"Das beste Buch gibt es natürlich nicht"
Die 37-jährige Schriftstellerin Julia Franck ist mit dem Deutschen Buchpreis für den besten aktuellen Roman ausgezeichnet worden. Darin wollte sie laut eigener Aussage vor allem der Ur-Erfahrung des Verlassenwerdens nachgehen. Ihr Buch "Die Mittagsfrau" handelt von einer Mutter, die ihren Sohn am Ende des Zweiten Weltkrieges an einem Bahnhof aussetzt.
Jürgen König: Julia Franck erhält für ihren Roman "Die Mittagsfrau" den Deutschen Buchpreis 2007. Gestern Abend wurde er in Frankfurt am Main vergeben vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der damit den besten deutschsprachigen Roman des Jahres auszeichnet. Ausgewählt wurde er unter 117 Neuerscheinungen von einer siebenköpfigen Jury aus Kritikern, Autoren und einem Buchhändler. Ich habe gestern Abend mit Julia Franck über ihren Erfolg, über ihren Preis gesprochen. Und als Erstes habe ich ihr natürlich gratuliert.
Julia Franck: Ich danke Ihnen sehr!
König: Eine Preisträgerin zu fragen, ob sie sich freut oder was sie empfindet oder so, das ist natürlich Blödsinn. Was sollten Sie schon sagen. Natürlich freuen Sie sich. Wie sehr?
Franck: So sehr, dass ich zumindest innerhalb der ersten halben Stunde wieder warme Hände bekam. Die hatte ich den ganzen Tag leider nicht.
König: Wie ist das vor einer solchen Preisvergabe?
Franck: Das Wunderbare war, dass ich links und rechts meine beiden Kinder heute Nacht im Bett hatte, weil die nicht in ihren Betten schlafen wollten. Und insofern auch gar nicht unter Schlaflosigkeit leiden musste. Ich bin sofort eingeschlafen. Ich war ziemlich erschöpft nach einer Woche Lesereise. Und heute Morgen rief meine Tochter: "Aussteigen! Frühstücken!" Das ruft sie jeden Morgen. Da ist ein Schlachtruf, der mich an den Frühstückstisch treibt. Also da muss ich dann den Joghurt und die Haferflocken und alles, das Marmeladenbrot zurechtmachen und das Schulbrot. Insofern habe ich da eine sehr bodenständige Aufgabe als allererste heute Morgen zu bewältigen gehabt. Dann habe ich die in den Kindergarten und in die Schule gebracht und hab mich von ihnen verabschiedet, weil wir uns jetzt wieder ein paar Tage nicht sehen. Und dann bin ich nach Hause gegangen, habe das Gepäck geholt und habe mich in den Zug gesetzt und habe sehr lange gelesen im Zug. Das war sehr schön.
König: Was lesen Sie gerade?
Franck: "Die Mutprobe" von Nabokov. Ein wunderbares Buch!
König: Wie fühlt man sich, wenn einem bescheinigt wird, dass man den besten aktuellen Roman in deutscher Sprache geschrieben hat, denn das ist ja die Ausschreibung, also die Definition dieses Deutschen Buchpreises?
Franck: Ja, man lacht schelmisch und glücklich. Ein bisschen so wie ein Dieb, weil man natürlich sofort weiß, das ist ein Etikett, das ehrt mich sehr. Aber es ist gleichzeitig so erfunden wie vielleicht auch manches in unseren Büchern. Denn das beste Buch gibt es in dem Sinne natürlich nicht. Es gibt viele sehr gute Bücher. Und ich glaube, dass da auch immer Glück dazugehört, um von diesen sehr guten Büchern dann dasjenige zu sein, das bepreist wird.
König: Was Sie da sagen, ehrt Sie natürlich auch als bescheidenen Menschen. Sind Sie bescheiden oder haben Sie beim Schreiben schon den Ehrgeiz, vielleicht nicht das beste Buch im Sinne dieser Preisvergabe, aber doch ganz vorne mitzuschreiben?
