der CDU zusammen mit dem Landesrabbiner in der DDR diese Synagoge geweiht. Also, das soll jetzt nicht die DDR im Ganzen rehabilitieren, aber es zeigt doch ein Stück der Nachkriegsgeschichte, wo die DDR sich etwas anders verhalten hat, als es sich die Sowjetunion gewünscht hätte. Das wird heute oft negiert, diese Besonderheiten."
Wer diesen Nachkriegs-Neubau mit der Synagoge von 1884 vergleicht, ist erstaunt, denn die war ein prächtiger Bau, hatte eine Kuppel. Warum diese Zurückhaltung?
Schramm: "Also erstens gab's weniger Juden, und die wurden ja noch weniger, weil die DDR von Juden verlassen wurde, als die Hinrichtungen in Prag nach dem Slansky-Prozess stattgefunden haben. Aber der eigentliche Grund war, man wollte den Juden eine Synagoge geben, aber sie sollte in die atheistische DDR auch noch reinpassen. Also das ist nicht schön, (lacht) aber als ehemaliger DDR-Bürger ist mir das sehr verständlich, ja."
400 Mitglieder hat die Jüdische Landesgemeinde heute in Erfurt - mehr als 90 Prozent kommen aus der einstigen Sowjetunion. Manche lernen erst wieder neu, was jüdisches Leben eigentlich bedeutet.
Erfurt hat Synagogen und Ritualbad restauriert
Die Synagoge liegt zwar in der Erfurter Innenstadt, aber nicht mehr im Andreasviertel. Von dort war sie im 19. Jahrhundert umgezogen, weil die jüdische Gemeinde zu groß geworden war.
Schramm: "Und wir sitzen jetzt hier, wo dann die Synagoge, die 1884 geweiht wurde, stand und 1938 vernichtet wurde, in der "Reichspogromnacht", wie die meisten Synagogen in Deutschland. Insofern haben wir natürlich einen Bezug in der Geschichte der Synagoge zu dem Andreasviertel."
Hier gibt es mehrere jüdische Stätten, mit denen sich die Stadt Erfurt für die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes bewirbt. Die Kleine und die Alte Synagoge, dazu die erst in den vergangenen Jahren entdeckte Mikwe, ein Ritualbad aus dem zwölften Jahrhundert, und der wohl sensationellste Fund: der "Erfurter Schatz" - über dreitausend Silbermünzen, Silberbarren, Gold- und Silberschmiedearbeiten aus dem Familienbesitz des jüdischen Händlers Kalman von Wiehe. Erfurt hat alle drei Stätten mit großem Aufwand saniert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Schramm: "Und so sind wir stolz, aus zwei Gründen. Erstens: Weil unsere Juden, die neu hier in Thüringen sind, wissen, sie sind nicht auf einer Insel, sondern es gibt hier seit fast eintausend Jahren jüdisches Leben, auch wenn das schrecklich oft unterbrochen wurde. Und zweitens wissen wir, dass die Gesellschaft über die Pflege dieses Erbes viel über Judentum erfährt."
Und dann kommt der Einwand, den ich mehrmals hören werde, an diesem Tag, immer leise und vorsichtig formuliert, aber gespeist aus den Erfahrungen der Verfolgung:
Schramm: "Natürlich sind die am meisten interessiert an der Geschichte und quasi nicht so sehr an den lebenden Juden von Thüringen. Und wir sind ja auch sehr wenig."
Für Juden und ihre Gemeinde ist der Alltag in Thüringen, wie es Reinhard Schram wohl ausdrücken würde, "viel komplizierter" - trotz guter Beziehungen zu den demokratischen Parteien und Kirchen hier. Und da spielt immer die Geschichte mit.
Schramm: "Wir hatten 2000 zu Hitlers Geburtstag, das sollte sozusagen 'zu Hitlers Ehren' stattfinden, einen Brand-Anschlag auf unsere Synagoge. Das hat mich dazu bewogen, mein kleines Büchlein über meine Gemeinde ordentlich, relativ ordentlich zu schreiben. Ich bin ja Elektrotechniker und nicht gerade Literat."
