Das Coronavirus und die Welt

Geschichten aus einer Woche Stillstand

30:00 Minuten
Eine sonst von Stau geplagte Straße in der Millionenmetropole Manila ist fast leer.
Eine Straße in Manila. Normalerweise herrscht hier erheblicher Straßenverkehr. Mit dem Coronavirus kam die Stille. © imago images / Pacific Press Agency
Von Johannes Nichelmann |
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Regierungen auf der ganzen Welt setzen massive Maßnahmen durch, um Covid-19 einzudämmen. Geschlossene Grenzen, Quarantäne, Ausgangssperren. Was macht das mit den Menschen? Eine Woche lang haben wir Betroffene auf der ganzen Welt begleitet.
Selbst Tokios sonst so heillos überfüllte U-Bahnen sind beinah leer. Mitten in der Rushhour. Was die Menschen in vielen Ländern schon länger erleben, erreicht jetzt auch Deutschland und andere Staaten in Europa mit voller Wucht. Es ist die zwölfte Kalenderwoche des Jahres 2020. Sie wird in die Geschichte eingehen. Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 soll verlangsamt werden.
Aus der ganzen Welt werden Infizierte und auch Tote gemeldet. Es werden Ausgangssperren verhängt, Menschen in Quarantäne geschickt, Grenzen geschlossen. In dieser Dokumentation erzählen Menschen aus Griechenland, Italien, Japan, Singapur, von den Philippinen und aus Österreich von ihrem Leben inmitten der Pandemie. Zwischen Hamsterkäufen und Solidarität. Es sind Momentaufnahmen.

Die Aufforderung zur Abreise

Montagabend, kurz vor 19 Uhr. Anruf bei Franziska. Sie ist 25 Jahre alt. Die Österreicherin arbeitet an einer Universität im Norden Englands. Unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. Zu Beginn unseres Telefonats scheint in Großbritannien noch zu gelten, was der oberste wissenschaftliche Berater der Regierung vor drei Tagen verkündet hatte. Dass das Virus unter gesünderen Mitgliedern der Bevölkerung zirkulieren könne, so dass die britische Bevölkerung eine gewisse "Herdenimmunität" entwickeln könne. Eine harsch kritisierte Entscheidung.
Selfie von Franziska in Quarantäne.
Und plötzlich muss man das Land verlassen: Franziska berichtet von ihrer Reise aus Großbritannien zurück nach Österreich.© privat
Während unseres Gesprächs meldet die BBC, dass Premierminister Boris Johnson die Briten dazu aufruft, nun doch jeden unnötigen Kontakt zu anderen Menschen zu vermeiden. Die Nachrichtenlage ändert sich von Stunde zu Stunde. Auf der ganzen Welt. Franziska ist vom Österreichischen Austauschdienst ÖAD aufgefordert worden, sofort die Heimreise anzutreten:
"Ich muss halt abwägen", sagt sie. "Was ist besser? Keine Ahnung, es gibt ja so viel zu bedenken. Wo komme ich dann in Österreich unter? Ich habe ja keine Wohnung mehr. Ja, und meine Eltern sind eben schon über 60. Ist es das Risiko wert? Aber so, wie es jetzt im Vereinigten Königreich aussieht."
Der letzte Abend auf unbestimmte Zeit in Großbritannien. Wie geht es ihr damit? "Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen. Ich weiß eben nicht, ob und wann ich zum Beispiel meine Mitbewohner wiedersehe, meine Kollegen. Ich weiß auch nicht, wie das dann weitergeht mit dem Unterricht, also meinem Job. Ob es dann überhaupt noch einen Grund geben wird, dass ich wieder zurückkomme."
Franziskas Flieger startet am nächsten Tag, am Dienstag, gegen 14 Uhr in London-Heathrow. Dorthin sind es zwei Stunden mit dem Zug, einmal Umsteigen. Das bedeutet: kaum vermeidbarer Kontakt mit vielen Menschen. Das macht Franziska Sorgen. Sie wird uns auf ihre Reise mitnehmen.

