Das böhmische Wunder von Lourdes
1835 wurde Magdalena Kade im katholischen Böhmen geboren. 1900 kam ihre Großnichte Marie zur Welt. Wiederum 65 Jahre später wurde Kerstin Schneider in Bremen geboren. Die Journalistin hat ein Buch über die beiden Frauen geschrieben, die krank wurden, körperlich und psychisch. Zwar sind Dramaturgie und Erzählhaltung nicht ganz stimmig, aber dennoch sind die Familienschicksale beeindruckend zu lesen.
Kerstin Schneider ist mit Magdalena und Marie verwandt, Magdalena war die Tante, Marie die Tochter ihrer Urgroßmutter. Über Marie wurde in der Familie wenig gesprochen und über Magdalena gar nicht. Ihre dramatischen Geschichten waren zu regelrechten Familiengeheim-nissen geworden. Kerstin Schneider hat sie ergründet.
Die Geschichten, die sie erzählt, spielen im sachsisch-böhmischen Grenzgebiet. Im böhmischen Philippsdorf hatte die 30-jährige Magdalena 1865 eine Vision. Eines Nachts sah die Kranke die Mutter Gottes an ihrem Bett stehen und hörte wie sie sagte: "Von jetzt an heilts".
Die Hautkrankheit, an der Magdalena schon lange laboriert hatte, verschwand. Das Wunder, an das man nur zu gern glaubte, wurde immer wieder nacherzählt, die Zeitung berichtete, und schon zwei Wochen später wurde erwogen, am Ort der Erscheinung eine Kirche zu bauen, obwohl Magdalenas Arzt gutachtete:
"Ein wie großer Teil der Wunde in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar wirklich geheilt sei, kann ich nicht angeben, da ich (…) den Hautausschlag zwei bis drei Wochen vorher nicht gesehen habe. (…) Bezüglich der schnellen Veränderung im Kräftezustand (…) erlaube ich mir zu bemerken, dass hierbei Hysterie manches (zu) erklären vermöge. (…) Bei hysterischen und anderen nervenkranken Personen können (…) nach ärztlicher Erfahrung Halluzinationen vorkommen."
Aber vernünftige Erklärungen waren nicht willkommen. Die Erscheinung der Magdalena machte sie zu einem Star, und das armselige Philippsdorf nahm einen gewaltigen Aufschwung.
"Touristen aus aller Welt kamen nach Philippsdorf, das bald den Ruf eines 'böhmischen Lourdes' genoss. Und Magdalena wurde als 'böhmische Bernadette' verehrt."
Auch Magdalenas Familie ging es plötzlich gut. Ihr Bruder eröffnete eine Wirtschaft. Seine jüngste Tochter allerdings sorgte etliche Zeit später für einen Skandal. Sie wurde schwanger von einem Protestanten jenseits der Grenze. Das Paar heiratete schließlich, lebte in Sachsen und bekam etliche Kinder, unter anderen Marie.
Marie war ein Sorgenkind und blieb es. Auch Marie wurde als junge Frau unverheiratet schwanger. Der Kindsvater ließ sie auf üble Weise im Stich, und Marie wurde immer wunderlicher. Mit 28 Jahren landete sie im psychiatrischen Krankenhaus Arnsdorf, in der Irrenanstalt, wie man damals sagte. Und in der Familie wurde über Marie schon bald nicht mehr gesprochen.
Aber Kerstin Schneider erfuhr doch von ihr und wurde neugierig, forschte nach und bekam irgendwann Maries Krankenakte in die Hand. Da stand: "Erblichkeit mütterlicherseits". Das war der erste Hinweis, den die Autorin auf die böhmische Magdalena, die Großtante von Marie erhielt. Und dann fand Schneider verblüffende Parallelen:
"Magdalena war 30 Jahre alt, als sie die 'Mutter Gottes' an ihrem Bett stehen sah. Marie kam mit 28 Jahren nach Arnsdorf, war überzeugt, sie sei Jesus. Magdalena glaubte, die Jungfrau Maria zu sehen, hörte ihre Stimme: 'Mein Kind, von jetzt an heilts.' Ihre Freundin Veronika Kindermann, die bei ihr war in jener Nacht, sah und hörte nichts. Marie litt - so steht es in ihrer Akte - unter 'Sinnestäuschungen’."
Magdalena und Marie waren Außenseiterinnen, gesundheitlich labil und unglücklich. Die katholische Magdalena in Böhmen wird bis heute verehrt. Die ihr zu Ehren erbaute Kirche in Philippsdorf ist immer noch ein beliebter Wallfahrtsort.
Nur zwölf Kilometer davon entfernt kam Magdalenas Großnichte Marie, die sächsische Protestantin, 1942 in Großschweidnitz um, als 'lebensunwert' bezeichnet ließ man sie dort verhungern und gab ihr zudem vermutlich tödliche Medikamente. Sie hat nicht einmal eine ordentliche Grabstätte bekommen.
Kerstin Schneider hat eine bedrückende, eine spannende Geschichte zu erzählen. Dabei spielt die Geschichte von Marie, die den Nazis zum Opfer fiel, auf über 200 Seiten die Hauptrolle. Das ist wegen der zeitgeschichtlichen Bedeutung und der Quellenlage verständlich. Aber ich habe es doch als Mangel empfunden, dass Schneider über die böhmische Magdalena nur quasi im Nachgang auf rund 50 Seiten erzählt.
