Die Erstausstrahlung dieser Sendung war am 1. Mai 2020.
Abhängen im Regenwald
28:25 Minuten
Das Kragenfaultier gibt es weltweit nur in einer bestimmten Region im brasilianischen Regenwald. Weil es vom Aussterben bedroht ist, versuchen Umweltschützer es zu retten. Aber dafür muss es sich erst einmal zeigen.
In voller Montur steht Joziel Quintanilha vor einem Jeep: Dunkelgrüne Gummistiefel, Camouflage-Hose, Mehrzweck-Gürtel. In der linken Hand hält er einen Schleifstein, in der rechten eine Machete. Die Machete ist zu stumpf für die Aufgabe, die sie heute erwartet.
"Es ist sehr schlammig heute, du kannst ausrutschen. Hast du keine Stiefel mitgebracht?"
Wir stehen auf einer Anhöhe. Ein weiter Blick über Palmen, grüne Hügel und Wiesen, hier und da eine Bananenstaude. Zur Rechten eine viel befahrene Bundesstraße.
Das Kragenfaultier hängt versteckt im Baumwipfel
"So we are kind of on a hilltop valley overlooking the highway. We are about up maybe 200 meters elevation. And then we are surrounded by these hills at about a hundred fifty meters above us."
Auch Carlos Ruiz Miranda ist in voller Montur. Mit der Geste eines Fachmanns deutet er über das Tal – er kennt hier jeden Fleck. Seine beige Baseballmütze trägt er eher gegen Regen als gegen Sonne, denn die Wolken sind schwer und dunkelgrau.
"Auf zwei Hügeln hier gibt es noch schönen intakten Atlantischen Regenwald. Die anderen sind vor ungefähr 50 Jahren gerodet worden. Aber jetzt erholt sich die Natur wieder. Wir werden das alles aufforsten."
Carlos ist Mitte 50, Biologe und seit Jahrzehnten im Naturschutz aktiv. Joziel ist sein Mitarbeiter. Gemeinsam arbeiten sie in einem Forschungsprojekt der "Associação Mico-Leão Dourado", der "Vereinigung zum Schutz der Goldenen Löwenäffchen", eine Umweltschutzorganisation im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro.
Der Verein wurde 1992 gegründet. Damals stand das "Goldene Löwenäffchen" kurz vor dem Aussterben. Heute leben wieder mehr als 1000 Exemplare in einem Naturschutzgebiet in der Nähe. Der Erfolg gab Carlos und seinen Mitstreitern Auftrieb, neue Projekte kamen dazu. Heute forsten sie 100 Hektar Land auf und sorgen sich um eine noch weniger bekannte Tierart: das Kragenfaultier.
"All right, so we're going to go after the sloths. No trails. Bushwhacking the forest."
Das Kragenfaultier zählt zur Familie der Dreifingerfaultiere. Es ist sehr selten und extrem scheu. Mit nahezu perfekter Tarnung lebt es in Baumwipfeln und macht seinem Namen alle Ehre: Den Großteil des Tages hängt es herum und bewegt sich kaum.
Wer ein Kragenfaultier finden will, muss also tief hinein in den Regenwald. Vorher bekommt der Reporter noch richtige Matschschuhe. Dann kann es losgehen. Wir fahren nur ein paar Hundert Meter auf eine weitere Anhöhe hinauf und lassen das Auto stehen. Der Morgennebel hat sich in den Hängen verfangen, alles ist voll sattem Grün. In den letzten Wochen hat es so viel geregnet wie seit Jahren nicht.
"Hier siehst du, wie die Pipeline den Wald zerschneidet. Und da hinten ist eine Hochspannungsleitung."
Wo heute Rio de Janeiro ist, war früher dichter Regenwald
Wir sind mitten im Mata Atlantica, im Atlantischen Regenwald – oder besser gesagt: was noch davon übrig ist. Einst zog sich der Wald über Tausende Kilometer und unzählige Klimazonen die brasilianische Küste entlang. Doch das ist lange vorbei. Schon die Portugiesen begannen im 16. Jahrhundert mit der Abholzung des Pau-Brasil, einem Tropenholz, das dem Land seinen Namen gab. Jahrhunderte der Rodung folgten. Die größten Städte des Landes, Rio de Janeiro und Sao Paulo, wurden dort gebaut, wo früher dichter Regenwald stand. Heute sind noch gut zehn Prozent des ursprünglichen Mata Atlantica geblieben. Es sind nur mehr Fragmente.