Manila gleicht einer Geisterstadt

Über zehntausend Kilometer von Franziska entfernt: in Manila. Es ist Dienstag. Eine Frau mit Funkgerät und Maske misst das Fieber bei einem Autofahrer. Joe, 35 Jahre alt, beobachtet die Szene an diesem Checkpoint in seiner Nachbarschaft. Dann fragt ihn ein Aufpasser, wo seine Maske sei. Joe antwortet: Er beeile sich doch, nach Hause zu kommen. Woher er den Mundschutz nehmen soll, weiß er eh nicht.
"Heute ist der erste Tag einer erweiterten Quarantäne der gesamten Nachbarschaft. Ich bin rausgegangen, um mir Essen zu besorgen. Was mich aber wirklich beängstigt: Es gibt Hamsterkäufe!"
Präsident Duterte hat gerade erst – für viele hier überraschend – die Proklamation Nummer 929 ausgerufen. Es sollen Hilfsgelder fließen. Das Land befindet sich praktisch im Lockdown. Selbst die Börse ist seit heute dicht. Joe macht sich Sorgen. Wie es wirtschaftlich für die vielen Menschen in dem armen Land weitergehen soll, aber auch um seine Zukunft.
"Es ist sehr ruhig. Wie in einer Geisterstadt gerade. Noch dreißig Minuten bis zur Ausgangssperre. Die geht hier von 20 bis fünf Uhr morgens. Dann kontrolliert die Polizei alle Menschen, alle Fahrzeuge auf den Straßen.
Es ist seltsam, weil das Zusammenleben in Manila eigentlich sehr lebendig ist. Rund um die Uhr siehst du Menschen, die zusammensitzen, sich unterhalten, Karaoke singen. Leute kommen aus den Einkaufszentren, von der Arbeit. Sie gehen auf Partys, in Clubs. Es ist unfassbar seltsam zu erleben, dass all diese Leute zu Hause bleiben."

In Italien - eine Kuchenlieferung an die Nachbarn

Ungewohnte Stille auch in Nord-Italien. Patricia Arnold blickt von ihrem Fenster aus auf den Langensee. Den Lago Maggiore. Wenn sie sich etwas über die Brüstung ihres Balkons beugt, kann sie auch die Staatsstraße 34 sehen – einen wichtigen Zubringer in Richtung Schweiz.
"Eine sehr, sehr befahrene Straße. Meistens morgens so gegen vier, halb fünf fängt der Verkehr an, da es ja sehr viele Pendler gibt, die im Tessin arbeiten und im Augenblick fährt ab und an mal ein Auto vorbei. Man kann also Stille hören. Selbst auf dieser Staatsstraße. Und wenn ein LKW vorbei fährt, weil er irgendwas noch transportieren darf, Lebensmittel oder Milch, dann erschrecke ich geradezu. Man gewöhnt sich auch an Stille und Stille hören ist eine neue Erfahrung"
Wer auf die Straße geht, braucht einen Passierschein. Muss angeben, ob er gerade zum Supermarkt oder zur Apotheke muss. Patricia Arnold ist Journalistin, lebt zusammen mit ihrem Mann in einem Haus mit Garten:
"Mein Garten ist ein wahres Paradies. Hier blüht zurzeit alles. Kamelien, rot und weiß. Der Birnenbaum in voller Blüte. Eine Insel der Glückseeligen. Aber so richtig genießen, kann ich es nicht."
Vorab hatte sie geschrieben, dass sie gerade illegal durch die Gärten unterwegs war:
"Ich habe Kuchen gebacken und hab die Nachbarn mit Apfelkuchen versorgt. Die sind es zwar nicht gewöhnt, dass ich Kuchen backe, aber ich habe gestern Abend einfach beschlossen, ich muss mal Kuchen backen und dann die anderen mit versorgen, denn ich habe Nachbarn, die leben alleine. Und das ist, wenn man sozusagen im Hausarrest steht, nicht so schön. Und habe Kuchen an die Türklinken gehängt. So auf die Straße habe ich mich nicht gewagt, um sie so wirklich offiziell vorbei zu bringen, denn es wird schon kontrolliert, ob man einen triftigen Grund hat, aus dem Haus zu gehen. Wir haben auch miteinander gesprochen, auf ein Meter Abstand. Der eine Nachbar, der ist, sagen wir mal, ein Rebell, der war sogar heute wandern. Obwohl er das eigentlich nicht dürfte. Der gehört zu den Menschen, der die Angst wegdrückt und sagt, das ist alles übertrieben. Die andere Nachbarin, die ist genau das Gegenteil, die geht überhaupt keinen Schritt aus dem Haus, und die war auch noch nicht einmal einkaufen. Sie ist auch allein, und da merke ich, dass sie schon schlechter drauf ist, als ich zum Beispiel."