Darin erzählt er die Geschichte seiner Gemeinde und die seiner Familie. Den jungen Männern, die versucht hatten, die Synagoge anzuzünden, wurde der Prozess gemacht. Reinhard Schramm aber glaubt an die Kraft von Bildung und Wissen, auch über Geschichte; und daran, dass sich auch diese Täter ihr nicht entziehen können.
Schramm: "Dann habe ich sie im Gefängnis besucht, in der Untersuchungshaft, und auch nach der Urteilsverkündung. Und habe versucht, ihnen die Geschichte unserer Gemeinde bisschen vorzustellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man, wenn man weiß, was unsere Familien durchgemacht haben, wenn man weiß, dass 1938, als die Synagogen brannten, dass das der Beginn von Diskriminierung zu Völkermord war, letztlich zum Mord auch unserer Familien - ich konnte mir nicht vorstellen, dass man dann nicht dagegen sein musste!"
Erst als Jugendlicher mit jüdischer Religion beschäftigt
Reinhard Schramm, heute 72 Jahre alt, hatte als kleines Kind mit seiner Mutter nur überlebt, weil sich der Vater, ein Christ, nicht von seiner jüdischen Frau hat scheiden lassen:
"Und dann, als das nicht mehr half, haben Bekannte uns versteckt, vor Weißenfels, in Leislingen, so dass nach zwei Monaten des Verstecks die Amerikaner uns befreiten. Kurz danach starb mein Vater. Und dann war im Prinzip meine Mutter alleine. Und eigentlich wollte sie auch nicht in Deutschland bleiben. Nur die Keuchhusten-Krankheit meinerseits führte dazu, dass sie nicht mitreisen konnte, mit einer Gruppe, nach Palästina. So wurden wir dann sozusagen Bürger der DDR."
Der junge Reinhard wusste zwar, was jüdisches Schicksal ist, mit jüdischer Religion kam er aber erst als Jugendlicher in Berührung, als in Israel der Eichmann-Prozess begann. Einer der Richter, Benjamin Halewy, war ein Schulfreund seiner Mutter. Plötzlich begann sie wieder über die Vergangenheit zu sprechen:
"Und mein Interesse wuchs, jetzt mit den Überlebenden in Israel und den USA Kontakt aufzunehmen. Und damit kam die Religion als Bestandteil jüdischen Lebens eigentlich als Hauptbestandteil zurück zu mir."
Das war Mitte der 80er Jahre. Reinhart Schramm hatte in Polen studiert, eine Polin geheiratet, Kinder bekommen. Zurück in der DDR geriet die Familie wieder mitten hinein in politische Konflikte:
"Das wurde unterstützt dadurch, dass mein ältester Sohn zweimal aus politischen Gründen inhaftiert wurde, in der DDR. Meine Mutter, die plötzlich das Gefühl hatte, es geht der Familie wieder schlecht, das war ja für sie auch sehr betrüblich, denn sie hatte ja niemand anders als ihren Sohn und Enkel. Dann kam als nächstes die 'Polen-Krise', die dazu führte, dass meine Frau als junge Polin, sehr gut ausgebildet, dass die plötzlich behandelt wurde wie ein Aussätziger; nicht aus 'rassischen' Gründen diesmal, diesmal eben als Gefahr, mit den Solidarnosc- Gedanken im Kopf, der DDR quasi zu schaden. Und das war für mich dann auch wieder traurig, dass meine Mutter traurig war. Ich hatte ja auch nicht allzu viel Familie, um die ich traurig sein konnte, mehr. Und insofern war das nicht schön, muss ich sagen. So dass wir einen Sohn im DDR-Gefängnis, meine Frau als Polin in der Zeit der Polen-Krise diskriminiert. Und immer im Hinterkopf hatten wir natürlich unsere Toten in den Gaskammern."
Und während er das sagt, schaut er auf die Fotos an der Wand seines Büros: "Manche verblüfft das schon, dass hier Rathenau und Luxemburg und Einstein hängen, nicht nur Leo Baeck und Buber."
Autorin: "Und Hannah Ahrendt!"