"Der Atlantische Regenwald von heute hat mit dem von früher nicht mehr viel gemeinsam. Er ist so sehr vom Menschen beeinflusst – mit neuen Pflanzen, mit anderen Pflanzen, dass im Grunde ein komplett neues Ökosystem entstanden ist."
Das Kragenfaultier ist im Mata Atlantica zu Hause, und zwar nur hier. Es ist endemisch. Stirbt es hier aus, weil das vom Menschen gemachte Ökosystem dem Tier nicht ausreicht, dann gibt es seine Art nicht mehr. Dann ist Schluss. Genau das wollen Carlos und seine Kollegen verhindern. Deshalb statten sie "ihren" Faultieren einmal die Woche einen Besuch ab. Zu Wissenschaftszwecken.
Wir biegen ein in das Unterholz. Lianen hängen von den Bäumen, Äste wachsen kreuz und quer. Joziel macht uns mit seiner scharf geschliffenen Machete den Weg frei. Vor 60 Jahren wurde hier noch Kaffee geerntet, Rinder grasten auf den Hügeln. Doch die Natur hat sich einen Teil der Fläche zurückerobert. Und auch die Tiere sind zurück. Für die Naturschützer ein Hoffnungsschimmer.
Auch Renato de Oliveira ist Teil des Teams. Er ist im Wald groß geworden, aber selbst für seine Augen sind Faultiere schwer zu erkennen.
"Bei diesem Wetter verstecken sich die Faultiere besonders, damit sie den Regen nicht abbekommen und zu frieren anfangen."
Vor eineinhalb Jahren begann das Team sich mit dem Kragenfaultier zu beschäftigen. Die Idee: die Tiere mit GPS-Sendern ausstatten und verstehen, wie und wann sie sich im Wald bewegen.
"Es war unglaublich schwierig. Wir haben damals mit sechs oder sieben Personen den Wald durchkämmt, von sechs Uhr morgen bis sieben Uhr abends. Wir haben 56 Tage gebraucht, um acht Faultiere zu finden."
Weit und breit kein Faultier
Dank der Vorarbeit von damals haben wir es heute einfacher. Wir laufen querfeldein. Joziel gibt den Weg vor. Er hält eine Antenne nach oben und trägt Kopfhörer, um seinen Hals baumelt ein Verstärker.
"Ich folge den Pieps-Tönen. Je lauter der Ton, desto näher befinden wir uns am Sender. Manchmal ist das Signal aber nicht ganz eindeutig und schickt mich ganz schön im Kreis herum. Dann laufe ich nach vorne, zur Seite, wieder zurück und so weiter. Bis ich den besten Winkel habe, um das Faultier zu finden."
Was Joziel da macht, ist sogenannte Nahfeldtelemetrie. Die Faultiere tragen einen kleinen Rucksack mit GPS-Sender, der ihre Bewegungen aufzeichnet. Die Daten via Satellit zu übertragen, wäre für das kleine Forscherteam aber viel zu teuer. Also suchen sie das Tier einmal in der Woche und laden die Daten aus nächster Nähe herunter. Das ist mühsam und erfordert viel Geduld. Vor einem Baum schlägt das Gerät aus. Jetzt beginnt die eigentliche Suche.
"Wir haben jetzt eines gefunden. Hier im Umkreis von 30 Metern muss es sein. Jetzt müssen wir die Baumkronen absuchen. Die Telemetrie hilft uns da jetzt nicht mehr, jetzt brauchen wir Geduld und ein Fernglas."
Das dichte Blattwerk ist undurchdringbar. Carlos sucht mehrmals den Baum ab, aber außer Ästen und Lianen ist nichts zu erkennen.
Es hilft alles nichts. Weit und breit kein Faultier. Joziel deutet mit dem Arm nach vorne. Dort vermutet er ein anderes Exemplar. Wir gehen also weiter, tiefer in den Wald hinein.
"Schau beim Laufen am besten zwei Meter vor dir auf den Boden. Wenn du auf die Füße schaust, siehst du die Schlangen nicht rechtzeitig. Und dann hast du ein Problem. Und vertraue auf deine Reflexe. Damit du eine Schlange erkennst, wenn sie vor dir ist."
Mühsam geht es einen steilen, rutschigen Abhang hinauf. Auch hier, mitten im Wald, ist die Bundesstraße deutlich zu hören. Sie ist schon heute für die meisten Tiere eine unüberwindbare Grenze. Und wird trotzdem gerade vierspurig ausgebaut. Wieder schlägt das Gerät aus, wieder läuft Joziel in Ellipsen auf und ab. Diesmal wird Carlos durch das Fernglas fündig.
