Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Koffermenschen, Donauschwaben, Partisanen

Der kroatische Schriftsteller Slobodan Snajder im Jahr 2016.
Der kroatische Schriftsteller Slobodan Šnajder im Jahr 2016. © imago
Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander |
Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.
"Eigentlich bin ich in meiner Familie seit unzähligen Generationen der erste, der kein Deutsch spricht. Meine Mutter sprach Deutsch fast wie ihre Muttersprache. Ich spreche kein Deutsch. Und es gibt bei meinen Eltern und Großeltern psychologische Gründe dafür, dass sie mir kein Deutsch beigebracht haben."
Miljenko Jergović ist der international bekannteste Gegenwartsautor Kroatiens, außerdem Kommentator und Kolumnist zahlreicher Medien. Jergović, mit wuschigem Vollbart und entspanntem Auftreten an einen Vertreter der Hippie-Generation erinnernd, sitzt im Vorgarten der Dorfkneipe neben dem Haus der freiwilligen Feuerwehr von Lukavec. Seit Jahren lebt er hier auf dem Land in der Nähe der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Jergović wurde 1966 im bosnischen Sarajevo geboren – in einer Familie, die sich zur kroatischen Nationalität bekannte, mütterlicherseits aber deutscher Herkunft war. Von dieser deutschen Herkunft handelt sein Opus Magnum, das 2017 in Deutschland erschienen ist: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie."
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie"
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie" © Schöffling und Co.
"Der Grund dafür, dass ich kein Deutsch spreche, liegt darin, dass einer meiner Onkel im Zweiten Weltkrieg als deutscher Soldat fiel. Die Deutschen hatten ihn gerade deshalb eingezogen, weil er Deutsch sprach. Wahrscheinlich sind meine Eltern und Großeltern unbewusst davon ausgegangen, dass es für mich besser und sicherer wäre, wenn ich kein Deutsch sprechen würde. Das ist natürlich eine komische Annahme. Aber so war es."

Ludwig Bauer: ein Mann der leisen Töne

"Meine erste Begegnung mit dem Deutschen war unbewusst. Vor allem meine Tante, die Schwester meines Vaters, hat mir Deutsch beigebracht. Als ich ein kleines Kind war, hat sie auf mich aufgepasst, während meine Mutter den ganzen Tag arbeitete, um den Lebensunterhalt zu verdienen. So wurde für mich Deutsch zur ersten Sprache."
Ludwig Bauer ist eine Generation älter als Miljenko Jergović. Er kam 1941 in Sisak zur Welt, 50 Kilometer südlich von Zagreb. Bauer, ein Mann der eher leisen Töne, empfängt in seiner sorgsam eingerichteten Wohnung am "Kvatrić", einem bekannten Platz im Zentrum der kroatischen Hauptstadt. Bauers Bücher handeln seit den späten 1980er-Jahren vom Schicksal der jugoslawischen Deutschen.
"Am Ende des Zweiten Weltkriegs durfte ich als Kind plötzlich nicht mehr Deutsch sprechen. Ich konnte das nicht ganz verstehen. Die Erziehungsmethoden waren damals andere – andere Zeiten, andere Sitten. Für jedes deutsche Wort bekam ich Schläge. Daraus ergab sich ein Trauma. Ich verdrängte das Deutsche und sprach immer besser Kroatisch."

