Das Demenzdilemma
Die Industriegesellschaften haben noch keinen akzeptablen Umgang mit ihren Demenzkranken gefunden, bemängelt der evangelische Theologe Reimer Gronemeyer. Den Weg, die Alten den Pflegeheimen zu überlassen, hält er für falsch. Einen Ausweg benennt er aber nicht.
Paukenschläge zur Einführung sind immer effektvoll:
Wir leben im Jahrhundert der Demenz. Es sieht so aus, als würden die alten Industriegesellschaften, in denen die Demenz jährlich zunimmt, unter Ermüdungserscheinungen leiden. Das Einzige, was in diesen Gesellschaften noch wächst, sind offenbar die Zahl der Alten und die Zahl der Menschen mit Demenz. Die Moderne frisst ihre Kinder nicht, sondern macht ihre Angehörigen zu greisen Kindern.
Damit beginnt ein Buch des etwas geheimnisvollen Titels "Das 4. Lebensalter". Verfasst hat es Reimer Gronemeyer, studierter evangelischer Theologe, emeritierter Hochschullehrer im Fach Soziologie und Autor einer Reihe von Sachbüchen zu den Themen Generationskonflikt, Leiden und Sterben. Dies alles spielt auch in das neue Buch hinein.
Dessen Gegenstand ist der Denk- und Ichverlust im Alter. Seit neuestem existiert dafür der etwas diffuse Sammelbegriff Demenz, früher war von Altersschwachsinn oder Senilität die Rede. Altern hat mit dem Nachlassen und dem Fortfall organischer Funktionen zu tun, jene des Hirns gehören dazu.
Wir leben im Jahrhundert der Demenz. Es sieht so aus, als würden die alten Industriegesellschaften, in denen die Demenz jährlich zunimmt, unter Ermüdungserscheinungen leiden. Das Einzige, was in diesen Gesellschaften noch wächst, sind offenbar die Zahl der Alten und die Zahl der Menschen mit Demenz. Die Moderne frisst ihre Kinder nicht, sondern macht ihre Angehörigen zu greisen Kindern.
Damit beginnt ein Buch des etwas geheimnisvollen Titels "Das 4. Lebensalter". Verfasst hat es Reimer Gronemeyer, studierter evangelischer Theologe, emeritierter Hochschullehrer im Fach Soziologie und Autor einer Reihe von Sachbüchen zu den Themen Generationskonflikt, Leiden und Sterben. Dies alles spielt auch in das neue Buch hinein.
Dessen Gegenstand ist der Denk- und Ichverlust im Alter. Seit neuestem existiert dafür der etwas diffuse Sammelbegriff Demenz, früher war von Altersschwachsinn oder Senilität die Rede. Altern hat mit dem Nachlassen und dem Fortfall organischer Funktionen zu tun, jene des Hirns gehören dazu.
Demenzkranke im "medizinisch-pflegerischen Ghetto"
Die Altersdemenz hat einen medizinischen, einen sozialen und einen kulturhistorischen Aspekt. Wiewohl alle drei das nämliche Objekt betreffen, sind sie durchaus unterschiedlich und berühren einander nur manchmal. Gronemeyer bemüht sie alle drei, was gelegentlich zu Unübersichtlichkeiten führt. Die dramatische Instrumentalisierung des Eingangs setzte sich im weiteren Verlauf des Buches fort. So in den Zahlen:
Gegenwärtig sind in Deutschland 1,2 Millionen Menschen von Demenz betroffen, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,6 Millionen sein.
Oder auch:
Gegenwärtig – so die WHO – sind es 66 Millionen Demenzkranke weltweit.
Es folgt jede Menge Sozialkritik. Die Mängel in Pflegeheimen werden benannt. Der Medizin- und Pharmabetrieb wird beschuldigt, Demenz zu fördern, auch um kräftig daran zu verdienen. Das Ausgrenzen der Dementen wird beklagt, die Ökonomisierung ihrer Situation gleichermaßen. Die Ursachenforschung zu Morbus Alzheimer und anderen dementiellen Erkrankungen sei sinnlos und überflüssig. Der Umgang moderner Industriegesellschaften mit Demenzkranken sei unzureichend und verfehlt.
Ich plädiere einfach dafür, die Demenz aus ihrem medizinisch-pflegerischen Ghetto herauszuholen. Schauen, was dann passiert.
Was aber könnte denn passieren?