Franck: Im Gegenteil. Bescheiden bin ich beim Arbeiten nie. Ich bin, ja wie soll ich sagen, ich quäle mich mit meinen Ansprüchen und mit meinen Zweifeln. Das ist das Furchtbare. Und ich denke dabei nie daran, wo vorne ist, wo ich vorne mitschreiben muss, sondern ich denke natürlich ganz konzentriert in den Kern, in das Herz des Textes hinein. Das ist doch klar.
König: Sie erhalten den Preis für Ihr Buch "Die Mittagsfrau". Darin erzählen Sie in einem großen historischen Bogen die Geschichte ihrer Großmutter. Sie begleiten sie von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die ersten Jahre der DDR hinein. Im Zentrum dieses Lebens steht eine unglaubliche Tat. 1945 lässt diese Frau auf einem Bahnhof in der Nähe von Stettin auf der Flucht in den Westen ihren kleinen Sohn zurück. Dieser Sohn wird später der Vater von Ihnen, von Julia Franck. Sie haben ja schon in Ihrem Roman "Lagerfeuer" von Ihrer Familie erzählt, damals aus eigener Erfahrung von Ihrer Flucht mit der Mutter, mit der Schwester aus der DDR in den Westen. Diesmal also greifen Sie weiter zurück. Woher kommt dieser Zug bei Ihnen, die eigene Familiengeschichte in Literatur zu verwandeln? Sie hätten ja auch einen rein historischen Roman schreiben können.
Franck: Also es sind natürlich immer nur Auslöser, Anhaltspunkte. Und Auslöser war weniger die Geschichte meiner Großmutter, weil ich sie ja nie kennen gelernt habe. Und insofern auch ihre Geschichte weniger kannte als diese Begebenheit, die sie von meinem Vater und damit auch von seinen Kindern für immer trennen sollte. Sie hat 1945 meinen Vater als siebenjährigen Jungen ausgesetzt auf einem kleinen Bahnsteig. Und das, was mich im Kern, glaube ich, am meisten beschäftigt hat und beunruhigt hat, war das Verlassensein dieses Kindes. Und dieses Verlassensein hat sich in meiner Familie in gewisser Weise auch übertragen oder vererbt, sozial vererbt. Insofern, als dass mein Vater geprägt von dieser Erfahrung nie das Zutrauen hatte, nie seine Furcht überwinden konnte, um mit meiner Mutter zum Beispiel zusammenzuleben. Insofern fehlte auch er als Vater. Und diese elterliche Leerstelle ist in gewisser Weise vererbt worden. Und dieses Verlassensein, Verlassenwerden, die Furcht davor, das ist eine ganz existenzielle, die ich aus dieser und auch noch anderen Erfahrungen sehr genau kenne. Und ich glaube, dass ich im Kern, vor allem dieser Urerfahrung nachgehen wollte und dazu kam viele Dinge. Also zum Beispiel die Notwendigkeit des Sprechens oder auch des Schweigens für Menschen, die den Krieg erlebt haben, erleben mussten, traumatisiert sind. Natürlich auch die Frage nach der Identität. Was macht einen Menschen zu dem, der er ist. Was bringt ihn zu einer Entscheidung wie dieser, im konkreten Fall von Helene natürlich. Was bringt diese Mutter dazu, ihr Kind zu verlassen. Und was hat es mit der Identität auf sich. Sie ist keine gute Tochter, sie ist keine gute Ehefrau, sie wird auch keine gute Mutter sein. Wenn man das moralisch beziffern wollte, käme sie ganz schlecht weg. Dagegen wollte ich anschreiben. Ich glaube auch nicht, dass sie einfach nur eine kalte Frau war, denn das gibt es nicht, einen einfach kalten Menschen. Ich glaube, dass mich diese Frage nach der Identität dieser Frau in ihren unterschiedlichen Rollen, aber auch natürlich diese Frage nach ihrer Herkunft, die als sogenannt halbjüdisch bezeichnet wird dann unter Hitler. Und das ist eine sehr schwierige Identität, denn sie ist alles andere als entschieden und es macht deutlich, wie wichtig im letzten Jahrhundert in Deutschland die Zuweisung von außen wurde und wie existentiell Leben bedroht wurde per Definition, per Blutsdefinition.