Hustende Passagiere im Zug

Zurück in England. Am Nachmittag will Franziska in Wien sein. Dort werden ihre Eltern, 61 und 63 Jahre alt, am Flughafen auf sie warten. Zur Weiterfahrt mit dem Auto in ihr Heimatdorf bei Linz.
"Als ich dann in den Zug eingestiegen bin, war ich in einem Abteil, wo eine Frau drei Reihen vor mir saß, mit ziemlich starkem Husten. Ich bin dann sofort in ein anderes Abteil und hoffe, dass da keiner kommt, der Husten hat."
In einer der vielen Taschen von Franziska befindet sich ausreichend Desinfektionsgel, um damit hoffentlich unbeschadet einen Kontinent zu überqueren, der sich inmitten einer Pandemie befindet. Die Hälfte ihres Gesichts hat Franziska in einen Schal vergraben. Einen Mundschutz hat sie nirgends mehr kaufen können.

Globaler Mundschutz-Mangel

Ein ähnliches Problem hat Yu aus Tokio: "Wir haben jetzt noch ein paar zu Hause, aber nicht mehr sehr viele, und da mache ich mir schon Sorgen drum."
Das Problem mit den Mundschützern ist ein sehr globales. Seit Wochen sind auch in Tokio keine mehr erhältlich. Hier lebt der 23-jährige Student Yu mit seinen Eltern und zwei Geschwistern. Noch etwa fünfzig Mundschützer haben sie übrig: "Wir sind eine Familie von fünf Personen. Dass heißt, jeder hat so zehn übrig." Verwenden darf man sie nur einmal.
Selfie in einer U-Bahn: Ein junger Mann mit Mundschutz, Kopfhörern und Brille, daneben zahlreiche Fahrgäste
Yu aus Tokio fährt wieder U-Bahn.© privat
Die offiziellen Fallzahlen sind in Japan vergleichsweise gering. Es wird wenig getestet. Yu erzählt, dass die meisten Menschen einigermaßen gefasst und entspannt mit der Situation umgehen.
"Manche vergleichen die Lage mit dem großen Erdbeben 2011. Damals mussten auch viele Veranstaltungen abgesagt werden. Die Züge waren damals auch leer und so weiter. Also es sieht nicht aus wie in einer Geisterstadt oder so. Also wie so Bilder aus Wuhan, das ist in Tokio nicht der Fall"

Eine japanische Bastelanleitung für Mundschutz

Yu und seine Familie klagen bislang über keinerlei Symptome des neuartigen Coronavirus. Seine Nachbarschaft hat Yu seit einigen Wochen nicht verlassen, versucht Fahrten mit Bussen und Bahnen tunlichst zu vermeiden. Auch, wenn die gar nicht mehr so voll sind, wie zu Zeiten, als niemand nur im Entferntesten daran dachte, die traditionellen Picknicke unter blühenden Kirschbäumen im Frühling abzusagen.
"Man merkt schon, dass deutlich mehr Menschen einen Mundschutz tragen. Es kursieren ganz viele Tutorial-Videos zum Thema, wie bastelt man selber einen Mundschutz."
Über eine Millionen Klicks verzeichnet dieses Video einer Dame, die genau anleitet, wie aus Handtüchern oder Mull in nur einer Minute ein Mundschutz anzufertigen sei. Den dünnen Stoff zweimal Falten, bis ein Streifen entsteht, der Mund und Nase abdecken kann. Zwei Schnüre, die eigenen Enden jeweils miteinander verknotet, sollen später im Gesicht für Halt sorgen. Die Frau schlägt das gefaltete Handtuch geschickt um die Schlaufen. Fertig.
Yu muss in dieser Woche dringend Dinge erledigen, für die er auf den Zug angewiesen ist. Sollte es keinen Nachschub an Masken geben, wird er tatsächlich auf diese Bastelanleitung zurückgreifen.