Ein Ausweg aus dem Demenzdilemma muss künftig eher in der Konstruktion einer gastfreundlichen Lebenswelt als in der Perfektionierung spezialisierter Versorgung gesucht werden. (...) Menschen mit Demenz (...) gehören als Bürgerinnen und Bürger zu uns, und es ist unsere Aufgabe, sie so gut wie möglich zu umsorgen, sie zu respektieren und sie, wenn möglich, zu Wort kommen zu lassen.
Gastfreundliche Umwelt. Wie sie herzustellen sei, sagt er Autor nicht, da er es vermutlich nicht weiß. Er – wie auch sein Buch - werden an den existierenden Zuständen nichts verändern können.
Immerhin machen sie aufmerksam auf das Problem. Nun sagt der Autor selber, dass es im allgemeinen Bewusstsein bereits angekommen sei, was bedeutet: dies auch ohne ihn.
Dabei sei hier nicht unterschlagen, dass die kulturhistorischen Exkurse, die er liefert, recht informativ sind. Sie reichen von Plato bis zu Aldous Huxley. Dass Sebastian Brants "Narrenschiff" zitiert wird, ist schön; dass der berühmteste Altersdemente der Weltliteratur, William Shakespeares König Lear, nicht auftritt, ist schade. Dass geistige Anomalien in manchen Kulturen nicht nur nicht ausgegrenzt oder verfemt werden, sondern in Gestalt eines heiligen Wahnsinns quasireligiösen Respekt genießen, wird ausgeführt.
Gegenwärtig sind in Deutschland 1,2 Millionen Menschen von Demenz betroffen, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,6 Millionen sein.
Oder auch:
Gegenwärtig – so die WHO – sind es 66 Millionen Demenzkranke weltweit.
Es folgt jede Menge Sozialkritik. Die Mängel in Pflegeheimen werden benannt. Der Medizin- und Pharmabetrieb wird beschuldigt, Demenz zu fördern, auch um kräftig daran zu verdienen. Das Ausgrenzen der Dementen wird beklagt, die Ökonomisierung ihrer Situation gleichermaßen. Die Ursachenforschung zu Morbus Alzheimer und anderen dementiellen Erkrankungen sei sinnlos und überflüssig. Der Umgang moderner Industriegesellschaften mit Demenzkranken sei unzureichend und verfehlt.
Ich plädiere einfach dafür, die Demenz aus ihrem medizinisch-pflegerischen Ghetto herauszuholen. Schauen, was dann passiert.
Was aber könnte denn passieren?
Ein Ausweg aus dem Demenzdilemma muss künftig eher in der Konstruktion einer gastfreundlichen Lebenswelt als in der Perfektionierung spezialisierter Versorgung gesucht werden. (...) Menschen mit Demenz (...) gehören als Bürgerinnen und Bürger zu uns, und es ist unsere Aufgabe, sie so gut wie möglich zu umsorgen, sie zu respektieren und sie, wenn möglich, zu Wort kommen zu lassen.
Gastfreundliche Umwelt. Wie sie herzustellen sei, sagt er Autor nicht, da er es vermutlich nicht weiß. Er – wie auch sein Buch - werden an den existierenden Zuständen nichts verändern können.
Immerhin machen sie aufmerksam auf das Problem. Nun sagt der Autor selber, dass es im allgemeinen Bewusstsein bereits angekommen sei, was bedeutet: dies auch ohne ihn.
Dabei sei hier nicht unterschlagen, dass die kulturhistorischen Exkurse, die er liefert, recht informativ sind. Sie reichen von Plato bis zu Aldous Huxley. Dass Sebastian Brants "Narrenschiff" zitiert wird, ist schön; dass der berühmteste Altersdemente der Weltliteratur, William Shakespeares König Lear, nicht auftritt, ist schade. Dass geistige Anomalien in manchen Kulturen nicht nur nicht ausgegrenzt oder verfemt werden, sondern in Gestalt eines heiligen Wahnsinns quasireligiösen Respekt genießen, wird ausgeführt.
Geisteskranke wurden Opfer christlicher Hexenprozesse
Die radikale Ausgrenzung, sagt Gronemeyer, beginne für Europa im 18. Jahrhundert. Dies bedeutet, wiewohl hier nicht ausdrücklich so formuliert, einen der modischen Fußtritte wider die Aufklärung. Dass während der Zeit davor Geisteskranke vielfach zu den Opfern christlicher Hexenprozesse wurden, womit die Aufklärung aufräumte, bleibt unerwähnt. Gronemeyer ist ein flotter Schreiber. Gelegentlicher neigt er zum Saloppen:
Die Demenzmaschine läuft und läuft.
