Das Buch, das das Schweigen brach
In ihrer großen Kollektivdiagnose gaben uns Alexander und Margarete Mitscherlich in den 60er-Jahren Deutungsmöglichkeit für den moralischen Zustand der Bundesrepublik. Ihr Verdienst war es, dass so endlich die deutsche Schuld zur Sprache kommen konnte, meint der Schriftsteller Günter Franzen.
1961 schauten wir uns im Klassenverband Erwin Leisers Dokumentarfilm "Mein Kampf" an, die Geschichte des Nationalsozialismus von den Anfängen bis zum Untergang. In einer Szene war die Erschießung nackter Menschen zu sehen, Frauen, Kinder, Greise, die nach ihrer Exekution lautlos in ein Erdloch rutschten.
Die Verstörung darüber, dass die Mörder Wehrmachtsuniformen trugen, also zweifellos Deutsche waren, hielt weit über den Kinobesuch hinaus an und wollte nicht vergehen, weil in meiner Umgebung niemand bereit oder fähig war, einem Vierzehnjährigen den Wahrheitsgehalt dieser ungeheuerlichen Bilder zu bestätigen.
Sechs Jahre später erschien das Buch, das das Schweigen brach, auf das ich und die Angehörigen meiner Generation gewartet hatten: "Die Unfähigkeit zu trauern". Seine Autoren Alexander und Margarete Mitscherlich treten als behandelnde Ärzte auf, die mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien eine Erklärung für die destruktive Verirrung ihrer Landsleute suchten.
In ihrer Kollektivdiagnose fragen die angesehenen Psychoanalytiker nach der Entstehung und Ausbreitung des Rassenwahns, der Etablierung eines blinden Gefolgschaftssystems und der Verarbeitung der nachfolgenden Katastrophe durch die Deutschen.
Das Ausbleiben einer nennenswerten gesellschaftlichen Trauerreaktion, die völlige Einbuße der Fähigkeit sich in das Leid und die Qualen der vernichteten jüdischen Mitbürger einzufühlen, beruhen nach der Grundthese der Veröffentlichung auf der Identifizierung der Hitleranhänger mit dem als omnipotent fantasierten Führer, dem es nach der Machtübernahme durch die NSDAP gelang, die kollektive Erlösungssehnsucht in seiner Person zu bündeln.
Die im Selbstmord Hitlers kulminierende vollständige Niederlage hätte zu einer schlagartigen Entwertung des verlorenen Ideals geführt, ein Trauma, dem mit der Derealisierung und Leugnung der Vergangenheit begegnet wurde.
Aus heutiger Sicht wird man dem Text der Mitscherlichs an diesem Punkt ihrer Argumentation sicher eine gewisse Vagheit vorhalten könnten. Ging es bei der festgestellten Unfähigkeit zu trauern um den Verlust des vormals geliebten Führers, die jüdischen Opfer der deutschen Gewalt oder die deutschen Opfer des von ihnen angezettelten Krieges?
Ebenso unklar ist die Übertragung des an ein individuelles Erleben gebundenen psychoanalytischen Terminus der Trauerarbeit auf ein gesellschaftliches Phänomen. Was ist kollektive Trauerarbeit und wie sollte sie sich nach Auffassung der Autoren ausdrücken? Man kann diese mangelnde begriffliche und methodische Akkuratesse nachträglich bedauern, das schmälert die Bedeutung des Buches im Kontext seiner Zeit nicht im Geringsten.
Das Verdienst der Mitscherlichs besteht darin, dass sie, ausgestattet mit der Autorität des von den Nazis ins Exil gejagten Gründungsvaters der Psychoanalyse, jenem Teil der deutschen Öffentlichkeit, dem der Umgang der schweigenden Mehrheit mit der Vergangenheit unerträglich schien, eine Deutungsmöglichkeit für den moralischen Zustand der Bundesrepublik an die Hand gaben: So kam die Schuld endlich zur Sprache.