Schramm: "Na gut, Hannah Ahrendt wird nicht angezweifelt, obwohl die in Israel vielleicht angezweifelt wurde. Aber das ist schon nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft. Und da gehört eben der Mord an Rathenau und der Mord an Luxemburg und die Vertreibung letzten Endes von Einstein dazu. Auch heute, wenn Antisemitismus ist, da wird ja nicht gefragt: wie religiös bist du? Sondern es reicht ja, dass der Verdacht entsteht, man ist Jude. Und dann ist man - unabhängig vom Grad der Religiosität - Ziel von Angriffen."
70 Zentimeter Höhenunterschied in einem Haus
Eine kurze Treppe und noch eine längere, die nach links oben in den ersten Stock führt, wo Schröters wohnen. Katharina und Martin Schröter, sie Ärztin, er Zimmermann, drei erwachsene Kinder, doch die sind längst aus dem Haus. Alte Fliesen auf dem Flurboden, die sie in ganz Erfurt zusammengesammelt haben, die Wohnung voller alter Bilder und Möbel, teils gefunden, teils selbst gebaut. Ein Haus, in dem Gotik, Romanik, Klassik und Gegenwart vermählt sind - und in der Weißen Gasse des Andreasviertels vermutlich das ungewöhnlichste.
Martin Schröter: "Das Haus ist größer als der Keller, und dadurch ist es ein bisschen abgesackt. Nur auf dem Keller ist es oben geblieben, und zur anderen Seite ist es ein bisschen runtergesackt. Es ist einfach um 70 Zentimeter schief geworden. Das bringt auch ein bisschen Leben in dieses Haus."
70 Zentimeter Höhenunterschied! Was es bedeutet, in einem schiefen Haus zu leben? Katharina Schröter führt es mir auf höchst eindrückliche Weise vor:
Katharina Schröter: "Ja, und jetzt gehe ich mal mit Ihnen in dieses Zimmer, wo wir nicht alles ausgeglichen haben. Und jetzt können Sie sich mal hier hinstellen, und gucken, was gerade ist. Nur die Tür ist gerade. Da wird´s einem schon ein bisschen schummrig, oder? Wir merken das nicht mehr übrigens."
Autorin: "Das Verrückte ist, wenn die Tür gerade ist, die sieht nun gerade schief aus, wenn man raufguckt."
Katharina Schröter: "Genau! Und das ist eben das Tolle: Mein Mann als Zimmermann kann eben alles einbauen, so wie wir das haben wollen. Diese Schrankwand ist oben viel schmaler als unten, nee, oben breiter als unten. Und manche Dinge nehmen wir wieder von der Wand, weil wir denken, das geht gar nicht. Ja. Das ist der sogenannte Rote Salon."
Martin Schröter entdeckte das Haus im Februar 1990, als seine Firma dabei war, Behelfsdächer zu setzen, damit die Wände der jahrelang vernachlässigten Gebäude im Andreasviertel nicht noch feuchter wurden, und die Häuser nicht weiter verfielen. Dabei stieß er auf dieses Haus. Jeder andere hätte es vermutlich als Ruine bezeichnet und geraten: Finger weg! Doch der Zimmermann, der bei der Denkmalpflege gelernt hatte, erkannte in der Ruine das Kleinod:
"Bei dem Abriss wurde ja schon der Dachstuhl runtergenommen, denn man konnte von oben reingucken, also man hat die erste Etage wie eine Puppenstube von oben gesehen und dabei ist diese Bohlenstube entdeckt worden. Und das ist ja zum Glück Grund genug gewesen, es unter Schutz zu stellen und nicht weiter abzureißen. Ja, man hat natürlich nicht so viel gesehen, aber man hat gesehen, dass von dem Haus noch so viel übrig ist, dass man etwas daraus machen kann. Es ist ziemlich groß, einfach ein schönes Haus. Was alles dran hing, wussten wir nicht, und wie wir das schaffen sollten, das wussten wir auch nicht. Aber es war einen Versuch wert."
