Das Bürgertum - vielgeschmähtes Rückgrat

Von Josef Schmid |
Die Deutschen werden normal. Die Moralapostel antinationaler Dauernötigung sehen ohnmächtig einem Stimmungswechsel zu. Die Feiermeilen in allen Städten und Dörfern sind kein politischer Sonderweg in eine Abseitsstellung. Vielmehr springt etwas vom Fußballfeld über auf die Gesellschaft, was der kranke Mann an Rhein und Spree dringend nötig hat.
Seit der Wende ist eine Altersgruppe von 15- bis 25-Jährigen herangewachsen, die sich dem angeordneten Verbot nationaler Identifikation entschlägt. Dazu ist es auch höchste Zeit, denn nur so wird das deutsche Gemüt für alle Teile der Welt anschlussfähig und erträglich. Auch in einer globalen Welt bleiben Herkunft und Zugehörigkeit die Orientierungspunkte. Und gerade diese junge Generation wird sich in der ganzen Welt umsehen und umtun müssen wie keine zuvor.
Das Menschenmeer in schwarz-rot-gold führt uns vor Augen, dass wir seit der Bürgerlichen Revolution von 1848 ein Symbol gerettet haben, mit dem wir auch durch das 21. Jahrhundert hindurch Flagge zeigen und Farbe bekennen können. Das Schwarz-rot-gold stammt von der Uniform der Freischärler der Befreiungskriege und wurde dann von der bürgerlichen Bewegung ins Frankfurter Paulskirchen-Parlament getragen. Sein bloßer Anblick sollte in uns immer zwei Fragen aufwerfen: "Wovon haben wir uns zu befreien?" und "Was ist aus dem kämpferischen Bürgertum geworden?"

Auf die erste Frage gibt es inzwischen Antworten und Anschauungsunterricht genug; die Quintessenz wäre, dass Deutschland sich von vergangenheitsfixierten Handlungslähmungen befreien muss, wenn es seiner Rolle gerecht werden will. Doch was ist zu sagen auf eine Frage nach dem Bürgertum?

Die Bürgerliche Gesellschaft macht jeden zum Bürger, weil sie ihn mit Rechten ausstattet, die ihn dazu machen. Indem die Bürgerliche Gesellschaft eine Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft wird, bringt sie in jede Ständeordnung, in jede Hierarchie Bewegung. Die traditionellen Kennzeichen des Bürgertums sind Besitz und Bildung. Doch gerade in Bezug auf diese beiden ist "Wandel" ein zu harmloses Wort. Sie existieren wie in einem Erdbebengebiet: Besitz wird mühsam aufgebaut, vernichtet, umgeschichtet; Bildung veraltet, wird wertlos, muss neu erarbeitet werden. Die Computer-Revolution machte uns schon zu Zeugen eines solchen Vorgangs, wo nichts bestehen bleibt. Den Bildungsbegriff dürfte es am schwersten getroffen haben. Ein Forschungspräsident sprach vom Eintritt in eine "Kultur des Vergessens".

So wird das Schicksal des Bürgertums in seiner eigenen Gesellschaft deutlich. Glanz und Elend wechseln rasch. Es wird getreten, gestoßen, enteignet wie nach Inflation und Kriegen, und baut wieder auf.

Wenn man schlicht fragt, wer denn zum Bürgertum gehört, dann ist es schnell gesagt; da ist einmal die Kerntruppe der Selbständigen, der Klein- und Mittelbetriebe; dann sind es die bildungsnahen Schichten oder die verwaltende, leitende, lehrende und heilende Klasse, die mit ihren Kindern das Gros der Gymnasiasten und Studierenden stellt. Dann sind nicht zu vergessen "die braven kleinen Leute", die nichts anderes tun, als ihre Kinder ordentlich erziehen und ihnen ein rechtschaffenes Dasein vorleben.

Erst Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle haben in Erinnerung gerufen, dass es die Klein- und Mittelbetriebe sind, die 80 Prozent der Arbeits- und Ausbildungsplätze halten. Das brave Kleinbürgertum erlebt ebenfalls ein Standesschicksal. Weil es keine Probleme macht, weil die Kinder weder Drogen nehmen, noch bewaffnet die Schule betreten, oder weil sie sonst weder Sozialarbeiter noch Psychologen beschäftigen, sind sie die Stiefkinder einer Mitleidszivilisation, getreu dem Motto: Brave Kinder sagen nichts, brave Kinder kriegen nichts.

Die gesellschaftliche Dynamik erlaubt es kaum noch, klare Schicht- und Standesgrenzen festzulegen. Doch gewissen Einstellungen oder Tugendkatalogen lassen sich die Menschen noch am ehesten zuordnen. Die Bürgerlichen möchten, dass ihre Gesellschaft einer guten Stube gleicht: ohne Schmutz, Elend und Fehlangepassten – ähnlich dem Foyer in der Theaterpause, wo sie noch geschlossen anzutreffen sind. Ihr Katalog umfasst Leistungsprinzip, Pflichtgefühl und den Willen, Lebensräume mit Kultur und Nation abzusichern. Das Leistungsprinzip ist das Ethos einer freien Wirtschaft; das Pflichtgefühl hat es schwerer.

Es war ein Fehler, so ein Franzose, dass der Erklärung der Menschenrechte nicht gleich eine Liste der Menschenpflichten hinterdrein geschickt worden ist. Die Neigung, mehr auf Rechte zu pochen oder mehr auf Pflichten, ist eines der wenigen Unterscheidungsmerkmale zwischen Links und Rechts im politischen Spektrum der Gegenwart. Das Bürgertum begann seinen Kampf gegen Adel und Kirche im Namen von Volksrecht, genannt Nation, um Menschenhandel und Länderschacher zu beenden. Lebensart, genannt Kultur, war als Innenausstattung der Nation gedacht. Genauso sehen es auch die anderen Nationen, mit denen Deutschland in einer Reihe steht. Doch hat das Bürgertum eine politische Vertretung? Hat es Fürsprecher in den so genannten bürgerlichen Parteien?

Das Bürgertum will Sicherheit zur Lebensplanung, Familiengründung und nicht nur Flexibilität am Arbeitsmarkt. Kinderlose Genies sind Strohfeuer der Entwicklung. Es braucht Anerkennung der Leistung und nicht Reichensteuer, welche Leistung kriminalisiert. Es braucht volle Verfügung übers Eigentum und will nicht moralisch drangsaliert werden mittels Antidiskriminierungsgesetz. Gleichstellungen sollen in einer bürgerlichen Gesellschaft erst vorgenommen werden, wenn sich auch alle anderen dem bürgerlichen Tugendkatalog verschrieben haben.

Paul Valéry sagt: "Die Welt hat durch das Mittlere Bestand, aber nur durch das Außerordentliche Wert." Das Bürgertum steht für beides – in einem verlustreichen Kampf.


Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit 1980 ist Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft - Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.