Ein Donauschwabe, der sich nicht als Deutscher fühlt

"Um ganz ehrlich zu sein: Als Deutscher habe ich mich nie gefühlt, trotz meiner Herkunft. Auch ist mir nie eingefallen, Deutsch zu schreiben. Ich bin ein kroatischer Schriftsteller. Alles, was für mich von Bedeutung ist, fällt mir auf Kroatisch ein – auch dann, wenn ich in Deutschland Deutsch sprechen muss."
Slobodan Šnajder, 1948 in Zagreb geboren, entstammt väterlicherseits der Gruppe der Donauschwaben. Heute lebt er in seiner Geburtsstadt und auf einer kleinen dalmatinischen Insel – ein Mann Ende sechzig mit gestutztem Schnurrbart, der sich resigniert gibt, aber auch schneidig auftreten kann. Šnajder war bereits im sozialistischen Jugoslawien ein anerkannter Theaterautor. Seine Stücke, vor allem sein "Kroatischer Faust", werden auch in Deutschland und anderswo gespielt.
Straßenszene im Zagreb der Dreißiger Jahre
Straßenszene im Zagreb der Dreißiger Jahre© dpa picture alliance
2015 legte Šnajder seinen zweiten Roman vor – "Das eherne Zeitalter". Er handelt vom deutschen Vater des Autors, einem Angehörigen der Waffen-SS. Und von seinen Vorfahren, armen deutschen Bauern, die sich im 18. Jahrhundert auf der Suche nach einem besseren Leben in Slawonien niederließen, fruchtbarem Land im Osten Kroatiens, das lange Zeit zur Habsburgermonarchie gehörte. Heute spricht Šnajder zwar Deutsch, aber es ist nicht das Deutsch seiner Vorfahren, an das er sich nur vage erinnern kann. Es ist für ihn eine Fremdsprache, die er sich als Philosophiestudent und bei Theatergastspielen in Deutschland aneignete.
"Auf Deutsch kann ich mich relative präzise zu politischen und philosophischen Fragen äußern. Dafür ist diese Sprache ja auch da, oder? Aber wenn es um meine Mutter geht, um die Liebe, um Krankheiten, dann rutsche ich in meine eigentliche Muttersprache."

Das Schweigen der Balkandeutschen nach 1945

Das Schicksal der jugoslawischen Deutschen ist in jüngerer Zeit ein wichtiges Thema der kroatischen Gegenwartsliteratur geworden. Im sozialistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien mochte kaum jemand darüber sprechen – und schon gar nicht schreiben. Die Jahrhunderte währende Siedlungsgeschichte der Deutschen in dieser Region war nach deren massenhaften Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs tabuisiert. Die wenigen noch im Lande verbliebenen Deutschen mieden das Thema. Sie wollten nicht für Hitlers Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden.
Darüber hinaus riss nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbindung innerhalb der deutschen Familien ab – zwischen den Vertriebenen, die sich in der jungen Bundesrepublik einrichteten und ihren in Jugoslawien verbliebenen Angehörigen.

Deutsche Grammatik, kroatischer Wortschatz

In seinem Roman "Das eherne Zeitalter" zitiert der kroatische Erzähler Slobodan Šnajder einen authentischen Brief seines Großonkels aus Bayern, gerichtet an Šnajders Vater in Zagreb zu Beginn des jugoslawischen Bürgerkriegs.
"Lieber Neffe Djuro und alle anderen. Jetzt nehme ich mir mal ein bisschen Zeit, dass ich Euch ein paar Worte in diesem Brief schreibe… Wir leben noch, und was die Gesundheit angeht, so wie alle alten Menschen. Euch wünschen wir auch alles Gute!"
"1990 oder 1991 brachte mein Vater einen Brief mit, den er von dem Bruder meines Großvaters bekommen hatte. Dieser Bruder hatte sich aus einem Dorf in der Nähe von Passau gemeldet. Ich wusste, dass die Familie dort lebte, aber wir hatten sonst keinen Kontakt. Der Brief ist ein linguistisches Kuriosum: Die Grammatik ist deutsch, der Wortschatz kroatisch-slawonisch."
"Hier geht es uns allen gut. Bei Euch ist wieder Krieg und Übel. Wenn Ihr Essen braucht oder sowas, meldet Euch. Hier erzählen die Leute, dass Opel wieder Arbeiter nimmt. Das sage ich Dir wegen Deines Sohnes. Ich weiß nicht, ob er eine Ausbildung hat. Aber das muss nicht sein, wenn er gesund ist und lesen und schreiben kann, wird er es leicht haben. Meine Adresse und Telefon habt Ihr. Ich arbeite so viel ich kann im Garten. Viel wächst hier, aber nicht so wie in unserem alten Haus am Ende der Straße. So einen Garten findet man nirgendwo noch einmal."