Psychologie des Mundschutzes

Lehrerin Frances, 38 Jahre alt, lebt in Singapur: "Ich persönlich trage keine Maske, und ich arbeite in einer Bildungseinrichtung, begegne Studierenden von überall."
Ihr Premierminister hat vor kurzem erklärt, die Situation sei unter Kontrolle. Strengen Maßnahmen sei Dank, heißt es. Das Leben in der Stadt gehe trotz Pandemie weiter. In Restaurants, in Schulen, in den Büros. Auch Schutzmasken gibt es hier in den Shops zu kaufen. Anders als in Frances Heimatstadt Taipeh, in Taiwan. Dort müssten ihre Eltern lange anstehen. Um ihnen das zu ersparen, hat sie schon Care-Pakete geschickt. Frances' Mutter ruft regelmäßig an und ermahnt ihre Tochter, außer Haus niemals den Gesichtsschutz zu vergessen.
"Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass sie dich schützen. Sie dienen dazu, die anderen zu schützen. So sehe ich das."
Aber für Ihre Familie, sagt Frances, scheint das auch eine psychologische Hilfe zu sein. Vor einigen Wochen noch hat auch Frances sich an diesen Hygieneartikel geklammert. Den Punkt, an dem wir hier gerade in Deutschland stehen, hat Frances schon vor Wochen so oder so ähnlich erlebt. Und sie hat auch hinter sich, was hierzulande noch viele vor sich haben – oder wo sie gerade mittendrin stecken.

Das Leben in Quarantäne

Aber von vorne: Für eine Geschäftsreise ist Frances Ende Januar nach China aufgebrochen. Eigentlich wollte sie eine Woche in Shanghai bleiben. "Ich erinnere mich, dass ich um 19 Uhr gelandet bin. Und als ich draußen war, war ich geschockt, wie leise diese Stadt ist. Kaum jemand war auf der Straße."
Die unheimliche Stimmung und die Angst davor, bald nicht mehr nach Singapur reingelassen zu werden, haben sie sofort ein Rückticket buchen lassen. Nach vier Tagen ist Frances wieder daheim. Allerdings muss sie in ein Hotel ziehen, um die Menschen, die mit ihr leben, nicht zu gefährden. Zwei Wochen staatlich verordnete Quarantäne.
"Ich habe vom Zimmerservice gelebt. Von dem, was das Hotel so anbieten konnte. Ich war verbunden mit meinen Kollegen, dem Büro. Dann las ich aber einen Bericht, der sagte, Moment, die Inkubationszeit kann auch länger andauern. Es gab wohl Fälle, wo jemand zwanzig Tage später diagnostiziert wurde. Also dachte ich die ganze Zeit, du musst sehr vorsichtig sein. Für einen ganzen Monat vielleicht, bevor du dich wirklich entspannen kannst."

Angst, den Virus in sich zu tragen

Wirkliche Entspannung kann Franziska nicht vermelden. Aber sie sitzt im Flieger. Der wird sie gleich von London nach Wien bringen. Die berechnete Flugzeit beträgt eine Stunde und 50 Minuten. Sie hat eine ganze Sitzbank für sich alleine. Auch die Reihe vor und die Reihe hinter ihr sind unbesetzt. Vor Mund und Nase hat sie einen grau-roten Schal gespannt.
"Mir geht’s ganz gut. Es ist natürlich immer noch ein bisschen komisch. Man fragt sich auch, ja, hab ich es schon? Habe ich es nicht? War das die richtige Entscheidung? Alles noch ein bisschen surreal."

Auf den Philippinen herrscht Angst vor der Armut

Donnerstag. In Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Vor zwei Tagen hat die Regierung noch die Schließung der Börse angeordnet. Doch schon heute musste sie wieder öffnen. Zu groß der wirtschaftliche Druck.
Auch Joe hat sich auf den Weg zu seinem Büro gemacht. Er ist Angestellter. Heute kommt er nur, um einen PC abzuholen, damit er von zu Hause arbeiten kann. Für gewöhnlich stehen jetzt zur Mittagszeit die Autos auf den großen Ausfallstraßen Manilas Stoßstange an Stoßstange. Zwischendrin die Mopeds. Jetzt sind es nur wenige Fahrzeuge – dennoch sind zahlreiche Menschen unterwegs, versuchen, Abstand zu halten.
"In der Hauptstadt, im Finanzzentrum kannst du nicht verhindern, dass sich dort Leute bewegen. Rein wirtschaftlich. Du musst arbeiten und kannst nicht einfach zu Hause bleiben. Wir überleben vielleicht das Virus, aber wir überleben nicht Hunger und Armut. Darum geht es gerade vor allem.