König: Sie sagten, Julia Franck, dass Sie auch einen Teil dieser Leerstelle des Gefühls des Verlassenseins geerbt hätten. Ist das Schreiben ein Mittel, um wirklich an diesem Grundgefühl des so Im-Leben-Stehens etwas zu ändern? Haben Sie das so erlebt, dass es Kraft spendet, auch wirklich ein anderes Grundgefühl zu bekommen?
Franck: Ja. Es fügt diesem Grundgefühl etwas hinzu. Ich glaube nicht, dass dieses Grundgefühl irgendwann verschwinden kann. Man kann es aber bewegen. Man kann mit ihm etwas machen. Man kann eine Geschichte daraus formen. Ich glaube, dass das vielleicht viel eher zutrifft, als dass man in dem Sinne, ja, alltagspsychologisch gesagt, etwas therapeutisch daran ändern kann.
König: Es hat ja im Laufe der letzten Wochen sehr viele Rezensionen Ihres Romans gegeben. Darin findet sich sehr, sehr viel Lob. Beispiel: Heiß und kalt. Grausam und idyllisch. Sinnlich und sachlich zugleich. Eine feinfühlig erzählte Nachkriegsfamiliengeschichte, schrieb Katharina Döbler in der "Zeit". In manche Besprechung schiebt sich auch so ein leichtes Bedauern darüber, das Buch sei, wie es heißt, für den Markt geschrieben worden. Das hat etwa Kristina Maidt-Zinke in der "Süddeutschen Zeitung" so formuliert. Mit publikumswirksamen Figuren, mit eingängigen Dialogen, sehr gut fürs Fernsehen geeignet, las man andernorts. Wie empfinden Sie diesen, ja, Vorwurf muss man es wohl nennen, für den Markt geschrieben zu haben?
Franck: Ja, also im ersten Augenblick trifft er natürlich, weil ich als Autorin während der Arbeit nie an einen Markt denke. Das halte ich wirklich für sehr, fast bösartig. Zumal meine Familiengeschichte sehr viel spektakulärer ist als diejenige, die ich in diesem Buch erzählt habe und ich da tatsächlich auf das Schärfste reduzieren und ausnüchtern musste, weil natürlich in einem Buch, in einem Roman nicht alles Platz haben kann und hat. Aber ich wüsste auch nicht, warum Literatur erlebnisarm sein soll. Ich weiß natürlich, dass es eine solche Mode in den letzten Jahrzehnten gab in der deutschen Literatur, dass wir möglichst wenig karg, nüchtern, erlebnisarm schreiben sollen. Und damit hätte ich dem Feuilleton zugeschrieben. Damit hätte ich ihm zugewunken. Hätte ich an den Markt und an die Gönner und die Begünstiger dieses Markte gedacht, und das ist insofern auch schon zugleich die Antwort auf einen solchen Vorwurf, denn so klug bin ich auch, dass ich mir mit Abstand und Distanz vorrechnen kann, was ein Markt erwartet, was Kritiker erwarten. Dann hätte ich tatsächlich ein anderes Buch schreiben müssen, wenn ich für Kritiker ein Buch schreibe. Das habe ich bewusst nicht getan, weil ich etwas Neues wagen wollte. Etwas für mich auch Neues. Aus einer Fülle heraus zu erzählen. Und daraus aus dieser Fülle auch auszuwählen. Und dazu fällt mir noch etwas ein. Es sind dann auch immer so Schlagworte in diesen Rezensionen zum Teil erfunden worden: Ja, es geht da um eine lesbische Liebe, um eine Morphiumsüchtige. Diese Begriffe tauchen in dem Buch nicht auf. Was ich tue, ist tatsächlich erzählen. So streng erzählen, dass Bilder entstehen. Und wenn nachher ein Rezensent glaubt, es handelt sich hier um eine lesbische Liebesbeziehung, die erzählt wird, dann ist das das Schlagwort, das Klischee im Kopf des Rezensenten, aber nicht in meinem Buch.
König: Neben Ihrem Buch waren zuletzt noch fünf Romane im Rennen um den Deutschen Buchpreis. Alles sehr unterschiedliche Bücher: Eine schwierige Liebesbeziehung im Berlin der 80er Jahre, eine nicht weniger schwierige im Frankfurt von heute, ein Krimi, eine Parodie auf den Literaturbetrieb, die epische Bilanz eines ganzen Jahrhunderts. Das alles in sehr unterschiedlichen Formen. Ist das Ausdruck erfreulich großer Vielfalt oder unwahrscheinlich großer Beliebigkeit?