Die eigene Herkunft als Thema entdeckt

Der Sohn, der bei Opel einsteigen könnte, ist Slobodan Šnajder, zu diesem Zeitpunkt längst ein berühmter kroatischer Schriftsteller.
"So blöd und unkommunikativ wie ich bin, habe ich nicht sofort angerufen. Ich dachte, ich melde mich, wenn ich mal in München bin. Nach einem Jahr rief ich dann wirklich an. Es meldet sich einer meiner Verwandten – der Großonkel hatte 11 Söhne – und sagt: 'Johannes Schneider ist leider verstorben.' Schluss. Dieser Verwandte von mir konnte kein Wort Kroatisch mehr. Aus! Was bedeutet Slawonien für ihn?"
Nach diesem Erlebnis mit seinen Verwandten vergingen Jahre, bis Slobodan Šnajder die eigene Herkunft als Stoff für einen Roman entdeckte. Solange seine Eltern lebten, beschäftigte ihn das Thema nicht.
"Der Tod dieser beiden Menschen war dann natürlich ein Anlass, denn er hat meine Lage verändert. Plötzlich hatte ich verstanden, dass ich ein gespaltenes Wesen war, ein Mensch mit zwei Hälften, von denen man nicht einfach eine wegwerfen kann. Und ich habe begriffen, dass sich meine beiden Eltern auf keinen Fall vor einem bestimmten Zeitpunkt hätten begegnen dürfen."
Denn Vater und Mutter Šnajders standen im Krieg auf feindlichen Seiten: Die Mutter, eine Kroatin, wurde von den Ustaša, den kroatischen Verbündeten Hitlers, in ein Konzentrationslager gesperrt. Als sie wieder frei kam, schloss sie sich Titos Partisanenarmee an.

"Ein Deutscher tut so etwas nicht"

Dieser antifaschistischen Mutter, bei der er nach der frühen Scheidung der Eltern aufwuchs, widmet Šnajder in seinem Roman "Das eherne Zeitalter" nur ein paar Episoden. Im Mittelpunkt steht die Figur des Vaters, Georg Kempf, wie er im Roman heißt. Im Frühjahr 1943 wird Kempf in seiner slawonischen Heimatstadt Nuštar von den Deutschen rekrutiert. Es ist eine Zeit, in der sich viele Donauschwaben von ihren slawischen Nachbarn distanzieren.
(Aus dem Roman:)
Anfangs war der alte Kempf stolz auf die Besäufnisse seines Sohnes gewesen. Als man Georg aber immer wieder stocksteif zuhause ablieferte, runzelte der Alte die Stirn.
"Alle hier wissen, was eine schwäbische Fastnacht bedeutet. Alle wissen, dass wir Schwaben unsere eigenen Tage zum Feiern haben. Und wenn wir sie feiern, bleiben die anderen zuhause, stehen hinter dem Vorhang und schauen auf die Straße. Bei dir ist aber ständig Fastnacht. Ein Deutscher tut so etwas nicht."
Das Letzte war jetzt zum geflügelten Wort geworden: Der Deutsche tut dies nicht, tut das nicht, im Gegenteil, wir Deutschen… Dieses "wir Deutsche", das war das Neue. Georg konnte sich nicht entsinnen, dass man in seinem Haus, bevor der Führer an die Macht geklettert war, jemals so etwas wie "wir Deutsche" gesagt hätte.
Georg oder Djuka, wie man ihn in seiner kroatischen Umgebung nennt, tritt der Waffen-SS bei. Er kämpft im besetzten Polen, wird verwundet und trifft im Lazarett auf die polnische Krankenschwester Ania. Ania arbeitet konspirativ für den polnischen Widerstand. Georg hatte es abgelehnt, auf Polen zu schießen. Deshalb ist er aus Anias Sicht kein "echter Deutscher". Hinzu kommt, dass beide sich in ihren slawischen Sprachen verständigen können.

