Das Buch von Blanche und Marie

Rezensiert von Gertrud Lehnert |
Auch Per Olov Enquists neuer Roman widmet sich historischen Gestalten. Fast erwartet man das schon von dem bedeutenden, 1934 geborenen schwedischen Autor, dessen Spezialität biographische Romane sind.
So lässt er beispielsweise in "Der Besuch des Leibarztes" den berühmten deutschen Arzt und Aufklärer Struensee, der im 18. Jahrhundert an den dänischen Hof kam, lebendig werden, oder in "Der fünfte Winter des Magnetiseurs" den im 19. Jahrhundert berühmten Arzt und Magnetiseur Mesmer. Grenzsituationen und Randfiguren bilden den roten Faden von Enquists Werk, zu dem auch ein Drehbuch über seinen norwegischen Schriftstellerkollegen Knut Hamsun, ein Kinderbuch ("Großvater und die Wölfe") sowie Essays zählen.

"Das Buch von Blanche und Marie" erzählt nicht die, sondern eine mögliche Geschichte zweier Frauen aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Eine davon ist berühmt: die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867-1934), die andere ist eher unbekannt: Blanche Wittman, die angebliche Lieblingspatientin des berühmten Pariser Nervenarztes Jean Martin Charcot , bei dem wiederum Sigmund Freud die Behandlung der Hysterie studierte. Die beiden Frauen kannten einander vermutlich nicht; sie hätten auch kaum gesellschaftliche oder berufliche Berührungspunkte gehabt: Die eine war - damals noch äußerst ungewöhnlich - Subjekt der Wissenschaft, Forscherin. Die andere hatte die damals übliche weibliche Rolle: sie war Objekt der Wissenschaft, Erforschte.

Was haben diese beiden Frauen gemeinsam? Warum erfindet Enquist eine Geschichte, in der sie entgegen jeder Wahrscheinlichkeit nicht nur zusammenarbeiten, sondern darüber hinaus noch enge Freundinnen werden? Nach vielen Jahren als Patientin in der Pariser Salpêtrière arbeitet Blanche Wittman im Roman als Assistentin Marie Curies, deren Mann Pierre 1906 durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Die damals noch üblicherweise ungeschützte Arbeit mit der radioaktiven Strahlung schädigt sie so sehr, dass ihr beide Beine und ein Arm amputiert werden müssen. Die historische Marie Curie wurde übrigens ebenfalls krank von dieser Arbeit, jedoch nicht auf so spektakuläre Weise.

Was die beiden Frauen verbindet, sind die Themen Wissenschaft und Liebe. Marie Curie und Blanche Wittman sind auf der Suche nach der Wahrheit über die Liebe, eine Wahrheit, die sich entzieht, die - vielleicht - gelebt, aber niemals erklärt werden kann. Jedoch, so heißt es im Roman, wer wären wir, wenn wir es nicht immer wieder versuchten?

Blanche Wittman schreibt eine Art Tagebuch. Sie schreibt über ihre Liebe zu Charcot. Sie schreibt über Maries heimliche Liebe zu ihrem Kollegen Langevin, die in die Katastrophe mündet, als sie von dessen Ehefrau entdeckt und öffentlich gemacht wird. Und sie schreibt über das ästhetische Wunder der radioaktiven Strahlung: blau leuchtend wie eine überirdische Erscheinung, wird die Krankheit und Tod bringende Radioaktivität zur Metapher für das Faszinosum der Liebe. Diese Liebe hat naturgemäß nichts Gefälliges, sie überkommt den Menschen wie eine Naturgewalt und bringt unsichtbare Seiten an ihm zum Vorschein.

"Das Buch von Blanche und Marie" ist ein kurzes, intensives Buch über Liebe, Krankheit, Wissenschaft und Kunst. Was sich wie eine merkwürdige Zusammenstellung von Themen anhört, gewinnt seine Evidenz im Erzählen. Heraus kommt ein Suchbuch, das keine Antworten gibt, sondern Möglichkeiten entwirft, widerständig, heterogen und von großer Konsequenz: ein besonderes Buch über die Liebe.

Per Olov Enquist
Das Buch von Blanche und Marie
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
München (Hanser) 2005, 239 S. 19,90 Euro