Franck: Ja, ich denke schon, dass das ein Ausdruck von Vielfalt ist. Wobei man sich dann natürlich fragen könnte, wo bleibt die experimentelle Literatur? Warum stand Ulrich Peltzer nicht mal auf der Longlist? Was ist mit den Lyrikern? Insofern ist dieser Preis schon von seiner Ausschreibung her sehr eingeschränkt. Das heißt, er will einen Roman bepreisen und kein Experiment. Ja, das ist von der Ausrichtung her natürlich sehr, sehr ausschließlich. Und ich glaube aber innerhalb dessen, was Romane heute können und was sie zur selben Zeit zeigen, also zur selben Zeit heißt, jeder von uns hat ja für sich allein gearbeitet. Einsam gearbeitet. Er konnte ja nicht wissen, neben welchem Buch er erscheinen würde und dann gar in so einer Shortlist auftauchen. Ich glaube, dass das tatsächlich eher eine Frage der Zusammenkunft dieser unterschiedlichen Literaturen ist und der Vielfalt, die darin zum Ausdruck kommt.
König: Aber Sie hätten sich eine andere Shortlist gewünscht?
Franck: Das kann ich nicht sagen, weil ich gestehen muss, dass ich nicht 20 Bücher an einem Tag lesen kann. Und auch nicht übrigens in drei Wochen. Und das muss man auch zur Gerechtigkeit sagen. Denn keiner der Juroren wird alle Neuerscheinungen gelesen haben. Das kann niemand. Insofern ist man natürlich auf viele Dinge angewiesen. Ich hätte mir tatsächlich auch noch andere Bücher auf dieser Longlist oder auf der Shortlist vorstellen können. Aber das ist die Natur jeder Jury. Keine Jury ist Gott oder hat tausend Augen, sondern sie kann natürlich nur für das stehen, was sie gelesen hat.
König: Ich dachte, ich kam nur drauf, weil Sie Ulrich Peltzer zum Beispiel erwähnten, den ja viele erwartet hatten oder auch Michael Lentz zum Beispiel, ein anderer Name.
Franck: Genau.
König: Aber mit der Preisträgerin sind Sie ganz zufrieden?
Franck: Das ist eine unziemliche Frage.
König: Julia Franck erhält für ihren Roman "Die Mittagsfrau" den Deutschen Buchpreis 2007. Frau Franck, noch mal herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für das Gespräch!
Julia Franck: Ich danke Ihnen sehr!
König: Eine Preisträgerin zu fragen, ob sie sich freut oder was sie empfindet oder so, das ist natürlich Blödsinn. Was sollten Sie schon sagen. Natürlich freuen Sie sich. Wie sehr?
Franck: So sehr, dass ich zumindest innerhalb der ersten halben Stunde wieder warme Hände bekam. Die hatte ich den ganzen Tag leider nicht.
König: Wie ist das vor einer solchen Preisvergabe?
Franck: Das Wunderbare war, dass ich links und rechts meine beiden Kinder heute Nacht im Bett hatte, weil die nicht in ihren Betten schlafen wollten. Und insofern auch gar nicht unter Schlaflosigkeit leiden musste. Ich bin sofort eingeschlafen. Ich war ziemlich erschöpft nach einer Woche Lesereise. Und heute Morgen rief meine Tochter: "Aussteigen! Frühstücken!" Das ruft sie jeden Morgen. Da ist ein Schlachtruf, der mich an den Frühstückstisch treibt. Also da muss ich dann den Joghurt und die Haferflocken und alles, das Marmeladenbrot zurechtmachen und das Schulbrot. Insofern habe ich da eine sehr bodenständige Aufgabe als allererste heute Morgen zu bewältigen gehabt. Dann habe ich die in den Kindergarten und in die Schule gebracht und hab mich von ihnen verabschiedet, weil wir uns jetzt wieder ein paar Tage nicht sehen. Und dann bin ich nach Hause gegangen, habe das Gepäck geholt und habe mich in den Zug gesetzt und habe sehr lange gelesen im Zug. Das war sehr schön.