Neben der Dramaturgie ist auch die Erzählhaltung nicht ganz stimmig: Mal schreibt Schneider wie eine den Fakten verpflichtete Chronistin, mal wie eine Romanautorin, deren Stil wiederum nicht ganz überzeugt. Dennoch ist es beeindruckend zu lesen, welch extrem unterschiedliche Folgen zwei Fälle von Schizophrenie innerhalb einer Familie je nach Ort und Zeit haben konnten.
Rezensiert von Barbara Dobrick
Kerstin Schneider: Maries Akte. Das Geheimnis einer Familie
Weissbooks Frankfurt 2008,
288 Seiten, 19,80 Euro
Die Geschichten, die sie erzählt, spielen im sachsisch-böhmischen Grenzgebiet. Im böhmischen Philippsdorf hatte die 30-jährige Magdalena 1865 eine Vision. Eines Nachts sah die Kranke die Mutter Gottes an ihrem Bett stehen und hörte wie sie sagte: "Von jetzt an heilts".
Die Hautkrankheit, an der Magdalena schon lange laboriert hatte, verschwand. Das Wunder, an das man nur zu gern glaubte, wurde immer wieder nacherzählt, die Zeitung berichtete, und schon zwei Wochen später wurde erwogen, am Ort der Erscheinung eine Kirche zu bauen, obwohl Magdalenas Arzt gutachtete:
"Ein wie großer Teil der Wunde in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar wirklich geheilt sei, kann ich nicht angeben, da ich (…) den Hautausschlag zwei bis drei Wochen vorher nicht gesehen habe. (…) Bezüglich der schnellen Veränderung im Kräftezustand (…) erlaube ich mir zu bemerken, dass hierbei Hysterie manches (zu) erklären vermöge. (…) Bei hysterischen und anderen nervenkranken Personen können (…) nach ärztlicher Erfahrung Halluzinationen vorkommen."
Aber vernünftige Erklärungen waren nicht willkommen. Die Erscheinung der Magdalena machte sie zu einem Star, und das armselige Philippsdorf nahm einen gewaltigen Aufschwung.
"Touristen aus aller Welt kamen nach Philippsdorf, das bald den Ruf eines 'böhmischen Lourdes' genoss. Und Magdalena wurde als 'böhmische Bernadette' verehrt."
Auch Magdalenas Familie ging es plötzlich gut. Ihr Bruder eröffnete eine Wirtschaft. Seine jüngste Tochter allerdings sorgte etliche Zeit später für einen Skandal. Sie wurde schwanger von einem Protestanten jenseits der Grenze. Das Paar heiratete schließlich, lebte in Sachsen und bekam etliche Kinder, unter anderen Marie.
Marie war ein Sorgenkind und blieb es. Auch Marie wurde als junge Frau unverheiratet schwanger. Der Kindsvater ließ sie auf üble Weise im Stich, und Marie wurde immer wunderlicher. Mit 28 Jahren landete sie im psychiatrischen Krankenhaus Arnsdorf, in der Irrenanstalt, wie man damals sagte. Und in der Familie wurde über Marie schon bald nicht mehr gesprochen.
Aber Kerstin Schneider erfuhr doch von ihr und wurde neugierig, forschte nach und bekam irgendwann Maries Krankenakte in die Hand. Da stand: "Erblichkeit mütterlicherseits". Das war der erste Hinweis, den die Autorin auf die böhmische Magdalena, die Großtante von Marie erhielt. Und dann fand Schneider verblüffende Parallelen:
"Magdalena war 30 Jahre alt, als sie die 'Mutter Gottes' an ihrem Bett stehen sah. Marie kam mit 28 Jahren nach Arnsdorf, war überzeugt, sie sei Jesus. Magdalena glaubte, die Jungfrau Maria zu sehen, hörte ihre Stimme: 'Mein Kind, von jetzt an heilts.' Ihre Freundin Veronika Kindermann, die bei ihr war in jener Nacht, sah und hörte nichts. Marie litt - so steht es in ihrer Akte - unter 'Sinnestäuschungen’."
Magdalena und Marie waren Außenseiterinnen, gesundheitlich labil und unglücklich. Die katholische Magdalena in Böhmen wird bis heute verehrt. Die ihr zu Ehren erbaute Kirche in Philippsdorf ist immer noch ein beliebter Wallfahrtsort.
Nur zwölf Kilometer davon entfernt kam Magdalenas Großnichte Marie, die sächsische Protestantin, 1942 in Großschweidnitz um, als 'lebensunwert' bezeichnet ließ man sie dort verhungern und gab ihr zudem vermutlich tödliche Medikamente. Sie hat nicht einmal eine ordentliche Grabstätte bekommen.
Kerstin Schneider hat eine bedrückende, eine spannende Geschichte zu erzählen. Dabei spielt die Geschichte von Marie, die den Nazis zum Opfer fiel, auf über 200 Seiten die Hauptrolle. Das ist wegen der zeitgeschichtlichen Bedeutung und der Quellenlage verständlich. Aber ich habe es doch als Mangel empfunden, dass Schneider über die böhmische Magdalena nur quasi im Nachgang auf rund 50 Seiten erzählt.
Neben der Dramaturgie ist auch die Erzählhaltung nicht ganz stimmig: Mal schreibt Schneider wie eine den Fakten verpflichtete Chronistin, mal wie eine Romanautorin, deren Stil wiederum nicht ganz überzeugt. Dennoch ist es beeindruckend zu lesen, welch extrem unterschiedliche Folgen zwei Fälle von Schizophrenie innerhalb einer Familie je nach Ort und Zeit haben konnten.
Rezensiert von Barbara Dobrick
Kerstin Schneider: Maries Akte. Das Geheimnis einer Familie
Weissbooks Frankfurt 2008,
288 Seiten, 19,80 Euro