Zwischen den Fronten des Zweiten Weltkriegs

Ania arbeitet für Georg einen Fluchtplan aus. Er soll sich der polnischen Heimatarmee anschließen und mit ihr gegen die Deutschen kämpfen. Doch der Plan misslingt. Georg verfehlt den Kurier, der ihn zur Heimatarmee bringen sollte.
Nun irrt er als Deserteur allein durch Polen, arbeitet als Knecht bei polnischen Bauern, wird Zeuge der Judenvernichtung und stößt schließlich auf die Rote Armee. Die Sowjets nehmen ihn in ihre Reihen auf. Bei Kriegsende bekommt Georg Kempf von ihnen eine Art Führungszeugnis. Das sowjetische Dokument wird zu seiner Eintrittskarte in das neue, sozialistische, anfangs noch stalintreue Jugoslawien.
(Roman-Auszug:) "Wie läuft’s denn, altes Haus?" Genosse Kosta breitete die Arme aus, als wunderte er sich, Kempf erst jetzt zu sehen."
"Alles Denkbare ist geschehen. Aber wenn man nur kann, sollte man jetzt anfangen zu vergessen. Wir müssen nach vorne schauen. Wir bauen unser Land auf, mit allen die mitmachen wollen. (…) Sag mal, was brauchst du?"
Einen Sack Mehl, Speck oder Tabak könnte er leicht für mich besorgen, dachte Kempf bei sich. Darüber wäre er sogar froh, Hauptsache ich frage ihn nicht nach den Deutschen.
Doch Djuka Kempf fragt nach den Deutschen. "Wird diese Mühle, die jetzt ein Lager ist…"
"Vorübergehende Unterkunft, Genosse Kempf, seien wir präzise. Ein Lager ist etwas anderes."
"Hinter dem Draht gibt es viele Kinder."
"Leider ist die Zahl der Kinder ziemlich hoch. Wir sind doch keine Tiere und werden ihnen die Kinder nicht wegnehmen. Was sollten wir auch mit ihnen tun?"
"Die Kinder werden es sich merken und als Erwachsene unsere Feinde sein."
"Ach was, man vergisst doch alles. Woran kannst du dich denn aus der Kindheit erinnern?"
Kempf wollte ihm nicht sagen, dass er sich an fast alles erinnerte.
Lebemann und Genießer: Der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito mit seiner Frau Jovanka in ihrem Haus auf der Insel Vanga 1956.
Lebemann und Genießer: Der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito mit seiner Frau Jovanka in ihrem Haus auf der Insel Vanga 1956. © imago/United Archives International

Die Vertreibung der Deutschen? "Eine Dummheit"

Slobodan Šnajder zollt Titos Jugoslawien bis heute Respekt. Dennoch urteilt der Schriftsteller über die Vertreibung der Deutschen:
"Es war eine der größeren Dummheiten des Regimes, das ich ansonsten schätzte. Ich möchte meine Ansichten nicht verstecken. Aber die Vertreibung der Deutschen war eine Dummheit."
Diese Vertreibung markiert das Ende einer Jahrhunderte währenden Geschichte der Deutschen in der Region. Sie lebten überwiegend friedlich mit ihren slawischen Nachbarn zusammen. Mehr noch: Im 19. Jahrhundert setzten sich nicht selten auch Deutsche für die kroatische Nationalbewegung ein.
"Sie trugen wesentlich zur Herausbildung einer neuen kroatischen Kultur und Sprache bei, die heute als kroatische Standardsprache dient. Diese Deutschen wollten, dass das Volk, auf dessen Terrain sie lebten, dieselben Freiheiten genießt wie andere, größere Völker, die diese Freiheiten bereits vorher besaßen. Da gibt es wirklich einen bedeutenden Beitrag der Deutschen. Und dann gibt es die Deutschen, die sich im Zweiten Weltkrieg auf die Seite der Antifaschisten schlugen. Sie fühlten sich während des Kriegs und nach dem Krieg stärker als Jugoslawen denn als Deutsche."
Ludwig Bauer. Er hat als erster das deutsche Thema für die kroatische Literatur entdeckt. Bereits in den 1980er-Jahren schrieb er an seiner "Kurzen Chronik der Familie Weber", einer Familiengeschichte, die sich über ein Jahrhundert erstreckt und der Geschichte seiner eigenen Familie stark ähnelt. Die Webers begeistern sich für den technischen Fortschritt und sympathisieren mit sozialdemokratischen Ideen. Im Zweiten Weltkrieg kämpfen sie auf Seiten von Titos Partisanen.