Tests nur für Reiche

Joe sagt, er mache sich keine Illusionen darüber, dass das Gesundheitssystem der Philippinen in irgendeiner Art und Weise auf eine Pandemie vorbereitet sei. Getestet werden, erzählt er, könnten gerade eh nur die reichen Leute in den teuren Kliniken.
"Wir haben jetzt den Corona-Ausbruch. Wir haben Schweinegrippe. Wir haben Vulkanausbrüche. Wir sehen das Gute in jeder unserer Krisen. Wir lächeln – aber wenn Du hinter dieses Lächeln blickst, dann sind wir sehr besorgt. Wir haben Angst vor dem, was da kommt."

Griechische Supermärkte - sieben Tage Arbeiten

Krisengeschüttelt sind auch die Menschen in Griechenland. Charis ist 38 Jahre alt. Geboren und aufgewachsen ist sie in Berlin. Seit zehn Jahren lebt sie in Athen. Ab dem 12. März sind hier schrittweise sämtliche öffentliche Einrichtungen geschlossen worden. Schulen, Theater, Bars, Cafés, Gerichtsgebäude. Öffnen dürfen Apotheken und Lebensmittelmärkte.
"Also, ich bin jetzt vorm Supermarkt. Die lassen uns jetzt nicht rein, wir müssen jetzt warten, bis andere Leute rausgehen, damit da nicht zu viele Leute sind, die auf den gleichen Quadratmeter sind. Wir sind gerade ein bisschen rumgefahren mit dem Motorrad. Es ist krass wenig los auf den Straßen. Joa. Aber die Leute sind freundlich zueinander."
Auf dem Einkaufszettel stehen heute nur Schokolade und Bier. Die Regale sind voll. Es gibt auch genügend Klopapier.
"Worüber ich mir jetzt schon Gedanken mache ist: Die Leute, die im Supermarkt arbeiten, die werden jetzt sieben Tage die Woche arbeiten. Die arbeiten von morgens um sieben bis abends um zehn. Und ich hab bis jetzt nichts gehört, dass es zu Neueinstellungen kommen wird oder dass die Supermärkte Leute suchen, um das ganze System zu schützen und zu stützen. Ich habe keine Ahnung, wie die Leute das aushalten werden, weil das ist eine extreme Last auf den Schultern dieser Menschen.

Von Krise zu Krise

Die Maßnahmen wurden vorerst für 14 Tage angeordnet. Zu Beginn der Woche ist der Regierungschef vor die Kameras getreten und hat zum Volk gesprochen.
"Da hab ich mich auch gefragt, also will der die Leute jetzt beruhigen oder will der die verängstigen? Weil: ‚Wir sind im Krieg’, ‚der Gegner ist unsichtbar’, ‚die schwersten Momente liegen noch vor uns’ und ‚es wird auch schwere wirtschaftliche Schäden geben, aber wir werden das Land dann wieder aufbauen."
Was denken sich die Leute in Charis' Umfeld, was diese erneute Krise jetzt für die Menschen bedeuten könnte - noch ganz unabhängig von Zahlen und Prognosen?
"Die denken sich so, es kann jetzt nicht wahr sein, dass es wieder so ist. Also wir haben das ja schon einmal erlebt. Also der Ausgangspunkt ist nicht der Gleiche, wie er es in Deutschland ist. Wir wissen, was das bedeutet in unserem Leben. Wir haben teilweise hier ganze Familien, die mit 1.000 Euro leben müssen. Das kann, das darf nicht noch einmal runtergehen. Das ist unmöglich. Das ist nicht zu schultern. Ich merke halt auch, also vorgestern ist im Homeoffice mein Boiler kaputt gegangen. Die Leute, die mir die Wohnung vermieten, das ist eine Familie, wo der Mann nur arbeitet. Die haben zwei Kinder, die studieren. Das sind ganz liebe Menschen. Die brauchen die Miete, die ich ihnen monatlich zahle. Und als der Boiler hier vorgestern in die Luft gegangen ist und ich mit meiner Vermieterin geredet habe, das war blanke Panik. Kommen wir jetzt durch? Werden wir ein Gehalt haben? Wann schließen die Unternehmen? Was wird es für eine Regelung geben? Wie sollen wir uns ernähren? Das war blanke Angst. Weil man weiß, was das bedeutet, das ist nichts Abstraktes. Das ist etwas, womit man schon mal gekämpft hat."