König: Was lesen Sie gerade?
Franck: "Die Mutprobe" von Nabokov. Ein wunderbares Buch!
König: Wie fühlt man sich, wenn einem bescheinigt wird, dass man den besten aktuellen Roman in deutscher Sprache geschrieben hat, denn das ist ja die Ausschreibung, also die Definition dieses Deutschen Buchpreises?
Franck: Ja, man lacht schelmisch und glücklich. Ein bisschen so wie ein Dieb, weil man natürlich sofort weiß, das ist ein Etikett, das ehrt mich sehr. Aber es ist gleichzeitig so erfunden wie vielleicht auch manches in unseren Büchern. Denn das beste Buch gibt es in dem Sinne natürlich nicht. Es gibt viele sehr gute Bücher. Und ich glaube, dass da auch immer Glück dazugehört, um von diesen sehr guten Büchern dann dasjenige zu sein, das bepreist wird.
König: Was Sie da sagen, ehrt Sie natürlich auch als bescheidenen Menschen. Sind Sie bescheiden oder haben Sie beim Schreiben schon den Ehrgeiz, vielleicht nicht das beste Buch im Sinne dieser Preisvergabe, aber doch ganz vorne mitzuschreiben?
Franck: Im Gegenteil. Bescheiden bin ich beim Arbeiten nie. Ich bin, ja wie soll ich sagen, ich quäle mich mit meinen Ansprüchen und mit meinen Zweifeln. Das ist das Furchtbare. Und ich denke dabei nie daran, wo vorne ist, wo ich vorne mitschreiben muss, sondern ich denke natürlich ganz konzentriert in den Kern, in das Herz des Textes hinein. Das ist doch klar.
König: Sie erhalten den Preis für Ihr Buch "Die Mittagsfrau". Darin erzählen Sie in einem großen historischen Bogen die Geschichte ihrer Großmutter. Sie begleiten sie von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die ersten Jahre der DDR hinein. Im Zentrum dieses Lebens steht eine unglaubliche Tat. 1945 lässt diese Frau auf einem Bahnhof in der Nähe von Stettin auf der Flucht in den Westen ihren kleinen Sohn zurück. Dieser Sohn wird später der Vater von Ihnen, von Julia Franck. Sie haben ja schon in Ihrem Roman "Lagerfeuer" von Ihrer Familie erzählt, damals aus eigener Erfahrung von Ihrer Flucht mit der Mutter, mit der Schwester aus der DDR in den Westen. Diesmal also greifen Sie weiter zurück. Woher kommt dieser Zug bei Ihnen, die eigene Familiengeschichte in Literatur zu verwandeln? Sie hätten ja auch einen rein historischen Roman schreiben können.
Franck: Also es sind natürlich immer nur Auslöser, Anhaltspunkte. Und Auslöser war weniger die Geschichte meiner Großmutter, weil ich sie ja nie kennen gelernt habe. Und insofern auch ihre Geschichte weniger kannte als diese Begebenheit, die sie von meinem Vater und damit auch von seinen Kindern für immer trennen sollte. Sie hat 1945 meinen Vater als siebenjährigen Jungen ausgesetzt auf einem kleinen Bahnsteig. Und das, was mich im Kern, glaube ich, am meisten beschäftigt hat und beunruhigt hat, war das Verlassensein dieses Kindes. Und dieses Verlassensein hat sich in meiner Familie in gewisser Weise auch übertragen oder vererbt, sozial vererbt. Insofern, als dass mein Vater geprägt von dieser Erfahrung nie das Zutrauen hatte, nie seine Furcht überwinden konnte, um mit meiner Mutter zum Beispiel