Neues Interesse für die Geschichte nach dem Zerfall Jugoslawiens

Doch Ludwig Bauer hatte zunächst kein Glück mit seinem Manuskript. Alle Verlage in Zagreb, denen er es anbot, lehnten mit der Begründung ab, es sei antikommunistisch.
"Als Beweis führte man an, dass die Partisanen in meinem Roman einen Deutschen erschießen, nur weil er Deutscher, nicht weil er ein Feind ist. Das war das Antikommunistische und damit wollte man in Zagreb damals nichts zu tun haben.
Dann bot ich das Manuskript dem 'Svjetlost'-Verlag in Sarajevo an. Dort ging es damals liberaler zu als in den anderen Teilrepubliken. 1990 brachte der Verlag das Buch heraus. Am 9. Mai 1991, auf der Feier zum Sieg über den Faschismus, erhielt ich dann in Sarajevo einen Preis für den besten Roman des Jahres."
1991 taumelt Jugoslawien in einen neuen Krieg mit mehreren Schauplätzen. Die frisch gedruckten Exemplare von Bauers Buch "Kurze Chronik der Familie Weber" gehen in einer bosnischen Lagerhalle in Flammen auf. Eine Verfilmung des Stoffs im Fernsehen platzt.
Trotz allem: Der Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens leitet die literarische Beschäftigung mit der Rolle der Deutschen in der Geschichte des Landes ein.

Eine deutsche Kindheit im Tito-Staat

Eines der bekanntesten Bücher über die Deutschen in der kroatischen Literatur ist "Heimat, Vergessen", 2010 in Zagreb veröffentlicht und seither mit mehreren Literaturpreisen bedacht. In "Heimat, Vergessen" erzählt Ludwig Bauer vom Aufwachsen eines deutschen Kindes im sozialistischen Jugoslawien. Diesmal stützt er sich nicht auf die eigene Familiengeschichte.
(Roman-Auszug:) Am Abend brachte Papa das Buch, setzte sich an den Rand meines Bettes und sagte, schau mal! Er klopfte mit der Handfläche auf den Einband und sagte langsam "Legenden über den Genossen Tito". Er schlug das Buch auf, glättete die Seite mit der Hand, und ich fragte ob er mit dem Genossen Tito bei den Partisanen war, Papa lächelte, ja, natürlich, (…) Tito, mein Lieber, über den hat man Lieder gesungen, er war über uns, wie die Sonne über den Wolken, und wenn es hieß, Tito hätte etwas befohlen, gab es kein Zurück und es gab auch nichts, was wir nicht ausgeführt hätten. (…) Erzähl mir aber zuerst, wie du mich auf der Flucht gefunden hast, bat ich. Ach, du, mein kleiner Dickkopf, wie du mich gefunden hast, wie du mich gefunden hast, ich habe dich gefunden, weil ich dich gesucht habe…
In einem endlosen Monolog erinnert sich der Erzähler Lukijan in "Heimat, Vergessen" an seine Kindheit im Tito-Staat. Lukijan hieß ursprünglich Ludwig und hat seine deutschen Eltern im Krieg verloren. Er wird von einem kroatischen Serben, einem ehemaligen Partisanenkämpfer adoptiert. Der Adoptivvater liebt Lukijan über alles. Von seiner deutschen Herkunft weiß Lukijan zunächst nichts. Zugleich ist für ihn vieles unklar. Wenn jemand zum Beispiel deutsche Worte benutzt, steigen Bilder in ihm hoch, die er nicht einzuordnen vermag.

Der Vater - ein SS-Mann

Der Familie haftet etwas Unnatürliches an. Mila, die Adoptivmutter, ist nur 13 Jahre älter als Lukijan. Im Krieg wurde sie von serbischen Tschetniks, aber auch von Tito-Partisanen vergewaltigt. Sie ignoriert Lukijans kindliche Bedürfnisse, findet sich nicht in der Mutterrolle wieder, trinkt. Später wird sie ihren Adoptivsohn verführen. Davon geschockt, offenbart ihr Mann Lukijan schließlich seine eigene komplizierte Geschichte. Und deckt dabei auch die wahre Herkunft des geliebten Adoptivkindes auf.
(Roman-Auszug): Papa seufzte, stand wieder auf, drehte sich zum Fenster, breitete die Arme aus und sagte mit dumpfer Stimme: Ich dachte, ich könnte es dir ersparen. Ich schwöre es bei meiner verschiedenen Mutter, ich schwöre es bei ihr hochheilig, auch wenn sie mich verstoßen hat, so wie meine ganze Familie, wegen Mila, weil ich meine Nichte geheiratet habe, obwohl wir nicht blutsverwandt sind, ich denke, das ist jedem klar. Ich wollte es dir ersparen, ich wollte, dass du neue Wurzeln schlägst, das weißt du, und Deine Mutter ist gestorben…
Wer war sie?, presste ich heraus.
Mein lieber Sohn, mein Lukijan, sie war Deutsche aus Švabenbajer…´
Der Adoptivvater verschweigt Lukijan aber, dass sein leiblicher Vater Angehöriger der SS war. Und dass er, der Partisan, diesen Mann gegen Ende des Krieges getötet hat. Es ist eine Geschichte, die mit dem wahren Leben des Autors Ludwig Bauer kaum etwas zu tun hat.
"Der Hauptfigur, der ich meinen eigenen Namen gegeben habe, entstammt einem völlig anderen Milieu als dem, in dem ich aufwuchs. Ich wollte so etwas wie eine alternative literarische Autobiografie schreiben – also eine Antwort auf die Frage finden, was mit mir geschehen wäre, hätten meine Vorfahren ihre Ideale von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit nicht vertreten."