"Es ist ein Haarballen, aber du kannst sehen, wie es sitzt, mit den Armen an der Seite. Der Kopf ist von uns weggedreht. Es sieht aus wie ein Haufen welker Blätter, aber wenn du genauer schaust, siehst du das Fell und auch die Krallen. Es kaut sogar. Es sitzt da und frisst."
Ich schaue auch durch das Fernglas nach oben und sehe nichts als grüne und braune Flecken. Aber dann, nach mehreren Anläufen, kann ich etwas erkennen.
Bolsonaro sind Umweltschützer ein Dorn im Auge
"Da ist dieser braune Ball zwischen den Blättern." "Und daneben soll es sein?" "Nein. Der braune Ball ist das Faultier." "Der braune Ball ist das Faultier? Das ist aber groß."
"Ja. Du würdest nur diese Form nicht erwarten. Du erwartest ein Tier mit Rücken, Beinen, wie ein Hund oder so was. Aber das Faultier hat sich eingekugelt. Die Gelenke sind so flexibel, es kann ziemlich komisch in der Gegend herumhängen."
"Das ist verrückt. Ich habe die ganze Zeit darauf gestarrt und hätte niemals gedacht, dass das ein Tier ist."
Ganz oben in der Baumkrone sitzt es, bestimmt 20 Meter von uns entfernt. Es gelingt mir sogar, ein Foto durch das Fernglas zu machen. Aber außer einem braunen Fleck umgeben von Blättern ist darauf wenig zu erkennen. Carlos tritt näher an den Baum heran. Von hier kann er mit einem iPad die Bewegungsdaten des Faultiers herunterladen. Ein Jahr Datenmaterial ist bislang zusammen gekommen.
"Wir fragen uns, wie Faultiere von Menschen gemachte Barrieren überwinden – vor allem lineare Barrieren, die wir für unsere Wirtschaft brauchen, wie Stromtrassen, Pipelines, Straßen oder Abwasserkanäle. Die Antwort ist ziemlich leicht: Wenn wir in regelmäßigen Abständen bepflanzte Grünbrücken anlegen, dann können die Tiere die Barrieren überqueren."
Was einfach klingt, bedeutet oft monatelange Überzeugungsarbeit - auch heute: Nach dem Ausflug in den Wald hat Carlos ein Treffen mit dem Unternehmen, das die Bundesstraße ausbaut. Er will sie davon überzeugen, mehrere Wildtierbrücken anzulegen.
"Es ist schon fast so etwas wie kognitive Dissonanz bei diesen Leuten. Wenn du dich vor dem Meeting informell mit ihnen unterhälst, dann erzählen sie dir von dieser Natursendung, die sie gesehen haben. Sie lieben National Geographic. Und wenn man sich dann an den Tisch setzt, dann ist alles vergessen. Dann haben sie ihre Unternehmerperspektive. Ihr Job ist alles, was zählt."
Es ist paradox, denn Carlos bleibt trotzdem abhängig von der Privatwirtschaft. Denn Präsident Bolsonaro ist der Umweltschutz ein Dorn im Auge. Er leugnet den Klimawandel, hat Mittel für die Forschung zusammengestrichen und gibt Naturschutzgebiete zur Rodung frei. Im Umweltministerium sitzen Vertreter der Agrar-Lobby. Carlos und seinen Kollegen bleiben zwei Wege: Mit Unternehmen kooperieren oder Unterstützer im Ausland suchen. Oder beides.
Faultiere sind nicht nur faul, sondern auch friedlich
1400 Kilometer weiter nördlich. Es ist später Abend, aber immer noch schwülwarm. Gastón Giné sitzt im Foyer eines Hostels. Er ist sichtlich erschöpft – den ganzen Tag war er im Regenwald, auf der Suche nach Kragenfaultieren.
Gastón – Mitte 40, lange Haare, Vollbart – ist einer der bekanntesten Faultierforscher des Landes. Hier, in Praia do Forte im Bundesstaat Bahia, hat er vor drei Tagen für ein neues Forschungsprojekt mit der Suche nach Faultieren begonnen.