"Die Suche nach der Wahrheit über uns selbst, also die geduldige Selbsterforschung, ist das einzig verlässliche Mittel, um uns Glaubwürdigkeit zu verschaffen und uns zugleich gegen die Inhumanitäten zu wappnen, die uns unter der dünnen Decke der Zivilisation drohen." Mit diesen Worten umriss Alexander Mitscherlich 1960 die Aufgabe der Psychoanalyse in der demokratischen Zivilgesellschaft.
Da die Inhumanität ihr Fortwirken weltweit tagtäglich unter Beweis stellt, haben diese Worte nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u.a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main, 2000. "Zeit des Zorns. Tagebuch einer Trauer", Freiburg 2011.
Die Verstörung darüber, dass die Mörder Wehrmachtsuniformen trugen, also zweifellos Deutsche waren, hielt weit über den Kinobesuch hinaus an und wollte nicht vergehen, weil in meiner Umgebung niemand bereit oder fähig war, einem Vierzehnjährigen den Wahrheitsgehalt dieser ungeheuerlichen Bilder zu bestätigen.
Sechs Jahre später erschien das Buch, das das Schweigen brach, auf das ich und die Angehörigen meiner Generation gewartet hatten: "Die Unfähigkeit zu trauern". Seine Autoren Alexander und Margarete Mitscherlich treten als behandelnde Ärzte auf, die mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien eine Erklärung für die destruktive Verirrung ihrer Landsleute suchten.
In ihrer Kollektivdiagnose fragen die angesehenen Psychoanalytiker nach der Entstehung und Ausbreitung des Rassenwahns, der Etablierung eines blinden Gefolgschaftssystems und der Verarbeitung der nachfolgenden Katastrophe durch die Deutschen.
Das Ausbleiben einer nennenswerten gesellschaftlichen Trauerreaktion, die völlige Einbuße der Fähigkeit sich in das Leid und die Qualen der vernichteten jüdischen Mitbürger einzufühlen, beruhen nach der Grundthese der Veröffentlichung auf der Identifizierung der Hitleranhänger mit dem als omnipotent fantasierten Führer, dem es nach der Machtübernahme durch die NSDAP gelang, die kollektive Erlösungssehnsucht in seiner Person zu bündeln.
Die im Selbstmord Hitlers kulminierende vollständige Niederlage hätte zu einer schlagartigen Entwertung des verlorenen Ideals geführt, ein Trauma, dem mit der Derealisierung und Leugnung der Vergangenheit begegnet wurde.
Aus heutiger Sicht wird man dem Text der Mitscherlichs an diesem Punkt ihrer Argumentation sicher eine gewisse Vagheit vorhalten könnten. Ging es bei der festgestellten Unfähigkeit zu trauern um den Verlust des vormals geliebten Führers, die jüdischen Opfer der deutschen Gewalt oder die deutschen Opfer des von ihnen angezettelten Krieges?
Ebenso unklar ist die Übertragung des an ein individuelles Erleben gebundenen psychoanalytischen Terminus der Trauerarbeit auf ein gesellschaftliches Phänomen. Was ist kollektive Trauerarbeit und wie sollte sie sich nach Auffassung der Autoren ausdrücken? Man kann diese mangelnde begriffliche und methodische Akkuratesse nachträglich bedauern, das schmälert die Bedeutung des Buches im Kontext seiner Zeit nicht im Geringsten.
Das Verdienst der Mitscherlichs besteht darin, dass sie, ausgestattet mit der Autorität des von den Nazis ins Exil gejagten Gründungsvaters der Psychoanalyse, jenem Teil der deutschen Öffentlichkeit, dem der Umgang der schweigenden Mehrheit mit der Vergangenheit unerträglich schien, eine Deutungsmöglichkeit für den moralischen Zustand der Bundesrepublik an die Hand gaben: So kam die Schuld endlich zur Sprache.
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