Entlassungen und Infektionen

Charis arbeitet bei einer Zeitung. Die kann vorerst weiter an den Kiosken verkauft werden. Außerdem haben sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sich in Windeseile ein neues Abo-Modell für ihre Internetpräsenz überlegt. Ein Freund von ihr, der für die Hauptsaison auf einer Insel als Kellner eingestellt wurde, ist in dieser Woche entlassen worden. Perspektive ungewiss. Eine andere Freundin hingegen klagt über die Symptome von Covid-19.
"Eine Freundin, die hier in der Nachbarschaft wohnt, hatte seit Samstag erhöhte Temperatur. Ihr geht’s jetzt aber auch nicht schlecht, sie war einfach nur erschöpft und müde. Also ich werde jetzt für sie einkaufen die nächsten Tage. Sie muss jetzt 14 Tage drin bleiben, mindestens, und sie wird die Tage von zu Hause arbeiten. Ich habe ihr meinen zweiten Laptop, meinen alten, vorbeigebracht. Hab sie mit Schokolade versorgt. Wir sind uns halt nicht zu Nahe gekommen. Sie hat die Tür aufgemacht, ich habe die Sachen auf den Boden gelegt und ich bin auf der Treppe stehen geblieben, und wir haben uns dann so über den Hausflur unterhalten. Sie meinte halt auch so, ich bleibe hier drin, und ich hab mein Leben total eingeschränkt, und ich langweile mich zu Tode. Und ihre Nachbarin, die 85 Jahre alt ist, die war am Sonntag noch in der Kirche."

Alltag mit Ausgangssperre

Innerhalb weniger Tage hat sich in fast ganz Europa das Leben der Menschen radikal verändert. In Italien gelten schon länger schärfere Maßnahmen. Patricia Arnold erlebt sie am eigenen Leib. Ihr Haus darf sie nur mit Passierschein verlassen.
"Also es war in Italien eigentlich auch so, dass es holterdiepolter ging. Hier wurden von einem Tag auf den anderen die Schulen geschlossen. Hier gab es wirklich an einem Nachmittag die Anweisung, ab morgen nicht mehr zur Schule gehen. Das war Ende Februar, das war in den Faschingstagen. Das ging ruckzuck. Dann ist mir aufgefallen, dass Frauen eigentlich viel fröhlicher mit der Situation umgehen und auch Scherze machen über die Entfernung hinweg und lachen, und ich finde, dass die Männer viel schlechter drauf sind als Frauen. Das gilt auch für meine Familie. Auch mein Sohn ist ziemlich schlecht drauf. Der hat’s nicht so gut wie ich. Der sitzt in Mailand, macht schon in der vierten Woche Homeoffice. Da wird man schon leicht depressiv und ungeduldig."
Hat sie Ratschläge für uns?
"Ich glaube, ganz wichtig ist, dass man dem Tag eine Struktur gibt. Dass man gar nicht erst anfängt zu sagen: Ah, heute ziehe ich mich nicht an, sondern ich bleibe im Pyjama und wurschtel so vor mich hin. Man muss sich richtig Dinge vornehmen. Und ich glaube, man muss auch zu Hause Sport machen. Das ist wichtig. Mit dem Virus wird man ja von Außen, vom Staat gezwungen. Das ist eine Art Gefangennahme. Ich glaube schon, dass das viel, viel in einem macht und dass es einen auch verändert."

Fiebermessen in Wien

Österreich. Flughafen Wien-Schwechat. Franziska ist überpünktlich gelandet. Zuvor musste sie ein Formular ausfüllen – angeben, von wo sie kommt, wo sie hingeht, den Grund ihrer Reise. Sie ist in einem Land gestartet, das zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei einschränkende Maßnahmen ergriffen hatte. Erst später wird der britische Regierungschef vor die Presse treten und Schulschließungen zum Ende der Woche ankündigen. In dem Land, in dem Franziska nun gelandet ist, herrscht schon länger Ausgangssperre. Bevor sie den Flughafen verlässt, wird bei ihr Fieber gemessen.
"Bei mir alles in Ordnung. Und es gibt auch dauernd Durchsagen, man soll doch zwei Meter Abstand halten und sich sofort auf die Heimreise begeben. Sehr schräg. Ich glaub, ich sehe meine Eltern schon."
"Hallo Mama! Meine Temperatur ist in Ordnung. Ich wurde gerade getestet. Das Rote Kreuz steht da in voller Vermummung. Es ist wie im Krieg. So, passt jetzt mein Koffer rein? Du greifst da nichts an! Hallo Papa! Bleib ja weg da! Ich war jetzt so nervös die letzten 24 Stunden, dass ich fast nichts gegessen habe."
Franziska sitzt auf der Rückbank. Vor Mund und Nase noch immer ein Schal. Auch ihre Eltern haben sich vermummt.