zusammenzuleben. Insofern fehlte auch er als Vater. Und diese elterliche Leerstelle ist in gewisser Weise vererbt worden. Und dieses Verlassensein, Verlassenwerden, die Furcht davor, das ist eine ganz existenzielle, die ich aus dieser und auch noch anderen Erfahrungen sehr genau kenne. Und ich glaube, dass ich im Kern, vor allem dieser Urerfahrung nachgehen wollte und dazu kam viele Dinge. Also zum Beispiel die Notwendigkeit des Sprechens oder auch des Schweigens für Menschen, die den Krieg erlebt haben, erleben mussten, traumatisiert sind. Natürlich auch die Frage nach der Identität. Was macht einen Menschen zu dem, der er ist. Was bringt ihn zu einer Entscheidung wie dieser, im konkreten Fall von Helene natürlich. Was bringt diese Mutter dazu, ihr Kind zu verlassen. Und was hat es mit der Identität auf sich. Sie ist keine gute Tochter, sie ist keine gute Ehefrau, sie wird auch keine gute Mutter sein. Wenn man das moralisch beziffern wollte, käme sie ganz schlecht weg. Dagegen wollte ich anschreiben. Ich glaube auch nicht, dass sie einfach nur eine kalte Frau war, denn das gibt es nicht, einen einfach kalten Menschen. Ich glaube, dass mich diese Frage nach der Identität dieser Frau in ihren unterschiedlichen Rollen, aber auch natürlich diese Frage nach ihrer Herkunft, die als sogenannt halbjüdisch bezeichnet wird dann unter Hitler. Und das ist eine sehr schwierige Identität, denn sie ist alles andere als entschieden und es macht deutlich, wie wichtig im letzten Jahrhundert in Deutschland die Zuweisung von außen wurde und wie existentiell Leben bedroht wurde per Definition, per Blutsdefinition.
König: Sie sagten, Julia Franck, dass Sie auch einen Teil dieser Leerstelle des Gefühls des Verlassenseins geerbt hätten. Ist das Schreiben ein Mittel, um wirklich an diesem Grundgefühl des so Im-Leben-Stehens etwas zu ändern? Haben Sie das so erlebt, dass es Kraft spendet, auch wirklich ein anderes Grundgefühl zu bekommen?
Franck: Ja. Es fügt diesem Grundgefühl etwas hinzu. Ich glaube nicht, dass dieses Grundgefühl irgendwann verschwinden kann. Man kann es aber bewegen. Man kann mit ihm etwas machen. Man kann eine Geschichte daraus formen. Ich glaube, dass das vielleicht viel eher zutrifft, als dass man in dem Sinne, ja, alltagspsychologisch gesagt, etwas therapeutisch daran ändern kann.
König: Es hat ja im Laufe der letzten Wochen sehr viele Rezensionen Ihres Romans gegeben. Darin findet sich sehr, sehr viel Lob. Beispiel: Heiß und kalt. Grausam und idyllisch. Sinnlich und sachlich zugleich. Eine feinfühlig erzählte Nachkriegsfamiliengeschichte, schrieb Katharina Döbler in der "Zeit". In manche Besprechung schiebt sich auch so ein leichtes Bedauern darüber, das Buch sei, wie es heißt, für den Markt geschrieben worden. Das hat etwa Kristina Maidt-Zinke in der "Süddeutschen Zeitung" so formuliert. Mit publikumswirksamen Figuren, mit eingängigen Dialogen, sehr gut fürs Fernsehen geeignet, las man andernorts. Wie empfinden Sie diesen, ja, Vorwurf muss man es wohl nennen, für den Markt geschrieben zu haben?