Die "Koffermenschen" modernisierten das Land

Im Gegensatz zu den Büchern von Ludwig Bauer und Slobodan Šnajder liegt Miljenko Jergovićs Roman "Die unerhörte Geschichte meiner Familie" in deutscher Übersetzung vor. Jergović, eine Generation jünger als die beiden anderen Autoren und anders als sie in Bosnien aufgewachsen, erzählt auf 1200 Seiten von seinen deutschen Vorfahren mütterlicherseits.
Banater Schwaben bei der "Worschtkoschtprob" (31.1.2015)
Bis heute gibt es Banater Schwaben, hier bei der "Worschtkoschtprob"© Banater Zeitung / Zoltan Pazmany
Der Urgroßvater des Autors, Karlo Stubler, wandert Ende des 19. Jahrhunderts als Schwabe aus dem rumänischen Banat nach Bosnien ein. Kurz zuvor ist Bosnien aus osmanischer Hand in den Besitz Österreich-Ungarns gelangt. Karlo Stubler ist einer derjenigen, die damals aus allen Teilen der Monarchie nach Bosnien strömen, um das zurückgebliebene Land zu modernisieren. Die Einheimischen nennen solche wie ihn kuferaši, auf Deutsch: "Koffermenschen".
(Miljenko Jergović:) "Das war eine Welt von Beamten, Postangestellten und Eisenbahnern. Heute könnte man sie als Intellektuelle ihrer Zeit betrachten. Die Identität dieser Koffermenschen war sehr unterschiedlich, so unterschiedlich wie die Menschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Deutschen bildeten dabei das Fundament, wobei sie selbst auch eine bunte Gesellschaft darstellten. Allen gemeinsam war eben ihre Eigenschaft, Koffermensch zu sein, das heißt, dass sie nur vorübergehend bleiben wollten. Aber dann wurde daraus ein Jahrhundert."

Ein nationalbewusster Deutscher in Bosnien

Karlo Stubler arbeitet eine Zeitlang als Stationsvorsteher auch im kroatischen Dubrovnik, gegen Ende der Habsburger Herrschaft und auch noch im 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – sprich Jugoslawien. Weil er 1920 einen Streik seiner Arbeiter unterstützt, verliert er seine Stelle und geht wieder nach Bosnien. Er lebt mit seiner Familie in Sarajevo, materiell unterstützt von der Eisenbahnergewerkschaft. Bis zu seinem Tod in den frühen 1950er-Jahren bleibt er ein nationalbewusster Deutscher und spricht mit seinen Kindern ausschließlich Deutsch.
(Roman-Auszug): Niemals richtete er ein kroatisches Wort an sie. Mit den Schwiegersöhnen, die alle drei perfekt Deutsch konnten, sprach er Kroatisch, mit den Enkeln Kroatisch oder Deutsch, aber sie mussten ihn zunächst auf Deutsch anreden. Begrüßten sie ihn auf Kroatisch, stellte sich Opapa taub. Urgroßvater Karlo legte überaus großen Wert auf sein Deutschtum und sein Auserwähltsein als Deutscher, dem mussten sich alle fügen. Aber keiner, er am wenigsten, verbot ihnen zu sein, was sie waren, untereinander konnten sie reden wie sie wollten.
Sein Deutschtum war von der Art, dass es die, die keine Deutschen waren, als Spiegel brauchte, den täglichen Kontakt mit den anderen, sein Deutschtum bestand in komischen Sprachritualen beim sonntäglichen Mittagesseen, im arroganten Ton gegenüber kroatischen Faschisten, die sein Haus durchsuchen wollten.
Denn in seinem Haus hat Karlo Stubler im Zweiten Weltkrieg serbische Nachbarn vor den Ustaša, Hitlers kroatischen Verbündeten, versteckt. Deswegen vertreiben ihn auch später die neuen Machthaber nicht aus dem sozialistischen Jugoslawien.