"Es war toll. Unsere Erwartungen wurden übertroffen. Ich habe viele Jahre mit Kragenfaultieren im Süden von Bahia gearbeitet. Normalerweise braucht es drei bis fünf Tage, bis man eines findet. Hier haben wir am ersten Tag sieben gesichtet. Sieben! Es ist ein spektakulärer Ort, es gibt eine so hohe Dichte an Tieren. Für uns ist das optimal. Ich bin überrascht."
Kragenfaultiere stehen auf der Roten Liste bedrohter Tierarten. Vier verschiedene Populationen gibt es noch, verteilt über die Bundesstaaten Rio de Janeiro, Espirito Santo und Bahia. Sie sind seit Jahrtausenden voneinander getrennt, selbst ihre Genetik unterscheidet sich deutlich. Die Population hier im nördlichen Bahia wurde noch nie wissenschaftlich untersucht – bis jetzt. Mit seinem neuen Forschungsprojekt wird Gastón das ändern. Es soll eine Langzeitbeobachtung von Kragenfaultieren werden, im besten Fall über mehrere Jahre.
"Ich mache mir Gedanken über den Schutz des Waldes. Die Dichte an Faultieren kann auch daher kommen, dass die Waldflächen kleiner geworden sind und die Tiere jetzt in den verbliebenen Flächen Zuflucht suchen."
Gastóns Arbeitstag ist noch nicht ganz zu Ende. Er soll für die Gäste des Hostels, in dem auch seine Forschergruppe einquartiert ist, noch einen Vortrag über Faultiere halten. Aber weil kaum Gäste da sind, hören hauptsächlich seine eigenen Mitarbeiter zu. Der Beamer wirft das Foto eines grinsenden Faultiers an die Wand. Gastón grinst ebenfalls.
"Die Lethargie, die langsamen Bewegungen sind charakteristisch, klar. Aber das ist die Folge der Ernährung: Kragenfaultiere essen ausschließlich Blätter. Die Folge sind ein niedriger Energiehaushalt und ein niedriger Kreislauf. Deshalb haben sie einen so kleinen Aktionsradius – und einen so friedlichen Lebensstil."
Gastón hat ein Faible für Tiere, die sich ausschließlich von Blättern ernähren. Weltweit existieren nur wenige solcher "Blattfresser", im Mata Atlantica gibt es gleich mehrere davon. Brüllaffen zum Beispiel. Oder eben Kragenfaultiere.
"Wenn man Wälder abholzt, werden die Tiere voneinander isoliert. Für Faultiere ist das ein großes Problem, sie können nicht einfach so größere Entfernungen zurücklegen - auch das eine Folge des Energiehaushalts. Wenn sie sich auf dem Boden fortbewegen, sind sie sehr unbeholfen und langsam. Das macht sie verletzlich für ihre natürlichen Feinde."
Tummeln sich zu viele Tiere in dem Wald, der noch übrig ist?
Der nächste Morgen. Gastón und seine Mitstreiter sitzen beim Frühstück. Es gibt Toast und frische Früchte. Zehn Köpfe zählt das Team – Biologen, Mediziner, Studierende. Gleich brechen sie auf ins Feld. Ein neuer Tag mit hoffentlich vielen neuen Faultieren.
Organisiert wird das Forschungsprojekt vom Instituto Tamanduá, dem Institut "Ameisenbär". 2005 wurde die Einrichtung gegründet und erforschte eigentlich zunächst – ganz dem Namen nach – Ameisenbären. Später kamen Gürteltiere und jetzt – ganz neu – auch Faultiere dazu. Die finanziellen Mittel dafür kommen heute, auch hier, hauptsächlich von Unternehmen und aus dem Ausland.
Über sandige Wege und an Palmenhainen vorbei geht es hinein in das Reservat von Sapiringa, ein Naturschutzgebiet nur wenige Kilometer von der Atlantikküste entfernt.
Fabio Lima kennt sich hier bestens aus. Seit 23 Jahren lebt und arbeitet er hier und ist fast jeden Tag im Wald – meistens, wie heute, in der grün-braunen Kluft des Rangers.
"Der Wald hier ist geschützt, es gibt nur sehr wenige Eingriffe in den Lebensraum. Flora und Fauna sind sehr vielfältig, mit endemischen und vom Aussterben bedrohten Pflanzen und auch Tierarten. Es gibt Ozelote, Borstenbaumstachler, Kragenfaultiere, sehr viele Vögel, Schlangen – Anakondas zum Beispiel oder die Boa Constrictor. Das ist natürlich auch für die Wissenschaft sehr interessant."