Franck: Ja, also im ersten Augenblick trifft er natürlich, weil ich als Autorin während der Arbeit nie an einen Markt denke. Das halte ich wirklich für sehr, fast bösartig. Zumal meine Familiengeschichte sehr viel spektakulärer ist als diejenige, die ich in diesem Buch erzählt habe und ich da tatsächlich auf das Schärfste reduzieren und ausnüchtern musste, weil natürlich in einem Buch, in einem Roman nicht alles Platz haben kann und hat. Aber ich wüsste auch nicht, warum Literatur erlebnisarm sein soll. Ich weiß natürlich, dass es eine solche Mode in den letzten Jahrzehnten gab in der deutschen Literatur, dass wir möglichst wenig karg, nüchtern, erlebnisarm schreiben sollen. Und damit hätte ich dem Feuilleton zugeschrieben. Damit hätte ich ihm zugewunken. Hätte ich an den Markt und an die Gönner und die Begünstiger dieses Markte gedacht, und das ist insofern auch schon zugleich die Antwort auf einen solchen Vorwurf, denn so klug bin ich auch, dass ich mir mit Abstand und Distanz vorrechnen kann, was ein Markt erwartet, was Kritiker erwarten. Dann hätte ich tatsächlich ein anderes Buch schreiben müssen, wenn ich für Kritiker ein Buch schreibe. Das habe ich bewusst nicht getan, weil ich etwas Neues wagen wollte. Etwas für mich auch Neues. Aus einer Fülle heraus zu erzählen. Und daraus aus dieser Fülle auch auszuwählen. Und dazu fällt mir noch etwas ein. Es sind dann auch immer so Schlagworte in diesen Rezensionen zum Teil erfunden worden: Ja, es geht da um eine lesbische Liebe, um eine Morphiumsüchtige. Diese Begriffe tauchen in dem Buch nicht auf. Was ich tue, ist tatsächlich erzählen. So streng erzählen, dass Bilder entstehen. Und wenn nachher ein Rezensent glaubt, es handelt sich hier um eine lesbische Liebesbeziehung, die erzählt wird, dann ist das das Schlagwort, das Klischee im Kopf des Rezensenten, aber nicht in meinem Buch.
König: Neben Ihrem Buch waren zuletzt noch fünf Romane im Rennen um den Deutschen Buchpreis. Alles sehr unterschiedliche Bücher: Eine schwierige Liebesbeziehung im Berlin der 80er Jahre, eine nicht weniger schwierige im Frankfurt von heute, ein Krimi, eine Parodie auf den Literaturbetrieb, die epische Bilanz eines ganzen Jahrhunderts. Das alles in sehr unterschiedlichen Formen. Ist das Ausdruck erfreulich großer Vielfalt oder unwahrscheinlich großer Beliebigkeit?
Franck: Ja, ich denke schon, dass das ein Ausdruck von Vielfalt ist. Wobei man sich dann natürlich fragen könnte, wo bleibt die experimentelle Literatur? Warum stand Ulrich Peltzer nicht mal auf der Longlist? Was ist mit den Lyrikern? Insofern ist dieser Preis schon von seiner Ausschreibung her sehr eingeschränkt. Das heißt, er will einen Roman bepreisen und kein Experiment. Ja, das ist von der Ausrichtung her natürlich sehr, sehr ausschließlich. Und ich glaube aber innerhalb dessen, was Romane heute können und was sie zur selben Zeit zeigen, also zur selben Zeit heißt, jeder von uns hat ja für sich allein gearbeitet. Einsam gearbeitet. Er konnte ja nicht wissen, neben welchem Buch er erscheinen würde und dann gar in so einer Shortlist auftauchen. Ich glaube, dass das tatsächlich eher eine Frage der Zusammenkunft dieser unterschiedlichen Literaturen ist und der Vielfalt, die darin zum Ausdruck kommt.
König: Aber Sie hätten sich eine andere Shortlist gewünscht?
Franck: Das kann ich nicht sagen, weil ich gestehen muss, dass ich nicht 20 Bücher an einem Tag lesen kann. Und auch nicht übrigens in drei Wochen. Und das muss man auch zur Gerechtigkeit sagen. Denn keiner der Juroren wird alle Neuerscheinungen gelesen haben. Das kann niemand. Insofern ist man natürlich auf viele Dinge angewiesen. Ich hätte mir tatsächlich auch noch andere Bücher auf dieser Longlist oder auf der Shortlist vorstellen können. Aber das ist die Natur jeder Jury. Keine Jury ist Gott oder hat tausend Augen, sondern sie kann natürlich nur für das stehen, was sie gelesen hat.
König: Ich dachte, ich kam nur drauf, weil Sie Ulrich Peltzer zum Beispiel erwähnten, den ja viele erwartet hatten oder auch Michael Lentz zum Beispiel, ein anderer Name.
Franck: Genau.
König: Aber mit der Preisträgerin sind Sie ganz zufrieden?
Franck: Das ist eine unziemliche Frage.
König: Julia Franck erhält für ihren Roman "Die Mittagsfrau" den Deutschen Buchpreis 2007. Frau Franck, noch mal herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für das Gespräch!