Wechselnde Identitäten

Über das weitere Schicksal der Stublers entscheidet allerdings nicht allein der Antifaschismus Karlos. Schwerer wiegt der Umstand, dass Karlos Enkel Mladen, der ältere Bruder von Miljenko Jergovićs Mutter Javorka, zur Waffen-SS ging. Mladen fühlte sich nicht als Deutscher, auch wenn Deutsch seine Muttersprache war.
Ursprünglich wollte er sich Titos Partisanen anschließen, doch seine Mutter Olga drängte ihn zu den Deutschen mit dem Argument, er werde bei den ordentlichen Deutschen eher überleben.
Es kam anders: Mladen fiel bei seinem ersten Einsatz in SS-Uniform. Dieses Unglück wirft tiefe Schatten auf das Familienleben. Vor allem belastet Mladens Tod das Verhältnis der Mutter Olga zu ihrer jüngeren, im Krieg geborenen Tochter Javorka – der Mutter von Miljenko Jergović.
(Roman-Auszug:) Unbewusst, wie eine Wölfin, verknüpfte sie die Geburt der Tochter mit dem Tod des ältesten Welpen. Sie hat ihr nie verziehen. Sie konnte dem Mädchen nicht verzeihen, dass es zur Welt kam, sonst wäre sie verrückt geworden, sonst hätte sie ihr schlechtes Gewissen wegen Mladens Tod in tausend Stücke gerissen.
Sie trug die Schuld an diesem Tod.
Die lebende Tochter erinnerte sie daran.
(…). Nicht sie hat Mladen getötet, aber der unsterblichen Überzeugung ihres Herzens zufolge (…) etwas getan, was Mord gleichkommt, vielleicht schlimmer ist: Sie hat sich in sein Leben eingemischt und ihn zu seinen Mördern geschickt. Mladen hätte überlebt, hätte sie seine Entscheidung respektiert.

Ein gebrochenes Bild der Deutschen

In ihren Romanen entwerfen die kroatischen Schriftsteller Miljenko Jergović, Ludwig Bauer und Slobodan Šnajder ein gebrochenes, vielschichtiges Bild der jugoslawischen Deutschen. Das ist neu. Diese Deutschen passen schlecht zum Bild des bösen Nazibesatzers, das im Tito-Staat verbreitet war. Sie widersprechen aber auch einem rein positiven Bild der Deutschen, wie es sich heute vor allem unter den nationalistischen Eliten in Kroatien etabliert hat.
"In Kroatien gibt es heute starke positive Gefühle für den Faschismus des Zweiten Weltkriegs. Man findet Leute, die öffentlich erklären, dass der Faschismus auch seine guten Seiten hatte, dass Hitler fähig gewesen wäre, viele Probleme zu lösen, wie zum Beispiel das aktuelle Problem mit den Flüchtlingen. Ein kroatisches Sportler-Idol sagte unlängst, dass die Nazis sein Vorbild sein, wegen ihrer Disziplin, wegen ihrer Aufopferungsbereitschaft und wegen ihrer Erfolge",
konstatiert Ludwig Bauer. Miljenko Jergović hingegen verzeichnet gerade in jüngster Zeit einen Denkmalsturz der Deutschen. Die neuen Deutschen seien einfach kein Vorbild mehr für die Kroaten:
"Bis vor einigen Jahren herrschte in Kroatien ein idealisiertes Bild von den Deutschen vor. Allerdings ging es dabei nicht um etwas Gutes und Edles, sondern darum, dass die Kroaten die Deutschen als ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg betrachteten. So ging das bis zur Flüchtlingskrise, als Angela Merkel mich persönlich zwar begeisterte, die meisten Kroaten aber zutiefst enttäuschte, weil sie plötzlich den völligen Bruch mit der deutschen Politik des Zweiten Weltkriegs vollzog.
Heute halten die Kroaten viel mehr von Viktor Orbán, von Donald Trump oder von den großen Katholiken in Polen. Seit Verkündung der kroatischen Unabhängigkeit waren die Deutschen noch nie so unpopulär wie in diesem Augenblick."
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