Fabio kümmert sich in der Gemeinde von Mata de São João, zu der auch das Reservat gehört, um den Umweltschutz. Das Areal, das er betreut, war früher Weideland. Auch hier hat sich die Natur etwas zurückgeholt, auch hier haben sich wieder Faultiere angesiedelt – zum Wohle des Waldes: Faultiere sorgen dank ihres Faibles für Blätter für einen natürlichen Beschnitt der Bäume. Und ihre Ausscheidungen sind bester Dünger für den Boden.
"Ich bin sehr glücklich darüber, mit Faultieren zu arbeiten. Sie sind ein so wichtiger Teil des Ökosystems. Das Faultier ist ein Gärtner des Waldes, ein charismatisches Tier, aber bislang ziemlich unbekannt. Je mehr wir über das Tier wissen, desto besser können wir es schützen. Wir versuchen, ein Tier sichtbar zu machen, das sich normalerweise lieber versteckt – ohne dass wir seinen Lebensraum beschädigen."
Doch die Realität ist weniger romantisch. Im Halbstundentakt rasen Touristen in Badehosen und Bikinis auf Quads mitten durch das Reservat. Erlebnistour im Regenwald.
Die Forschergruppe lässt sich von dem Rummel nicht beeindrucken und macht sich auf die Suche. Der Wald ist leicht begehbar, wegen des sandigen Bodens gibt es kaum Unterholz. Schon nach einer Stunde Suche sichten die Forscher das erste Faultier – ganz deutlich zu sehen, 15 Meter hoch, in der Krone eines noch jungen Baumes.
"Ich habe ein Faultier gefunden. Und jetzt überlege ich eine Strategie, wie ich es fangen kann, ohne dass ich das Tier oder mich selbst gefährde."
Cacao ist einer von zwei Baumkletterern im Team. Er ist schlank und drahtig, ihm traut man es zu, ein guter Kletterer zu sein. Aber der Stamm des Baumes, in dem das Faultier hängt, hat einen Durchmesser von maximal fünfzehn Zentimetern und biegt sich gefährlich zur Seite.
"Das Hochklettern ist nicht das Problem. Ich arbeite seit 15 Jahren in dem Bereich, ich bin es gewohnt, auf Bäume zu klettern. Aber das Fangen selbst ist schwierig. Es gibt Bienen, Ameisen, Gestrüpp, ein Ast kann brechen. Also es gibt schon ein Risiko, aber wir sind gut vorbereitet."
Cacao befestigt eine Schnur an einem Stein und spannt ihn in den Riemen einer großen Steinschleuder. Zielsicher fliegt der Stein durch eine Astgabel in der Baumkrone. Mit der Schnur kann er jetzt ein Sicherheitsseil nach oben ziehen.
Die Faultierdame kriegt einen GPS-Sender
Cacao hängt sich den Karabiner in seinen Gürtel und zieht sich am Stamm hoch. Wie eine Katze springt er zwischen drei Bäumen hin und her. Nach fünfzehn Sekunden ist er oben in der Baumkrone, nach weiteren fünfzehn Sekunden hat er das Faultier in einen großen Sack gehüllt, zugebunden und an einem Seil heruntergelassen. Das Tier wird sofort mit einer Spritze betäubt.
"Ein Weibchen und noch ziemlich klein. Sie wiegt 3,4 Kilo. Eine Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ab drei Kilo nennt man sie erwachsen. Sie kann also schon einen GPS-Sender tragen, aber sie ist noch in der Wachstumsphase."
200 Meter entfernt, geschützt von dichten Hecken, hat das Team eine kleine mobile Forschungsstation aufgebaut. Ganz hilflos liegt das Faultier auf dem Tisch: Vielleicht 70 Zentimeter lang, hellbraunes, zotteliges Fell, eine schwarze Stupsnase, lange Pranken mit spitzen, kräftigen Krallen und ein im Vergleich winziger Kopf. Es scheint zu lächeln, aber schläft natürlich tief und fest.
Die Forscher messen Herz- und Atemfrequenz, entnehmen Stuhl- und Blutproben und setzen dem Tier einen kleinen Rucksack mit GPS-Sender auf. Dabei wird nur geflüstert.
"Eines Tages hat ein guter Freund von mir angefangen, mit Faultieren zu arbeiten. Er hat mich mit ins Feld genommen, ein viel schönerer Wald als hier war das."
Paloma Marques Santos, eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, sammelt im Fell des Faultiers kleine Schmetterlinge und verpackt sie in Reagenzgläser.