Oder:
Ich glaube, wir können Demenz nicht verstehen, wenn wir sie nicht als die Rückseite einer vom Beschleunigungszwang zerfetzten Gesellschaft begreifen, die bei ihrer rasenden Fahrt notwendigerweise die Menschen auf den Standstreifen schleudert, die der Geschwindigkeit nicht gewachsen sind.
Die Herkunft des Autors aus der protestantischen Theologie äußert sich nicht primär im Rückgriff auf christliche Texte. Altes Testament oder Augustinus kommen eher sparsam vor. Ganz evangelisch geprägt ist hingegen die Dramaturgie: Gern wird mit persönlichen Erlebnissen angehoben, von denen der Autor jählings ins Allgemeine schwenkt. Dies ist die übliche Technik protestantischer Sonntagspredigten, nur dass eben in unserem Falle keine biblische Bekehrung erfolgt, sondern eine Betrachtung zur Alterspathologie.
Gronemeyer begibt sich in einen derzeit ungemein üppigen Bereich des Sachbuchmarkts, den ich die Betroffenheitsessayistik nennen möchte. Bedeutsame Zeitphänomene werden eindringlich abgehandelt, sie werden ausgestattet mit allerlei empirischen Tatsachen und gestützt von gewichtigen Expertenmeinungen, der Ausblick ist fast durchweg apokalyptisch. Als Großmeister solcher Art Texte operiert derzeit der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Gronemeyer ist vom Geburtsjahrgang 1939. Ein wenig zeigt sein Buch auch selbstquälerische Komponenten. Tröstlich für ihn wie für uns ist diese, seine Feststellung:
Bei alldem wird systematisch übersehen, dass die Mehrzahl der Hochaltrigen gar keine Hilfe in Anspruch nimmt.
An dem schrecklichen Wort "hochaltrig" wollen wir uns hier nicht stören.
Vielleicht ist es das Letzte, was wir über die Demenz zu sagen haben, dass wir sie nicht verstehen.
Wenn dies zutrifft, darf man fragen, wieso hierüber ein 300 Seiten dickes Buch publiziert werden muss.
Die Demenzmaschine läuft und läuft.
Oder:
Ich glaube, wir können Demenz nicht verstehen, wenn wir sie nicht als die Rückseite einer vom Beschleunigungszwang zerfetzten Gesellschaft begreifen, die bei ihrer rasenden Fahrt notwendigerweise die Menschen auf den Standstreifen schleudert, die der Geschwindigkeit nicht gewachsen sind.
Die Herkunft des Autors aus der protestantischen Theologie äußert sich nicht primär im Rückgriff auf christliche Texte. Altes Testament oder Augustinus kommen eher sparsam vor. Ganz evangelisch geprägt ist hingegen die Dramaturgie: Gern wird mit persönlichen Erlebnissen angehoben, von denen der Autor jählings ins Allgemeine schwenkt. Dies ist die übliche Technik protestantischer Sonntagspredigten, nur dass eben in unserem Falle keine biblische Bekehrung erfolgt, sondern eine Betrachtung zur Alterspathologie.
Gronemeyer begibt sich in einen derzeit ungemein üppigen Bereich des Sachbuchmarkts, den ich die Betroffenheitsessayistik nennen möchte. Bedeutsame Zeitphänomene werden eindringlich abgehandelt, sie werden ausgestattet mit allerlei empirischen Tatsachen und gestützt von gewichtigen Expertenmeinungen, der Ausblick ist fast durchweg apokalyptisch. Als Großmeister solcher Art Texte operiert derzeit der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Gronemeyer ist vom Geburtsjahrgang 1939. Ein wenig zeigt sein Buch auch selbstquälerische Komponenten. Tröstlich für ihn wie für uns ist diese, seine Feststellung:
Bei alldem wird systematisch übersehen, dass die Mehrzahl der Hochaltrigen gar keine Hilfe in Anspruch nimmt.
An dem schrecklichen Wort "hochaltrig" wollen wir uns hier nicht stören.
Vielleicht ist es das Letzte, was wir über die Demenz zu sagen haben, dass wir sie nicht verstehen.
Wenn dies zutrifft, darf man fragen, wieso hierüber ein 300 Seiten dickes Buch publiziert werden muss.
Reimer Gronemeyer: Das 4. Lebensalter: Demenz ist keine Krankheit
Pattloch Verlag, München 2013
304 Seiten, 19,99 Euro, eBook 17,99 Euro
Pattloch Verlag, München 2013
304 Seiten, 19,99 Euro, eBook 17,99 Euro