Das beredte Schweigen

Von Malte Herwig · 03.03.2009
"Opa war kein Nazi" - so lautet der Titel einer Studie des Sozialpsychologen Harald Welzer, deren Ergebnisse vor ein paar Jahren für Aufsehen sorgten. Das Wissen um die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus, so urteilten die Forscher, rufe "in den Nachfolgegenerationen das Bedürfnis hervor, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben".
An Welzers Studie mochte sich erinnert fühlen, wer die Reaktionen auf die Enthüllung las, dass der Komponist Hans Werner Henze als Mitglied der NSDAP geführt wurde. Dass es nicht um moralische Schuld und Verantwortung eines damals 17-Jährigen gehen konnte, war offensichtlich. Dennoch stellten die meisten deutschen Feuilletons voreilig publizistische Persilscheine aus: Henzes NSDAP-Mitgliedschaft, so wurde kolportiert, müsse wohl ein Geburtstagsgeschenk für Hitler gewesen sein: Das Resultat einer Sammelaufnahme von Hitlerjungen in die Partei. Eine ganze Generation - verraten und verschenkt?

Allerdings: Für Sammelaufnahmen fehlt bisher jeder Beleg. So gilt nach wie vor, was der Zeithistoriker Michael Buddrus in einem Gutachten feststellte: Es gab keine automatischen korporativen Aufnahmen von Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge. Gegenteilige Erzählungen sind laut Buddrus "beständig perpetuierte Legenden, die ihren Ausgangspunkt in Entlastungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten und durch häufige Kolportage zu einem gern bemühten ‚Allgemeingut’ avancierten, das mit der historischen Wirklichkeit allerdings nichts zu tun hat."

Auch der Umstand, dass immer mehr prominente Namen in der NSDAP-Kartei auftauchen, scheint niemanden zu beeindrucken. Denn es ist nicht der erste solche Fund, der einen Schatten auf die Vergangenheit führender Persönlichkeiten der bundesdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit wirft. Bereits vor zwei Jahren sorgte die Entdeckung der NSDAP-Mitgliedskarten von Martin Walser, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Horst Ehmke und anderen Prominenten für Aufregung.

Die Reaktion war einhellig: Bis auf den SPD-Politiker Erhard Eppler bestritten alle Betroffenen unisono, jemals die Aufnahme in Hitlers Partei beantragt zu haben. Auch Henze will von seiner "phantomatischen NSDAP-Mitgliedschaft", so der Komponist selbst, nichts wissen.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird deshalb gerne eine alte Verschwörungstheorie bemüht, wann immer neue NS-Akten über bundesdeutsche Prominente auftauchen. Es handele sich doch nur um den Versuch, eine Gruppe altlinker Künstler zu diffamieren. Dabei finden sich unter den NS-Karteimitgliedern eben nicht nur linksliberale Intellektuelle, sondern auch Zeitgenossen wie Hermann Lübbe, Peter Boenisch und Niklas Luhmann.

Natürlich: die NSDAP-Mitgliedschaft prominenter Künstler sagt nichts über Schuld und Verantwortung von damals 17-Jährigen aus – aber viel über unseren heutigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. "Hitlers Helfer" haben Hochkonjunktur im Fernsehen, und über das "Dritte Reich" wird mehr geforscht als über jede andere Epoche deutscher Geschichte. Von Hitlers Hund bis Hitlers Hoden - wir sind gut informiert über jedes letzte Detail des Führerstaats. Aber wie die Partei ihre Mitglieder rekrutierte, die das "Dritte Reich" aufbaute, durchorganisierte und in den Untergang führte, das wissen wir immer noch nicht so genau. Und selbst wenn: Was für einfache Familien gilt, trifft offensichtlich auch auf die intellektuellen Verwandtschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik zu: Opa war kein Nazi.

Walser, Grass, Henze – die Betroffenen wollen sich an nichts erinnern können. Ihre Werke aber sind mitteilsam. Was der Mensch verschweigt, kann der Künstler nicht verheimlichen, denn in seinem Schaffen ist die Vergangenheit immer präsent. Das gilt für den Komponisten Henze, der noch in seinen späten Konzerten das Nazi-Schreckensgetön aus der Jugend erschallen lässt.

Und es gilt auch für Günter Grass, der wenige Jahre vor dem Bekanntwerden seiner SS-Mitgliedschaft den Erzähler der Novelle "Im Krebsgang" über seinen Sohn sagen lässt: "Wie gut, dass er nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, so dass ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken." Der Leitsatz der Grass-Novelle klingt wie eine Vorahnung, dass die Bewältigung der NS-Vergangenheit mit all ihren Überraschungen uns noch lange beschäftigen wird: "Das hört nicht auf. Nie hört das auf."


Malte Herwig ist Journalist, Literaturkritiker und Auslandsreporter. 1972 in Kassel studierte er in Mainz, Oxford und Harvard Literaturwissenschaften, Geschichte und Politik. Nach der Promotion in Oxford wurde er Journalist und schreibt seitdem unter anderem für die New York Times, ZEIT, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine und Vanity Fair. Zuletzt war er mehrere Jahre Redakteur im Kulturressort des SPIEGEL und lebt nun als freier Autor in Hamburg. Für sein Buch "Bildungsbürger auf Abwegen" (Verlag Vittorio Klostermann) erhielt er 2004 den Thomas-Mann-Förderpreis. Zuletzt erschien "Eliten in einer egalitären Welt" (wjs-Verlag).
Malte Herwig, Autor und Publizist
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