"Es geht um die Gesundheit meiner Eltern"

Mutter, Vater und ihre Tochter – sie haben sich lange nicht mehr gesehen. Eine Umarmung darf es nicht geben. Erst in zwei Wochen, insofern Franziska keine Symptome zeigt. Sie muss in Quarantäne.
"Ganz schräg. Also wir haben das vorher schon besprochen, also am Telefon. Also, wie wir das alles genau machen. Wir haben wirklich jeden Schritt durchgeplant. Wir sagen ‚Hallo‘, wir winken nur. Wir haben schon besprochen, wie machen wir das mit dem Koffer, wer öffnet den Kofferraum und wer schließt den Kofferraum und alles Mögliche. Ja, ich kann es immer noch nicht ganz in Worte fassen. Es war einfach komisch. Das ist das Wort, das es am Besten trifft, würde ich sagen. Es geht jetzt um die Gesundheit meiner Eltern. Deswegen habe ich da meine Gefühle quasi unterdrückt und das Bedürfnis, sie einfach in den Arm zu nehmen."
Zwei Stunden Autofahrt liegen noch vor ihnen, in eine kleine Gemeinde in der Nähe von Linz. Franziska wird in der ersten Etage des Hauses wohnen. Und von dort aus über das Internet ihre Studierenden in England unterrichten. Franziskas Eltern leben im Erdgeschoss. Gespräche mit ihnen sind weiterhin nur über das Telefon möglich.
"Meine Mama stellt mir das Essen auf Papptellern tatsächlich vor die Tür, und ich hol mir das dann, wenn sie sagt, es ist soweit. Es ist wirklich ganz schräg."

Durchatmen nach der Krise

Was wird Patricia Arnold aus Italien tun, wenn all das einmal vorüber ist?
"Ach, diese Frage hat man mir schon einmal gestellt. Vor einer Woche. Da hab ich ganz spontan gesagt, ausgehen. Jeden Abend ausgehen. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch so sagen würde. Ich glaube, ich würde wirklich erst mal tief durchatmen und wieder ganz langsam den Alltag anlaufen lassen. Da sind wir alle zu erschöpft hinterher. Ich glaube auch, dass ganz viele Leute anschließend in psychologische Behandlung müssen, weil sie es einfach nicht gepackt haben, alleine zu leben."

Rückkehr zum Alltag in Japan

Tokio. Die Woche geht zu Ende. Yu trägt einen der letzten weißen Mundschützer aus der Familienpackung.
"Genau, heute war ich wieder zum ersten Mal wieder seit ein paar Wochen morgens unterwegs mit dem Zug. Da hatte ich wieder das Gefühl, dass wieder mehr Leute zur Pendelzeit Zug fahren. Und in den Nachrichten ist auch zu hören, dass Schulausfälle aufgehoben werden sollen. Zumindest die Diskussion darüber in der Regierung stattfindet und es ist auch in den letzten Tagen deutlich wärmer geworden in Tokio, was dazu beiträgt, dass wieder mehr Menschen rausgehen. Diese Rückkehr der Normalität ist hier zu spüren. Japan steht ja vor den Olympischen, Paralympischen Spielen, und die Regierung möchte die Stimmung natürlich nicht kaputt machen. Da müssen wir als Bürger, glaube ich, auch ein bisschen kritisch hinterfragen. Genau. Das war sozusagen die Lage von heute morgen. Danke! Tschüss!"

Das ursprünglich für diesen Termin vorgesehene Feature "Antisemitismus heute - Das schleichende Gift in Deutschland" senden wir am 26. März (Donnerstag), um 19:30 Uhr.

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