Die Restauratoren geben sich bei Schröters die Klinke in die Hand
Der Versuch, es zu schaffen, von dem heute zu sehen ist, dass er erfolgreich war, bringt den beiden zuerst nur eines ein: unglaublich viel Arbeit - aber eben auch unerwartete Begegnungen und Hilfe. Katharina Schröter:
"Ganz am Anfang, das muss ich vielleicht noch erzählen, 1990, im Sommer, als wir dann die Initiative ergriffen haben, das Haus zu kaufen, haben wir über die Rheinland-Pfalz-Hilfe ein neues Dach geschenkt bekommen. Und wir haben ganz viele Wandergesellen, die auf der Walz waren, hier beherbergt. Das war ein ganz neuer Eindruck mit diesen Leuten, die so offen waren, die so frei waren, aber auch mit angepackt haben. Zum Teil waren am Wochenende bis zu fünfzehn Leute da. Ich habe eigentlich immer nur Pizza gebacken und Tee gekocht oder Schokolade gekauft, und das war sehr nett. Das Dach war also schon 1990 drauf. Und dann erfuhren wir, dass wir das Haus erstmal nicht bekommen."
Dass es vier Jahre dauern wird, bis es IHR Haus ist, wussten sie zum Glück damals nicht. Alteigentümer, die plötzlich auftauchten; bürokratische Hürden; Schwierigkeiten vielfältigster Art. Das war wohl die Zeit, in der sie an ihrer Entscheidung für das Haus zweifelten. Und manchmal vielleicht auch später, als die Arbeit kein Ende nehmen wollte:
"Und dann haben wir 44 große Container abgeschleppt, hier aus dem Haus. Martin musste erstmal ein Fundament bauen. Ja, das war alles sehr aufregend, und es war unheimlich anstrengend, jedes Wochenende, jeden Abend in der Woche. Und es war ganz hart für unsere Beziehung, an Leib und Seele, sag ich mal."
Ihre drei Kinder - das lässt sich auf den Schwarz-Weiß-Fotos in einem Album von damals erkennen - sind glücklich. Sie buddeln und schippen so selbstvergessen, wie nur Kinder das können.
Und dann war da ja noch die Bohlenstube, der Rettungsanker fürs Haus, der die Denkmalpflege auf den Plan rief - und den Abriss verhinderte. Als Martin Schröter jedoch das erste Mal in der Bohlenstube stand, konnte er in den Himmel schauen. Die Decke fehlte.
"Von den Holzwänden war erstmal noch nichts zu sehen. Man hat nur von oben gesehen, dass es Holzwände sind. Wir haben nur ein kleines Stückchen Putz abgenommen, um zu sehen, was darunter ist. Und dadurch wussten wir, dass es eine Bohlenstube ist, und dass wahrscheinlich alle drei Wände noch da sind, die es jetzt noch gibt."
Und in dieser Bohlenstube sitzen wir. Der Zimmermann erklärt, was das eigentlich ist:
"Eine Bohlenstube ist eine wie aus einem Blockhaus oder einer Blockstube zusammengezimmerte, große Kiste, die in dem Haus steht. Das war das einzige warme Zimmer in dem Haus. Die Wände sind bemalt. Die Bilder, die wir jetzt sehen, sind nicht ganz so alt, die sind von 1830. Die Stube ist um 1530 gebaut worden."
Die Restauratoren geben sich bei Schröters die Klinke in die Hand, fünf Jahre lang, immer von November bis Januar, weil die Gelder von der Denkmalpflege, an die 100.000 D-Mark immer erst am Jahresende freigegeben werden. Ihre Bohlenstube wird untersucht und erforscht und in allen Details beschrieben, bis hin zur Chemie der Farbstoffe.
Katharina Schröter: "Also peu à peu wurde das erstmal gereinigt und gefestigt. Und dann wurde es retuschiert. Und auch einer hat hier seine Diplomarbeit geschrieben, mit verschiedenen Formen der Retusche."
Und nun ist dieser anheimelnde Raum, in dessen Fenstern wie selbstverständlich Goethe-Glas blinkt, ihr Stolz - und ihr alltäglichster Ort zugleich: In Grün und Rot und Gold leuchten die hölzernen Wände, bemalt mit Vögeln und Pflanzen und Mustern. Eine Kiste, die quasi mitten im Haus schwebt. Und wenn Katharina Schröter abends um zehn Cello übt, hört das fast niemand.
Warum allerdings über der Tür ihrer Bohlenstube - mitten im thüringischen Erfurt - ausgerechnet ein Schiff gemalt ist? Vielleicht war es die Sehnsucht, die einen früheren Bewohner umtrieb, der - trotz gotischer Pforten und romanischer Mauern unter sich - in die Welt hinaus wollte?