"Wir haben damals vier Faultiere gefunden. Auch ich habe es geschafft, welche zu erkennen. Selbst ohne den professionellen Blick dafür zu haben. Von da an habe ich zu Faultieren geforscht, es hat mich begeistert. Die Lebensform des Tieres, wie bedroht es ist. Ja, es war Liebe auf den ersten Blick."
2012 war das. Seitdem ist Paloma den Faultieren treu geblieben – sie hat sogar dazu promoviert. Ihr besonderes Interesse gilt den Motten, Schmetterlingen und Algen im Fell des Faultiers. In jedem Faultier lebt ein ganzes Ökosystem, sagt sie. Wahrscheinlich ist es eine symbiotische Verbindung: Ein Habitat für die Insekten, die im Gegenzug Nährstoffe an das Faultier abgeben.
Die junge Dame, die sie gerade untersucht haben, wacht langsam wieder auf. Erst bewegt sie die schweren Lider, dann dreht sie träge den Kopf hin und her. Paloma setzt sie in eine kleine Holzbox im Schatten. Dort kann das Tier in Ruhe zu sich kommen.
Die Zeiten für Umweltschutz sind düster in Brasilien
Brasilien ist eines der Länder mit der größten Artenvielfalt weltweit. Doch für Umweltschützer und Forscher könnten die Zeiten schlechter kaum sein. Als im Sommer 2019 im Amazonas riesige Waldflächen brannten, erkannte die Weltöffentlichkeit das Ausmaß der Katastrophe. Wie hat sich die Situation für das Forscherteam entwickelt?
"Hier in Brasilien? Meine Güte! Die Lage ist extrem schwierig. Wenn du zu Umweltfragen Forschung machst, hast du kaum Chancen. Wir haben eine Regierung, die Umweltschutz ablehnt. Eine Regierung, die unsere Arbeit verachtet. Eine Regierung, die herumerzählt, dass wir faul sind. In Wirklichkeit schützen wir die Lebensqualität der Menschen, wenn wir den Wald schützen. Aber das versteht keiner."
Die Qualität der Forschung sei noch immer hoch, erzählt Paloma. Aus ganz Lateinamerika schaue man nach Brasilien. Aber was nütze das, ohne Forschungsgelder, ohne Jobs an den Universitäten? Manche Kollegen arbeiten mittlerweile ehrenamtlich, sie alle sind auf Freiwillige und Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Paloma will trotzdem in ihrer Heimat bleiben.
"Wir werden für die Forschung kämpfen. Ich werde weitermachen hier in Brasilien, kämpfen für was, was ich für richtig halte. Ich will etwas beitragen zu Umweltschutz und Artenvielfalt. Das ist meine Leidenschaft. Wir lassen uns doch von einer Regierung nicht den Willen nehmen, die Gesellschaft zu verändern."
Die kleine Faultierdame ist inzwischen wieder bei Kräften. Sie hat sich am Rand der Holzkiste festgekrallt und dreht ungeduldig ihren Kopf hin- und her. Die Forscher tragen die Kiste zu dem Baum, an dem sie das Tier gefangen haben, und heben es behutsam auf einen Ast. Sechs Monate lang wird es über den GPS-Sender Daten senden.
Mit langsamen, aber zielstrebigen Bewegungen klettert das Faultier nach oben. Es dauert nicht lange, da hat es sich wieder eingekringelt, oben im Baumwipfel. Nach der ganzen Aufregung wird es sich, wahrscheinlich, erst einmal erholen müssen.
88 Faultierarten sind schon ausgestorben
Zurück im Hostel. Ein langer Forschertag geht zu Ende. Drei Wochen lang wird das Team um den Forscher Gastón Giné Kragenfaultiere suchen und mit Sendern ausstatten. Mehrere Jahre lang wollen sie Daten sammeln und auswerten, dann werden sie über die Population hier einiges sagen können.
"Es ist ein lebender Dinosaurier. Es ist widerstandsfähig, ein Guerillero der Evolution, es hat bisher alles überstanden. 88 Faultierarten sind schon ausgestorben, und das Kragenfaultier gibt es immer noch."
Aber wie lange noch? Das komme ganz darauf an, ob der Mensch mit der Natur zu leben lernt, sagt Gastón noch hinterher. Die Zeichen dafür stehen momentan schlecht.
Das Kragenfaultier hat derweil eine andere Strategie: Im Baumwipfel hängen und abwarten. Der Spuk wird schon vorüber gehen.